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Beeinflussten Umfragen das Resultat der Wahlen 2019?

Nach jeder Wahl oder Abstimmung der gleiche Vorwurf: Die Politikerinnen, darunter auffallend viele Wahlverliererinnen, beklagen sich über die Umfragen. So auch nach den diesjährigen Nationalratswahlen. Sie beklagen sich dabei entweder darüber, dass die Umfragen nicht genau genug den Wahlausgang vorhergesagt haben (Albert Rösti, SVP) oder dass sie die Wahlen beeinflusst haben (Balthasar Glättli, Grüne). Oftmals auch beides gleichzeitig (Nadine Masshardt, SP), obwohl dies widersprüchlich ist.[2] Denn wie sollen Wahlumfragen genau den Wahlausgang vorhersagen, wenn sie selber den Wahlentscheid beeinflussen und damit selbst dafür sorgen, dass sich das Wahlresultat von den Umfragewerten wegbewegen?

Da es unmöglich ist, dass die Umfragen gleichzeitig eine genaue Vorhersage bilden und einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben, gibt es über den Zusammenhang zwischen der Präzision der Umfragen und deren Einfluss auf das Wahlverhalten nur drei Szenarien:

  1. Die Umfragen waren präzise und hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten
  2. Die Umfragen hatten keinen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise
  3. Die Umfragen hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise

Unten werde ich auf die Frage eingehen, für wie wahrscheinlich ich die drei Szenarien halte. Doch zunächst muss darüber Klarheit bestehen, was unter «unpräzise» zu verstehen ist. So gilt es festzuhalten, dass selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Wahlabsichten der Schweizerinnen seit den letzten Befragungen überhaupt nicht verändert haben, die Umfragen die Trends für alle Parteien richtig vorhergesagt haben.[3] Schaut man sich das Wahlbarometer der SRG genau an, so sieht man ausserdem, dass nur der Wähleranteil der Grünen klar ausserhalb des «Fehlerbereiches» lag. Schliesslich liegt der Prognosefehler auch weit unter dem internationalen Durchschnitt.[4] Wenn wir also von unpräzise sprechen, dann ist das sehr relativ und bezieht sich allenfalls darauf, dass die Umfragen eine geringere Wahlabsicht für die Grünen und eine etwas grössere für die SP und SVP ausgewiesen haben als am Wahltag eingetroffen ist.[5]

Doch jetzt zu unseren drei Szenarien über die Präzision der Umfragewerte und ihren Einfluss auf das Wahlverhalten:

Szenario 1: Die Umfragen waren präzise und hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten

Die Umfragen haben die Wahlabsichten zu ihrem Zeitpunkt sehr präzise gemessen, aber in den letzten 10 Tagen hat sich ein substantieller Anteil linker Wähler dazu entschieden, die Grünen zu wählen anstatt zuhause zu bleiben oder die SP zu wählen. Die Grünen haben gegenüber der letzten Umfrage 2 bis 3 Prozentpunkte gewonnen und die SP 1 bis 2 Prozentpunkte verloren. Die Umfragen haben dies teilweise beeinflusst, indem sie (korrekterweise) die Erwartungen an einen Wahlsieg der Grünen geschafft haben. Für diesen Zusammenhang zwischen den Umfragewerten und den Erwartungen spricht, dass der von mir durchgeführte Prognosemarkt sich stark an den Umfragen orientiert hat. Die auf dem Prognosemarkt gemessene Erwartung war also, dass die Umfragen präzise sind und den Wahlerfolg der Grünen vorwegnehmen. Diese Erwartungen haben durch einen «Trittbrettfahrer-Effekt» (bandwagon effect) unentschiedene Wähler aus dem linken Lager dazu bewogen, eher die Grünen zu wählen. Gründe für den Trittbrettfahrer-Effekt sind, dass es einem ein besseres Gefühl gibt zu den Siegern zu gehören, dass man das Gefühl hat etwas sozial Erwünschtes zu tun oder dass man wenig informiert ist und sich daher an den Entscheiden anderer im eigenen Umfeld orientiert.[6] Weil sich die SP und Grünen ideologisch so nahestehen und linke Wählerinnen für beide Parteien Sympathien haben, scheint mir dieser Trittbrettfahrer-Effekt plausibel. Auch gemäss diesem Szenario hat der Trittbrettfahrer-Effekt vor allem bei den Grünen und der SP gespielt, denn für die anderen Parteien lagen ja Umfragewerte und Wahlergebnis nahe beieinander. Für mich handelt es sich um das wahrscheinlichste Szenario.

Szenario 2: Die Umfragen hatten keinen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise

Es ist das Szenario, dass man in der Wissenschaft am ehesten beobachtet. Thomas De Rocchi hat in seinem Buch zu den eidgenössischen Wahlen 2011 mit hochwertigen Daten und Methodik nachgewiesen, dass die Umfragen keinen Effekt auf das Wahlresultat ausgeübt haben.[7] Trifft dies auch für 2019 zu, haben die Umfragen die Wahlabsichten für die Grünen, SP und SVP nicht präzise gemessen. Mögliche Gründe für Umfragefehler gibt es viele. Besonders schwierig dürfte es bei dieser Wahl gewesen sein, die Mobilisierung und Wahlabsichten der Neuwählerinnen richtig zu modellieren. Für mich ist dies die plausible Alternative zu Szenario 1.

Szenario 3: Die Umfragen hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise

Dies scheint die Intuition verschiedener Politikerinnen zu sein. Demnach stand zum Beispiel das Ausmass des Wahlerfolges der Grünen und die Verluste der SP schon mindestens 10 Tage vor der Wahl fest, die Umfragen haben es aber nicht präzise gemessen. Hätten die Wählerinnen über diese Wahlabsichten gewusst, wäre es in den letzten Tagen der SP leichter und den Grünen schwerer gefallen Wählerinnen zu mobilisieren. Die Intuition hinter dieser Hypothese ist, dass die Wählerinnen eher Parteien unterstützten, denen eine Niederlage droht. Das erste Problem mit dieser Hypothese ist: Wenn die Umfragen angeblich so unpräzise waren, weshalb waren sie dies nur bei Grünen, SP und SVP, nicht aber bei den anderen Parteien? Das zweite Problem mit der These ist, dass es in der Wissenschaft überhaupt keine Grundlage für diese Annahme gibt. Mir ist zumindest keine einzige Studie bekannt, welche nachweist, dass dieser «Aussenseiter-Effekt» (underdog effect) den oben beschriebenen «Trittbrettfahrer-Effekt» übertrifft. Dieses bei Politikerinnen beliebte Szenario ist also sehr unwahrscheinlich. Entsprechend drängt sich kein Umfrageverbot auf.

Oliver Strijbis

Hier geht es zum Originalbericht.

Hier finden Sie den Unterschied von Momentaufnahmen und Prognosen.

Hier finden Sie die Beschreibung einer Prognose (Abstimmungen).

Dieser Artikel wurde von 50plus1 zur Verfügung gestellt. 50plus1 ist ein wissenschaftlicher und politisch unabhängiger Blog von Laurent Bernhard (FORS), Maxime Walder und Oliver Strijbis (beide Universität Zürich).

[1] Foto: Felix Imobersteg | Flickr

[2] Echo der Zeit, 22.10.2019, 18:00 Uhr.

[3] Vergleiche dazu die letzten Umfragen von Sotomo, LeeWas und Gallup.

[4] Jennings, Will und Christopher Wlezien (2018): «Election polling errors across time and space»; Nature Human Behaviour 2, 276–283.

[5] Die NZZ schreibt: «Die Umfragen, die regelmässig im Vorfeld von Wahlen erscheinen, lagen zum Teil weit neben dem tatsächlichen Wahlergebnis.« Diese Kritik ist völlig überzogen. Hier geht es zum besagten Artikel.

[6] Schmitt-Beck, Rüdiger (2016): «Bandwagon effect»; S. 57-61 in Gianpietro Mazzoleni: The international encyclopedia of political communication. Wiley Blackwell, Chichester.

[7] De Rocchi, Thomas (2018): Wie Kampagnen die Entscheidung der Wähler beeinflussen; Zum kurzfristigen Wirkungspotential von Medienberichten und Wahlumfragen in der Schweiz. Springer VS, Wiesbaden.

Neue Fragen lassen auf die Stimmabsicht der Unentschlossenen schliessen

Dieser Gastbeitrag von Livio Raccuia geht davon aus, dass sich Abstimmungsergebnisse mithilfe impliziter Messungen besser voraussagen lassen als mit ausschliesslich herkömmlichen Fragetypen. Weitere Untersuchungen sind jedoch notwendig.

Vor jedem Urnengang werden in der Schweiz Trendumfragen durchgeführt mit dem Ziel Entwicklungen in der Unterstützung einer Abstimmungsvorlage zu erfassen und abzubilden. Dabei stellt sich jeweils eine zentrale Frage: Was passiert mit der Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger? Wechseln diese in das Lager der Vorlagenbefürworter oder doch eher zum gegnerischen Lager? Selbst drei Wochen vor einer Abstimmung geben im Durchschnitt 10 Prozent der befragten Personen an, sich bezüglich ihres Stimmentscheids noch nicht sicher zu sein.

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Gerade bei umstrittenen und dementsprechend knappen Abstimmungen kann die Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger entscheidend sein. Folglich wäre es sowohl für die Praxis wie auch die politikwissenschaftliche Forschung wichtig zu wissen, inwiefern sich der Meinungsbildungsprozess unentschlossener Personen von jenem entschlossener Bürger und Bürgerinnen unterscheidet. Ebenfalls hilfreich wären alternative Messinstrumente, welche es erlauben würden, auch für Personen, die keine Stimm- oder Wahlabsicht angeben können (oder wollen), statistisch eine Präferenz zu berechnen.

Der Implizite Assoziationstest (IAT)

Implizite Assoziationstests (IAT) setzen an letzterem Punkt an. Sie messen implizite, d.h. automatische, Einstellungen bzw. Präferenzen.[2] Im Unterschied zu den in der Sozialforschung gängigen expliziten Massen (z.B.Stimmabsicht des Befragten) haben sie den Vorteil weniger reaktiv zu sein. Das heisst, dass sie von der befragten Person nicht so einfach durchschaut werden können und folglich nicht von sozialer Erwünschtheit betroffen sind. Gerade bei heiklen politischen Themen und Vorlagen wie zum Beispiel der anstehenden Durchsetzungsinitiative (28. Februar 2016) könnten IATs also den gängigen Fragen nach der Stimmabsicht einer Person überlegen sein.

Nebst diesem Vorteil wurde in den letzten Jahren auch argumentiert, dass IATs bzw. implizite Einstellungen besonders gut in der Lage seien, den Stimmentscheid unentschlossener Personen vorherzusagen.[3] Die Idee dahinter ist, dass implizite Einstellungen eine Art Vorstufe zu den expliziten Einstellungen darstellen. In der Tat haben wir alle gewisse implizite Einstellungen bzw. Präferenzen, ohne dass wir uns deren aber notwendigerweise bewusst sind. Genau dies könnte bei unentschlossenen Stimmbürgern der Fall sein. Sie mögen sich zwar ein paar Wochen vor einer Abstimmung ihrer Präferenz noch nicht bewusst sein und die Frage nach der Stimmabsicht mit «weiss nicht» beantworten, eine mehr oder weniger ausgeprägte implizite Einstellung zu einer Vorlage oder einer Partei haben aber auch sie. Warum aber sollte sich diese spontane Präferenz schliesslich im Stimmentscheid niederschlagen? Die Forschung hat gezeigt, dass sich vor allem unentschlossene Personen Informationen beschaffen, die mit ihrer impliziten Einstellung in Einklang sind.[4] Dieser selektive Konsum von Informationen führt schliesslich dazu, dass die implizite Präferenz im Verlaufe des Meinungsbildungsprozesses zu einer expliziten Einstellung wird und damit das Stimmverhalten entscheidend beeinflusst.

Der IAT als Prognoseinstrument bei Eidgenössischen Abstimmungen?

Meine bisherige Forschung zeigt, dass sowohl die klassischen reaktionszeitbasierten IATs wie auch die einfacheren «paper-and-pencil» IATs gute Prädiktoren sind für das Stimmverhalten der Schweizer Bürger. Erstere wurden im Vorfeld der Abstimmung zur Mindestlohninitiative und des Gripen Referendums (18. Mai 2014) an der Universität Zürich getestet. Wie in der untenstehenden Abbildung zu sehen ist, waren beide IATs gute Prädiktoren für das tatsächliche Stimmverhalten der befragten Personen (N=268).

Nicht-parametrische Regressionen für den Zusammenhang zwischen dem ST-IAT Wert und der Wahrscheinlichkeit für die Mindestlohninitiative und das Gripen Referendum zu stimmen.

Dieselbe Untersuchung wurde auch für die Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse (28. September 2014) durchgeführt, diesmal jedoch mit einer in eine Online-Umfrage (N=352) eingebauten «paper-and-pencil» IAT Version. Auch dieser implizite Assoziationstest konnte das Stimmverhalten der befragten Personen akkurat vorhersagen.

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Nicht-parametrische Regression für den Zusammenhang zwischen dem ST-IAT Wert und der Wahrscheinlichkeit für die Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse zu stimmen.

Schliesslich zeigte eine im Vorfeld der Ecopop-Abstimmung (30. November 2014) durchgeführte Studie, dass implizite Einstellungen für die Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger in der Tat leicht bessere Prädiktoren sind als für entschlossene Stimmbürger.[5] So konnte mithilfe der impliziten Einstellungen das Stimmverhalten von 78% der unentschlossenen Stimmbürger richtig vorhergesagt werden. Bei den entschlossenen Personen betrug der Anteil lediglich 73%. Eine mitunter auf den impliziten Einstellungen der unentschlossenen Stimmbürgern basierende Vorhersage ergab für die Ecopop-Initiative zudem einen Ja-Stimmenanteil von 33%.[6] Dieser Wert wich zwar 7 Prozentpunkte vom tatsächlichen Ergebnis ab, war aber dennoch präziser als die Umfragen- und Prognosewerte führender Umfrageinstitute.

Angesichts dieser Erkenntnisse wären weitere Forschungsbemühungen sicherlich wünschenswert. In erster Linie sollte untersucht werden, unter welchen Umständen implizite Einstellungen für die Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger gute Prognoseinstrumente sind. Eidgenössische Abstimmungsvorlagen unterscheiden sich oft stark bezüglich ihrer Komplexität und der Vertrautheit der Stimmbürger mit der jeweiligen Thematik. Diese Faktoren können sich wiederum auf die Vorhersagevalidität impliziter Einstellungen auswirken. Aus diesem Grund sollten IATs bei möglichst vielen verschiedenen Abstimmungsvorlagen in Kombination mit expliziten Massen zum Einsatz kommen.

Von Livio Raccuia

 

Livio Raccuia ist Assistent und Doktorand am Lehrstuhl für Methoden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

Wie ein impliziter Assoziationstest in der Praxis aussieht (und er auch in der Ecopop-Studie verwendet wurde), sehen Sie hier.

 

[1] Foto: Ainsley Baldwin|Flickr

[2] Greenwald, A.G., McGhee, D.E. und Jordan L.K. Schwartz (1998). Measuring Individual Differences in Implicit Cognition: The Implicit Association Test. Journal of Personality and Social Psychology, 74(6), 1464-1480.

[3] Zum Beispiel: Galdi, S., Arcuri, L. und Bertram Gawronski (2008). Automatic Mental Associations Predict Future Choices of Undecided Decision-Makers. Science, 321, 1100-1102.

[4] Zum Beispiel: Galdi, S., Gawronski, B., Arcuri, L. und Malte Friese (2012). Selective exposure in decided and undecided individuals: Differential relations to automatic associations and conscious beliefs. Personality and Social Psychology Bulletin, 38, 559-569.

[5] Unentschlossene: n=82; Entschlossene: n=457.

[6] Der Kanton Tessin war in der Stichprobe nicht vertreten.