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Währungskrise. [1]

Was, wenn der Euro-Mindestkurs noch wäre?

Wie viele Jobs hat die Aufhebung des Euro-Mindestkurses bisher wirklich gekostet? Der Blick ins statistische Paralleluniversum zeigt: Die Aufgabe des Mindestkurses hat unzählige Industrie-Jobs weggerafft. Die Aussichten für den Industriestandort Schweiz wären mit Mindestkurs um einiges rosiger. 

Als die Schweizerische Nationalbank am 15. Januar 2015 bekannt gab, den Euro-Mindestkurs aufzuheben, versetzte sie damit breite Kreise der Schweizer Wirtschaft in einen Schockzustand. Die Klagen der betroffenen Industrieverteter folgten unmittelbar. Der Schweiz drohe nun die beschleunigte Deindustralisierung und in vielen Unternehmen der Kahlschlag, zumal schon die Aufwertung von über 1.50.- auf 1.20.- schwer zu verkraften war. Gerade im exportorientierten Sektor drohe nun eine Entlassungswelle. Arbeitsplätze würden nun zu Hauf ins produktionsgünstigere Ausland verlagert werden. Trotz der düsteren Prophezeiungen blieb es bis im Wahlherbst jedoch verdächtig ruhig. Seit Anfang 2016 häufen sich jedoch die Hiobsbotschaften rund um Massenentlassungen, Standortschliessungen bis hin zu Firmenkonkursen.

Die Pressekonferenz von Thomas Jordan am 15. Januar 2015:

Aber wie stark trifft es die Arbeitnehmer in der Industrie wirklich? Wie viele Arbeitsplätze in der Industrie hat die fulminante Wechselkurs-Aufwertung über die ersten Quartale nach dem SNB-Entscheid wirklich gekostet? Die Daten europäischen Arbeitskräfte-Erhebung (Labour Force Survey – LFS) werden in Europa als «Pulsmesser» gesehen, was die Gesundheit der nationalen Arbeitsmärkte betrifft. Sie dienen daher auch als Berechnungsgrundlage für die offiziellen Erwerbs- und Erwerbslosenquoten. Die Quartalsdaten des LFS zeigen, dass es in der Schweiz im dritten Quartal 2015 im verarbeitenden Gewerbe gegenüber dem ersten Quartal schätzungsweise 38’000 Erwerbstätige weniger gab.[2]

Industrie2

Ist diese Entwicklung bereits auf die Aufhebung des Mindeskurses zurückzuführen? Hat die SNB mit ihrem Entscheid für die Industrie wirklich die Büchse der Pandora geöffnet oder handelt es sich dabei um eine normale Entwicklung, welche den generellen Trend in Richtung Automatisierung – in Richtung Industrie 4.0  – wiederspiegelt? Um die Antworten auf diese Fragen zu finden müssen wir uns eine Frage stellen, welche sich so mancher von Zeit zu Zeit in einer verzwickten Lebenssituation stellt – was, wenn es anders gekommen wäre?

Was wenn der Euro noch bei 1.20 Franken notieren würde?

Was, wenn die Wechselkursuntergrenze nach wie vor Bestand hätte? Um dieser Frage nachzugehen begeben wir uns in diesem Blogbeitrag auf die Reise in ein Paralleluniversum, in dem die SNB ihrem gebetmühlenartig oft geäusserten Versprechen, den Mindestkurs aufrecht zu erhalten, treu geblieben ist.

Aus makroökonomischer Sicht ist es äusserst anspruchsvoll, die Effekte eines Ereignisses auf eine nationale Volkswirtschaft – wie in unserem Fall die abrupte geldpolitische Kehrtwende – einzufangen, da eine glaubwürdige Einschätzung des «kontrafaktischen» fehlt. Es fehlen Informationen zu dem theoretischen Zustand, welcher herrschen würde, wenn das Ereignis nicht eingetreten wäre – ergo der Franken noch bei 1.20 Euro notieren würde. Daher wird um die möglichen Effekte zu verdeutlichen meistens ein ausgewähltes Land als Vergleichseinheit hinzugezogen, welches dem Ereignis nicht ausgesetzt wurde. Als solches Gegenbeispiel würde sich in unserem Fall Dänemark anbieten, welches seine Krone nach wie vor an den Euro gekoppelt hat. Aber ist Dänemark wirklich ein befriedigendes Gegenbeispiel, welches es uns erlauben würde die Auswirkungen für die Schweiz abzuschätzen? Eher nicht. Zu gross sind in entscheidender Hinsicht die Unterschiede zur Schweiz.

Die synthetische Kontrolle

Deswegen ziehen wir die sophistizierte statistischen Methode der «synthethischen Kontrolle» hinzu.[3] Aufbauend auf einer ganzen Gruppe von potentiellen Kontroll-Staaten, mit denen die Schweiz verglichen werden kann, soll eine Kombination dieser – eine Art «Frankenstein», welcher die Schweiz imitieren soll – erstellt werden. Dieser soll im Stande sein, die Erwerbstätigenzahl in der Industrie vor der Aufhebung des Euro-Untergrenze akkurat zu reproduzieren. Unser Vorgehen hat den Vorzug, dass es ausschliesslich datengetrieben ist – die Methode selektiert die besten Vergleichsfälle anhand klar definierter Kriterien wie dem BIP, der Bevölkerungsgrösse, dem Anteil Personen mit Tertriärbildung und dem Erwerbstätigenniveau in der Industrie.[4] Die potentiellen Kontroll-Staaten sind die Staaten der Eurozone sowie Dänemark, welches die eigene Währung an den Euro angebunden hat. Es handelt sich dabei folglich um die europäischen Staaten, welche sich durch gegenseitige Wechselkursstabilität auszeichnen.

Mit Hilfe der synthethischen Kontrolle werden wir schätzen, wie es der Industrie ohne Wegfall der Wechselkursstabilität ergehen würde.

Mit der Einführung des Mindestkurses gehörte die Schweiz bis zur Aufhebung ebenfalls zu diesem Club. Schweizer Unternehmen konnten sich  darauf verlassen, dass der Euro die Marke von 1.20 nicht unterschreiten würde und hatten daher Planungssicherheit. Mit Hilfe der synthethischen Kontrolle werden wir schätzen, wie es der Industrie ohne Wegfall der Wechselkursstabilität ergehen würde. Die Differenz zwischen der daraus resultierenden Schätzung und dem tatsächlichen Verlauf des Erwerbtätigenniveaus in der Industrie kann dann als Indiz dessen gelten, wie sich die Abkopplung vom Euro tatsächlich auf die Erwerbstätigkeit in der Industrie ausgewirkt hat.

Die synthetische Schweiz : + 42’000 Erwerbstätige in der Industrie!

Falls Sie sich regelmässig über das Wetter in der Schweiz beklagen, sollten Sie sich eventuell überlegen in unser Paralleluniversum zu ziehen. Denn in der synthetischen Schweiz sind die Wetteraussichten sonniger. Zumindest für die Industrie. Im dritten Quartal 2015 betrug der Unterschied zur tatsächlichen Schweiz bereits satte 42’000 Erwerbstätige. Die synthetische Schweiz imitiert den tatsächlichen Verlauf vor der SNB-Kehrtwende beträchtlich gut. Unsere synthethische Schweiz bildet das industrielle Erwerbstätigennivau unter den selben Bedingungen nach, welche die Schweiz ebenfalls geniesst – die gesamteuropäische Konjunktur sowie die generelle industrielle Nachfrage  –  mit nur einem Unterschied: bei weiterhin bestehender Wechselkursstabilität.

 

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Droht der starke Franken die Schweiz zu deindustrialisieren? 

Der Vergleich mit der synthetischen Schweiz spricht eine klare Sprache: die Aufgabe des Mindestkurses scheint sich in kürzester Zeit auf das Erwerbstätigenvolumen in der Industrie ausgewirkt zu haben. Dies stimmt nachdenklich – denn wenn ein Ereignis in kürzester Zeit solche drastischen Veränderungen mit sich zieht, verheisst dies auch für die folgenden Monate und Jahre nichts Gutes. Es wäre wenig verwunderlich, wenn diese Entwicklung sich 2016 noch zusätzlich akzentuieren würde. Ein rücksichtslos rauer Wind weht dem Industrieplatz Schweiz entgegen. Er droht noch so manchen Industrie-Arbeisplatz wenn nicht sogar die eine oder andere Firma im verarbeitenden Gewerbe wegzufegen. Für diejenigen, welche die Schweizer Industrie als besonders wichtigen Wohlstandsgaranten und Innovationstreiber sehen, sind dies äusserst schlechte Nachrichten.

Dieser Blogpost hat nicht das Ziel, eine Wertung abzugeben, was den Entscheid der SNB angeht. Aus geldpolitischer Sicht mag dieser Entscheid durchaus seine Berechtigung haben. Doch jede geldpolitische Entscheidung kennt Verlierer und Gewinner. Sinn und Zweck dieser Beitrags war es, die drastischen Auswirkungen des starken Franken für den Industriestandort Schweiz hervorzuheben.

Thomas Lo Russo

Appendix – Für Methodeninteressierte

Die Robustheit der Resultate

Anwender der «synthethischen Kontrolle» können auf keine Signifikanztests, wie sie für Regressionsanalysen existieren, zurückgreifen. Trotzdem kann die Robustheit der Ergebnisse anhand verschiedener Tests untermauert werden. Jede «synthetische Kontrolleinheit» sollte mit Bedacht konstruiert werden, denn es müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt werden, damit die Analyse wirklich als aussagekräftig bezeichnet werden kann.[5] Zur Robustheit: um zu beweisen, dass die Differenz zwischen der betroffenen Einheit und ihrem synthetischen Gegenstück nicht rein zufällig zustande kommt, können sogenannte «Placebo-Tests» eingesetzt werden. Diese folgen der Logik von Medikamententests: auch den Einheiten in der Kontrollgruppe wird vorgegaukelt, das Ereignis hätte Sie betroffen und es wird für jede von ihnen eine synthetische Kontrolleinheit berechnet. Wenn sich zeigt, dass auch für diese Einheiten Effekte geschätzt werden, welche dem der tatsächlich «behandelten» Einheit nahe kommen, dann steht das Resultat auf einem wackligen Fundament. Denn in diesem Fall ist höchst fraglich, ob der Unterschied welcher im Falle der Untersuchungseinheit und ihrem synthetischen Pendant resultiert, wirklich auf einen tatsächlichen Effekt des Ereignisses auf das Outcome hinweist. Eine Stärke der «synthetischen Kontrolle» ist zudem, dass es in vielen Fällen gar nicht möglich ist, eine gute Kontrolleinheit zu konstruieren. Denn wenn es gar keine vergleichbaren Fälle gibt, dann fehlen geeignete Bausteine. Mit Hilfe von Fällen wie Jamaika, den Fidschi-Inseln oder Tonga lässt sich daher unmöglich eine Kontrolleinheit für die Schweiz zu erstellen. Dass die Bausteine für die synthetische Einheit in unserem Fall Luxembourg (mit einem Gewicht von 0.53), die Niederlande (0.44) und Deutschland (0.03) sind, zeigt, dass die Methode (meistens) auf relativ naheliegende Vergleichseinheiten zurückgreift.

Die Placebo-tests welche in unserem Untersuchungsfall durchgeführt wurden zeigen, dass es nicht für alle Staaten möglich ist, anhand der Kontrollstaaten zufriedenstellende synthetische Gegenstücke zu konstruieren. Wenn der Verlauf des Outcomes von Interesse vor dem Ereignis nicht repliziert werden kann, ist die synthetische Kontrolleinheit unbrauchbar. Die Abweichung im Vor-Ereignis Zeitraum sollten möglichst nahe bei null sein. Dies ist bei der Kontrolleinheit für die Schweiz (dunkle Linie) durchaus gegeben, während es für viele der Kontrollstaaten (transparente Linien) nicht gegeben ist.

Industrieplacebos1Nur für eine Hand voll Staaten kann die synthetische Kontrolleinheit im Zeitraum vor dem Ereignis die Realität mehr oder weniger präzise abbilden. Abgesehen von einem einzigen Fall resultiert jedoch keine wesentliche Differenz zwischen synthetischer Einheit und dem tatsächlichen Verlauf. Dies zeigt, dass die synthetischen Kontrolleinheiten in diesen Fällen den tatsächlichen Verlauf ‘vorhersagen’ bzw. replizieren können. Nur im Falle von Spanien resultiert eine stark positive Differenz, welche zusätzliche Nachforschungen bedürfen würde um plausible Erklärung für das vermeintliche Stellenwachstum zu finden.

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Als Masszahl der «Modell-Güte» kann das Verhältnis der Abweichungen vor dem Ereignis und der Differenz nach dem Ereignis hinzugezogen werden (die RMPSE-Ratio, wobei RMPSE für «root mean squared prediction error» steht). Diese Masszahl berücksichtigt nicht nur die Stärke des gemessenen Effekts, sondern auch wie gut die synthetische Kontrolleinheit ihr Vorbild im Vor-Ereignis-Zeitraum imitiert. Wie bereits angetönt weist die Abweichung nach dem Eintritt des Ereignisses nur auf einen möglichen Effekt hin, wenn die Abweichung davor minimal ist. Die Schweiz weist den höchsten RMSPE-Ratio auf – was die Resultate der Analyse bekräftigt. Denn die Wahrscheinlichkeit, einen solch starken, negativen «Effekt» zufälligerweise zu messen scheint somit ziemlich gering.

IndustrieRMSPE

 

[1] Foto: Martin Abegglen|Flickr

[2] Hier finden Sie die Quartalsdaten des LFS.

[3] Die Methode wurde von Alberto Abadie und Alexis Diamond entwickelt. Dieser Artikel wurde mit Hilfe des von ihnen entwickelten R-Packets ‘Synth‘ erstellt.

[4] Um die Qualität der synthetischen Kontrolleinheit noch zusätzlich zu erhöhen könnten in einem nächsten Schritt noch weitere Indikatoren berücksichtigt werden (Beispielsweise Unternehmensstruktur, Exportabhängigkeit, etc.).

[5] Voraussetzung für eine aussagekräftiges sowie valides Resultat einer Analyse mittels «synthetischer Kontrolle» ist  die Erfüllung zweier zentraler Annahmen: a). Keine Interferenz zwischen den Einheiten: Die Outcomes der Staaten sollten nicht ‘interferieren. In unserem Fall wäre es beispielsweise problematisch, wenn in der Schweiz verlorene Stellen haufenweise unmittelbar in die Staaten verlagert werden würden, welche die synthetische Schweiz konstituieren. Dies würde zu einer «Überschätzung» führen, da so die Abweichung noch grösser werden würde. b). Die Annahme «einheitlicher Behandlung»: Unter den Kontrollstaaten sollte es keine Staaten geben, welche einem ähnlichen Ereignis ausgesetzt wurden wie der Staat von Interesse.

Literatur

Abadie, A., A. Diamond, and J. Hainmueller (2010): «Synthetic control methods for comparative case studies: Estimating the effect of California’s tobacco control program»,  Journal of the American Statistical Association, 105.

Abadie, A. and J. Gardeazabal (2003): «The economic costs of conflict: A case study of the Basque Country». American Economic Review, 113–132.