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Die Bevölkerung der Schweiz in 20 Jahren

Die Gesellschaft wird in den nächsten zwanzig Jahren älter. Zwei Topthemen der kommenden Legislatur stehen damit in direktem Zusammenhang: Die Altersreform 2020 und die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative.

Aktuell ist die Alterspyramide eigentlich gar keine. Das Bundesamt für Statistik vergleicht die Form mit einem Tannenbaum. Die Gruppe, welche in den nächsten zwanzig Jahren das Pensionierungsalter erreichen wird, ist deutlich grösser als die Gruppe der Unter-Zwanzigjährigen. Die Bevölkerung der Schweiz in 20 Jahren wird älter sein als heute.

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Das Szenario

Um ein Gefühl dafür zu bekommen was diese Ausgangslage bedeutet, haben wir die die demographische Veränderung in den nächsten 20 Jahren simuliert und dabei angenommen, dass am 31. Dezember 2014 die Grenzen geschlossen wurden. Niemand kann einwandern, niemand wandert aus. Wir beschränken uns zudem auf die Altersgruppe der 20-100-Jährigen. Die Altersgrenze nach unten und die Eingrenzung der Simulation auf 20 Jahre haben den Vorteil, dass wir keine Geburtenraten prognostizieren müssen. Wer in den nächsten zwanzig Jahren zur Erwerbsbevölkerung der 20-64-Jährigen dazustossen wird, ist schon jetzt auf der Welt. Dank der Altersgrenze nach oben sind wir nicht gezwungen, die Sterbeziffer der über 100-Jährigen zu simulieren. Für die jüngeren Generationen haben wir angenommen, dass die Sterbeziffern aus dem Jahr 2013 für die nächsten 20 Jahre konstant bleiben. Es wird also weder Fortschritte in der Medizin geben, noch gibt es Krankheitswellen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen überproportional treffen. Es ist wichtig anzumerken, dass unsere Berechnungen Schwachstellen aufweisen. Die Datenlage ist gegenüber derjenigen des BFS weniger detailliert. Insbesondere den Sterbeziffern konnten wir nur nach bestem Gewissen annähern.[2] Der grosse Trend stimmt jedoch und darum soll es in diesem Artikel gehen. Wir empfehlen, die Daten des BFS ebenfalls genau zu studieren.[3]

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Sie sehen in der Animation, wie sich die «Alterstanne» basierend auf dieser Simulation verändert. Eingeblendet ist immer auch der Altersquotient. Dieser entspricht hier dem Quotienten der über 64-Jährigen zu den 20-64-Jährigen multipliziert mit 100. Zur Eindordnung sind zusätzlich die drei Hauptszenarien des BFS zur zukünftigen Bevölkerungsentwicklung dargestellt. Diese weichen vor allem deshalb stark von unserer ab, weil darin auch die erwartete Einwanderung miteinberechnet ist. Wie hoch die Migration sein wird, hängt aber auch von der zukünftigen Regulierung ab.

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Die Implikationen

In unserer Simulation steigt der Altersquotient bis 2034 von 28 Prozent auf 49 Prozent. Aktuell kommen etwa 3.5 Personen im Erwerbsalter auf eine Person im Pensionsalter. In zwanzig Jahren wären es 2. Zudem droht die Gefahr einer Beschäftigungslücke: Bei der Bevölkerung im Erwerbsalter gibt es ohne Migration ein negatives Wachstum. Sollte die Nachfrage nach Arbeitskräften in zwanzig Jahren gleich gross sein wie heute, besteht die Gefahr, dass es nicht genug erwerbssuchende 20-64-Jährige gibt, um die offenen Stellen zu besetzen.

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Diese drohende Beschäftigungslücke kann auch ohne Migration abgewendet werden. Beispielsweise indem die Schweiz noch stärker zu einer technologisch führenden Wirtschaft wird und durch Automatisierung beziehungsweise Robotisierung weniger Arbeitskräfte benötigt. Ohne eine starke Anhebung der Lohneinkommen bleibt der Handlungsdruck bei der Finanzierung der AHV in diesem Fall jedoch bestehen. Alternativ könnte die Erwerbstätigenquote gesteigert werden. Die Schweiz hat allerdings bereits eine der höchsten unter den OECD-Staaten – auch bei den Frauen.

Schrumpfende Erwerbsbevölkerung

Schwierig zu beantworten ist die Frage, wie hoch die Migration sein müsste, damit die Erwerbsbevölkerung konstant bleibt. Eine stark vereinfachende Herangehensweise ist die Berechnung der Differenz zwischen der Bevölkerungsgruppe, welche innerhalb eines Jahres in das Erwerbsalter kommt (19-Jährige) und derjenigen, welche das Pensionierungsalter erreichen wird (64-Jährige). Nicht berücksichtigt werden hier die GrenzgängerInnen oder Todesfälle in der Erwerbsbevölkerung. Gleichzeitig sind natürlich nicht alle 64-Jährigen erwerbstätig.

Wurden Sie schon einmal mit politischen Botschaften in den sozialen Medien konfrontiert?

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Basierend auf unserem Modell käme es ohne Einwanderung schon im nächsten Jahr zu einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung. Wobei sich der Trend bis Ende der 2020er-Jahre verstärkt und in den folgenden Jahren wieder etwas entspannt. Im BFS Szenario mit der tiefsten Zuwanderung beginnt die Erwerbsbevölkerung ab dem Jahr 2023 in kleinem Ausmass zu schrumpfen.

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Verschiebung der Altersobergrenze der Erwerbsbevölkerung für einen stabilen Altersquotienten

Wie schon in der Animation gesehen, stoppt auch die vom BFS prognostizierte Einwanderung die Alterung der Geschellschaft nicht sondern verlangsamt diese nur. In unserem Szenario müsste ab dem  Jahr 2033 die Altersobergrenze für die Erwerbsbevölkerung bei 71 Jahren angesetzt werden, um den Altersquotienten stabil zu halten. Ein Jahr später ist das auch beim BFS Szenario mit der tiefsten Einwanderung der Fall.

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Was in den nächsten vier Jahr passiert, ist entscheidend

Was genau die Zukunft bringen wird, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen. Wie schon erwähnt, erfassen die hier präsentierten Analysen die Situation nicht bis ins kleinste Detail. Der Trend ist jedoch eindeutig. Für die beschriebenen Herausforderungen gibt eine Vielzahl von möglichen Lösungsansätzen. Klar ist, dass die Entscheidungen bei der Altersreform 2020 und der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative für die Gesellschaft weitreichende Konsequenzen haben werden.

 

[1] Foto: Alex Proimos|Flickr

[2] Die Daten zu den geschlechterspezifischen Sterbeziffern des BFS können hier als Excel-Files heruntergeladen werden.

[3] Weiterführende Informationen zu den Bevölkerungszenarien des BFS gibt es hier, hier und hier.

Skript und Daten.

Der Bundesrat und die Erfolgsquote von Volksinitiativen

Das Schweizer Stimmvolk folgt der Empfehlung des Bundesrates nicht und nimmt Volksinitiativen mit weitreichenden aussenpolitischen Folgen an. Im Gastbeitrag von Mirjam Stutz und Christoph Rüthemann wird die Rolle des Bundesrates bei der Entscheidungsfindung unter die Lupe genommen und erläutert, was das mit Informiertheit zu tun hat.

Die zunehmende Erfolgsquote von Volksinitiativen ist ein Thema, das vermehrt in den Schweizer Medien diskutiert wird.[2] Interessant ist dabei die Beobachtung, dass in jüngster Zeit auch einige Initiativen mit weitreichenden aussenpolitischen Folgen entgegen der Empfehlung des Bundesrats angenommen wurden (z.B. Minarett-Initiative, Masseneinwanderungs-Initiative).

Vertrauen ersetzt Informiertheit

Die Schweizer Stimmenden nehmen den Bundesrat mehrheitlich als vertrauenswürdig wahr und verwenden dessen Stimmempfehlung dementsprechend oft als Hilfestellung an der Urne. Je mehr dem Urheber einer Empfehlung vertraut wird, desto weniger relevant werden die Argumente beider Seiten.

Bei Volksinitiativen empfiehlt der Bundesrat generell ein «Nein». Deshalb erwarten wir, dass das Stimmvolk bei hohem Regierungsvertrauen eine Initiative eher ablehnt als bei tiefem Vertrauen. Um dies zu untersuchen, haben wir ein rollendes Mittel berechnet.

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Rollendes 10-Vorlagen Mittel für Volksinitiativen und Vertrauen in den Bundesrat.

Die blaue Linie zeigt das rollende Mittel des Ja-Stimmenanteils über die letzten zehn Volksinitiativen zwischen 1990 bis 2015.[3] Die rote Linie stellt die Vertrauensrate der Stimmbevölkerung dar. Dabei zeigt sich, dass die Annahmerate von Volksinitiativen und das Vertrauen in den Bundesrat zusammenspielen. Die beiden Kurven verhalten sich spiegelbildlich zueinander: Wie angenommen, sinkt bei steigendem Vertrauen in den Bundesrat die Annahmerate. Analog steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Volksinitiativen angenommen werden, wenn das Vertrauen in den Bundesrat abnimmt.

Mehrheit der Initiativen wird nach wie vor abgelehnt

Die horizontale Linie zeigt die Grenze, ab wann eine Initiative angenommen wurde. Im rollenden Mittel von jeweils zehn Initiativen steigt deshalb die Annahmerate in den letzten zwanzig Jahren nie über den kritischen Wert von 50% und dennoch gibt es einzelne Initiativen, die angenommen wurden. In jüngster Zeit werden also trotz steigendem Vertrauen in den Bundesrat vermehrt Initiativen angenommen. Dennoch gilt weiterhin, dass die grosse Mehrheit der Initiativen abgelehnt wird.

Hängt der Erfolg von der Informiertheit ab?

Tatsächlich spielt das vorlagenspezifische Wissen eine Rolle, wobei man stark zwischen Referenden und Initiativen unterscheiden muss. Bei Initiativen führt eine tiefe Informiertheit zur Ablehnung der Vorlage. Für Referenden verhält es sich jedoch umgekehrt. Die Stimmbürger tendieren dazu, den Referendumsvorlagen stärker zuzustimmen, wenn sie über weniger Informationen verfügen.

Das tiefe Informiertheitsniveau bei obligatorischen Referenden zeigt, dass die Stimmenden ihr Urteil stärker auf die Empfehlungen der politischen Eliten stützen. Nicht zuletzt könnte daraus auch die hohe Erfolgsquote resultieren, weil sich die Mehrheit von Regierung und Parlament immer für die Vorlagen einsetzt. Trotz einer ähnlich hohen Informiertheit wie bei den fakultativen Referenden, scheitern die Volksinitiativen häufiger an der Urne. Das lässt vermuten, dass der Status Quo bei Volksinitiativen bevorzugt wird und die Stimmbürger den Anliegen der Initiativkomitees grundsätzlich skeptischer gegenüberstehen.

Der Bundesrat bleibt wichtig

Der Bundesrat spielt bei Schweizer Sachabstimmungen nach wie vor eine grosse Rolle. Mit seinen Empfehlungen kann er durchaus die Erfolgswahrscheinlichkeit von Vorlagen beeinflussen, besonders bei der Stimmbürgerschaft mit tieferem Informiertheitsgrad und höherem Vertrauen in die Regierung. Es zeigt sich jedoch auch, dass dieser Zusammenhang vor allem bei Referenden stark ausgeprägt ist. Initiativen werden besonders häufig befürwortet, wenn das Vertrauen in den Bundesrat gering ist, die Stimmbürger aber gut über die Vorlage informiert sind.

Von Mirjam Stutz und Christoph Rüthemann.

Die beiden Autoren absolvieren den Master-Studiengang am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.

[1] Foto: Bundeshaus Flickr|Guido Gloor Modjib

[2] Dazu finden Sie hier NZZ-Artikel.

[3] Zur Beschreibung von rollenden Mitteln lesen Sie diesen Beitrag.

Vom «Ja» zur Masseneinwanderung zum Ecopop-Nein: Wo sind all die Stimmbürger hin?

Die beiden viel beachteten Zuwanderungsabstimmungen des Jahres 2014, Masseneinwanderungs- und Ecopop-Entscheid, mobilisierten teils unterschiedliche Gruppen. Am stärksten davon profitierte die Gegnerschaft des Ecopop-Begehrens. Ihr gelang es, die Unterstützer der Bilateralen an die Urne zu treiben, während zuwanderungskritische Stimmbürger dem Ecopop-Votum eher fernblieben. Die Wanderungsbilanz zwischen dem MEI-Ja und dem Ecopop-Nein deutet zudem darauf hin, dass die grundsätzlichen Haltungen zur Zuwanderungs- und EU-Frage zwischen den beiden Urnengängen relativ stabil blieb.    

Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (kurz: MEI) sandte seinerzeit regelrechte Schockwellen durchs Land und beschäftigt die Schweizer Politik seither. Denn ihre wortgetreue Umsetzung hätte mit grösster Wahrscheinlichkeit ein Zerwürfnis mit der EU zur Folge. Diese Umsetzung muss jedoch bald erfolgen, spätestens bis Anfangs 2017, so schreiben es die Übergangsbestimmungen des angenommenen Verfassungsartikels 121a vor. Vor diesem Hintergrund wird deshalb immer noch über die Motive spekuliert, welche die Bürger damals, an diesem schicksalsträchtigen 9. Februar 2014, antrieben. War es ein Votum gegen überfüllte Züge, gegen Lohndumping, gegen die «Überfremdung» oder – horribile dictu – gar gegen die EU? Obwohl der Wortlaut der Sachfragen, die dem Schweizer Stimmvolk vorgelegt werden, in aller Regel klarer formuliert sind als diejenige, über welche das griechische Elektorat kürzlich befand,[2] lassen auch helvetische Stimmentscheide unterschiedliche Interpretationen zu. Ein gutes Bild von diesen Deutungskämpfen vermitteln die jeweiligen «Elefantenrunden» im Nachgang zu eidgenössischen Urnengängen,[3] bei denen darüber gestritten wird, was das Stimmvolk denn eigentlich mit seinem Votum meinte. Die Auslegung des MEI-Entscheids wurde durch das darauf folgende Votum zur Ecopop-Vorlage noch zusätzlich erschwert. Denn dieses Begehren wurde nun – zur Überraschung vieler – überaus deutlich verworfen. Wie sind diese beiden, auf den ersten Blick widersprüchlichen Abstimmungsergebnisse zu deuten? Haben die Schweizer Stimmbürger es sich im Laufe des Jahres anders überlegt und sich Ende 2014 zu den Bilateralen bekannt? Oder haben sie die Vorlagen von vornherein als zwei unterschiedliche Sachfragen behandelt?

Wir wollen in diesem Beitrag (vorerst) nicht spekulieren, sondern lediglich aufzeigen, wie sich MEI-Befürworter und MEI-Gegner aus den einzelnen Parteianhängerschaften bei der wenige Monate später vorgelegten Ecopop-Frage verhielten. Dabei wollen wir nicht nur diejenigen berücksichtigen, die sich an beiden Urnengängen beteiligten (wie das etwa in der Vox-Analyse zu den Abstimmungen vom 30.11.2014 getan wurde), sondern auch die Nicht-Teilnehmenden. Dies ist angesichts der unterschiedlich hohen Partizipationsraten (rund 7 Prozent Differenz zwischen MEI und Ecopop) gar einer der interessantesten Fragen. Denn offenbar muss sich ja eine beträchtliche Zahl derer, die bei der MEI-Abstimmung noch teilnahmen, beim Ecopop-Entscheid der Stimme enthalten haben. Wer waren diese Bürger und Bürgerinnen? Kamen sie mehrheitlich aus dem Lager der MEI-Befürworter oder demjenigen der MEI-Gegner? Und was bedeutet das? Richtig, hier muss dann wieder spekuliert werden, aber immerhin auf einer (etwas) informierteren Basis. Klicken Sie hier, um die Grafik auf ihrem Mobilgerät zu sehen.

In der Abbildung oben sind die Resultate für alle Stimmoptionen (mit Ausnahme der leeren und ungültigen Stimmen) und für alle Stimmberechtigten ausgewiesen. Zunächst aber: Wie sind wir vorgegangen und woher stammen die Informationen darüber, wer bei beiden Vorlagen wie abgestimmt hat? Wir schildern die Vorgehensweise hier in aller Kürze und verweisen all diejenigen, die mehr dazu wissen wollen, auf die Methodenbox am Ende des Beitrags. Die hauptsächliche Datengrundlage bildete die 20 Minuten-Vorwahlumfrage vom 16/17.6.2015, in welcher auch die Entscheide zur MEI und zu Ecopop abgefragt wurden. Mit anderen Worten: Rund 24’000 Befragte haben angegeben, wie sie einerseits zur MEI und andererseits zum Ecopop-Begehren stimmten bzw. ob sie teilnahmen. Wir haben diese Ergebnisse sodann mit den entsprechenden Vox-Daten verglichen, um ihre Reliabilität zu prüfen. Dieser Vergleich zeigt, dass die Ergebnisse beider Umfragen nur geringfügig voneinander abweichen (siehe Methodenbox). Zuletzt wurden die Umfragewerte auch noch nach den St. Galler Registerdaten gewichtet, in erster Linie, um verlässlichere Resultate für die Nichtteilnehmenden zu erhalten (vgl. Methodenbox).

Die Abstimmungen über die Masseneinwanderung und Ecopop mobilisierten teils unterschiedliche Gruppen

Zu den Ergebnissen: Zuerst ist festzuhalten, dass die Fluktuation zwischen Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden grösser war als viele (möglicherweise) vermutet haben. In der Stadt St. Gallen beispielsweise blieb jeder fünfte MEI-Teilnehmende (20.6%) der Ecopop-Abstimmung fern, während beim Urnengang vom 30.11. rund 17 Prozent teilnahmen, die zuvor, also im Februar, noch nicht partizipiert hatten. Kurz, es war demnach nicht zwei Mal dasselbe Elektorat (minus 7 Prozent), welches sich an den beiden Urnengängen beteiligte, sondern offenbar haben die beiden Vorlagen zum Teil unterschiedliche Gruppen mobilisiert bzw. demobilisiert.

MEI-Befürworter blieben dem Ecopop-Entscheid eher fern, während die von der Ecopop-Initiative neu Mobilisierten meist ein Nein einlegten

Wer wurde bei der Ecopop-Abstimmung demobilisiert? Es waren die MEI-Befürworter, die sich etwas stärker ins Lager der Abstinenten verabschiedeten als die seinerzeit Nein-Stimmenden. Über diesen «Demobilisierungseffekt» der MEI-Befürworter wurde bereits kurz nach der Abstimmung vom November 2014 spekuliert, im Übrigen auch (und zeitlich zuerst) in diesem Blog. Und in der Tat war dem so (andernfalls hätten wir diesen Umstand «geflissentlich übersehen»). Aber das war nicht der Hauptgrund für das im Vergleich zum MEI-Erfolg (50.3 % Ja) nur etwa halb so gute Abschneiden der Ecopop-Initiative (25.9%). Zwei andere Gründe waren noch wichtiger: Erstens, den Gegnern der Ecopop-Initiative gelang es viel besser, ihre Anhängerschaft unter den unregelmässigen Urnengängern zu mobilisieren als den Ecopop-Befürwortern. Denn die allermeisten derer, die noch im Februar der Urne fernblieben, aber im November partizipierten, stimmten Nein zu Ecopop. Der zweite Grund war: Viele, die zur MEI noch ein «Ja» einlegten, stimmten Nein zu Ecopop. Hingegen gab es kaum jemanden, der die MEI ablehnte, aber dem Ecopop-Begehren zustimmte.

Grüne lehnten beide Vorlagen deutlich ab, die SVP-Anhängerschaft blieb der November-Abstimmung eher fern

Wer waren die Demobilisierten, wer die Mobilisierten und zuletzt: wer waren die «Wechselwähler»? Darüber informiert nachfolgende Grafik, die aufzeigt, wie die verschiedenen Parteianhängerschaften stimmten. Die «Heatmap» zeigt auf den ersten Blick, wie der grössere Teil der jeweiligen Parteianhängerschaft gestimmt hat. Dabei darf eines nicht vergessen werden: Angesichts der Partizipationsraten (nur etwa die Hälfte nahm an den jeweiligen Urnengängen teil) ist das Feld derer, die an beiden Abstimmungen fernblieben, bei den meisten Parteianhängerschaften dasjenige mit den meisten Fällen. Klicken Sie hier, um die Grafik auf ihrem Mobilgerät zu sehen.

Die an Urnengängen teilnehmenden SVP-Anhänger haben die MEI fast einstimmig angenommen, sind dann aber zu etwa gleichen Teilen ins Lager der Ecopop-Befürworter (38%), -Gegner (33%) und Nichtteilnehmenden (30%) geströmt. Die Demobilisierung war bei den SVP-Anhängern dabei besonders stark: Fast jeder dritte MEI-Befürworter aus ihren Reihen enthielt sich bei Ecopop der Stimme.[4] Diese Demobilisierung war nur noch bei den Lega-Anhängern stärker, die sich – wie übrigens das ganze Tessin – am 30. November unterdurchschnittlich beteiligten. Mit anderen Worten: Die (glücklichen, weil knappen) Sieger vom 9. Februar blieben der Urne am 30. November überdurchschnittlich häufig fern. Hinzu kommt, dass viele das «Lager wechselten»: Am 9. Februar hatten die SVP-Wähler noch Ja gestimmt, nun legte ein erheblicher Teil von ihnen ein Nein in die Urnen. Allerdings hatte dies wohl wenig mit Meinungsänderung zu tun. Die Parole der SVP zu Ecopop lautete ja ebenfalls Nein, ohne dass sich zwischenzeitlich etwas an der Haltung der Parteispitze zur selbst vorgeschlagenen Zuwanderungsbegrenzung (MEI) geändert hätte. Das «Doppel-Nein» wurde von den Grünen am häufigsten in die Urnen gelegt. Mit Ausnahme der Nichtbeteiligung an beiden Urnengängen kam keine andere Stimmkombination bei den Grünen auch nur im entferntesten an diesen Wert heran. Dies ist einerseits wenig überraschend, aber andererseits auch nicht trivial. Immerhin stammte die Ecopop-Initiative teilweise aus ihren Reihen.

Eine nicht unerhebliche Zahl der FDP-Anhänger nahm erst bei der Ecopop-Abstimmung teil und legte fast einstimmig ein Nein in die Urnen

Bei der FDP und der CVP wiederum ist der Anteil derer, die vom Lager der MEI-Befürworter ins Lager der Ecopop-Gegner wechselten, vergleichsweise hoch, wenn auch nicht so hoch wie bei der SVP. Immerhin aber lässt sich festhalten, dass der zuvor genannte zweite Hauptgrund für das deutlich schlechtere Abschneiden der Ecopop-Initiative – viele «Wechselwähler» vom MEI-Ja zum Ecopop-Nein – hauptsächlich auf das Konto der SVP und der beiden Mitte-Parteien geht. Der erstgenannte Grund (Neumobilisierte stimmten grossmehrheitlich Nein) wiederum hatte vor allem mit der FDP-Wählerschaft zu tun: 24 Prozent, die dem MEI-Votum noch fernblieben, legten ein Nein zu Ecopop in die Urne, während nur gerade zwei Prozent ein Ja einwarfen (der Rest derer, die am 9. Februar nicht teilnahmen, beteiligte sich auch am 30. November nicht). Kurz, bei keiner anderen Wählerschaft war die Neu-Mobilisierung von Ecopop-Gegnern derart stark wie bei der FDP-Wählerschaft.[5]

Stabile Haltungen, aber teils unausgeschöpfte Mobilisierungspotenziale

Was bedeuten diese Zahlen für die anhaltende Diskussion über die «wahren» Motive und Haltungen der Stimmbürger zu Zuwanderung, Personenfreizügigkeit und Bilaterale? Es ist klar, sie sagen nach wie vor nichts genaues darüber aus, was in den Köpfen der Stimmenden vorging, als sie entweder «Ja» oder «Nein» auf den Stimmzettel schrieben, sofern sie überhaupt etwas darauf schrieben. Es ist aber wenig realistisch, davon auszugehen, dass etwa ein Drittel der SVP-Anhängerschaft seine Meinung zu Zuwanderung und Europa geändert hätte. Die Aussage, dass das Elektorat zwischen den beiden Urnengängen seine Haltung geändert hat, wäre ohnehin nur dann zulässig, wenn beide Male über dasselbe abgestimmt worden würde. Das war aber offenkundig nicht der Fall. Die Ecopop-Initiative ging weiter als die MEI, was auch daran erkennbar ist, dass ihre Unterstützung im Parlament deutlich geringer war als diejenige der MEI. Kurz, das Gros der SVP-Wähler (und weiterer MEI-Befürworter) hat ihre Haltung zur Zuwanderungsproblematik wohl kaum geändert, sondern das Ecopop-Begehren abgelehnt, weil es zum einen radikaler als die MEI war und zum anderen von ihrer bevorzugten Partei zur Ablehnung empfohlen worden war. Vieles spricht demnach dafür, dass die grundsätzlichen Haltungen zu Europa und der Zuwanderung mehr oder weniger stabil geblieben sind. Allerdings zeigt die starke zusätzliche Mobilisierung der Bilateralen-Anhänger bei der Ecopop-Abstimmung, dass dieses Lager im Vergleich zum MEI-Votum durchaus noch Luft nach oben hat. Zugegegeben, dies ist ein Stück weit Spekulation, denn wir wissen nicht genau, was diejenigen motivierte, die der MEI-Abstimmung noch fernblieben, dann aber mit überwältigender Mehrheit die Ecopop-Initiative verwarfen. Aber ganz abwegig erscheint der Gedanke nicht, dass sie dies zur Bewahrung der Bilateralen taten, die sie durch die MEI und erst recht durch Ecopop gefährdet sahen.

Thomas Milic und Basil Schläpfer

[1] Foto: Flickr|Jan Zuppinger

[2] Auf Deutsch übersetzt, lautete die Abstimmungsfrage: «Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25.06.2015 eingereicht wurde und aus zwei Teilen besteht, die in einem einzigen Vorschlag zusammengefasst sind?»

[3] Hier geht es zum Beitrag auf SRF.

[4] Lesen hierzu auch die Auswertung von Peter Moser.

[5] Auch hier empfehlen wir wieder Peter Mosers Auswertung der Zürcher Gemeindedaten – er gelangte zu ganz ähnlichen Schlüssen.

Methodik: Die Datengrundlage bildeten die 20 Minuten-Vorwahlumfragen vom 16/17. Juni 2015 mit rund 24’000 Teilnehmern. Diese Daten wurden nach soziodemographischen und politischen Kriterien gewichtet. Die MEI wurde im ungewichteten 20 Minuten-Sample im Übrigen mit 54.6 Prozent angenommen (+4.3% Differenz zum effektiven Resultat), Ecopop mit 74.8 % (+0.7% Differenz) abgelehnt. Wenn wir die entsprechenden Vox- und 20 Minuten-Daten vergleichen, so stellen wir fest, dass es beruhigenderweise nur geringfügige Unterschiede gibt: Die grösste Differenz besteht bei denjenigen, die bei der MEI-Abstimmung der Urne fernblieben, die Ecopop-Initiative sodann ablehnten. Im 20 Minuten-Sample liegt der entsprechende Wert 6 Prozentpunkte über dem Wert, der in der Vox ermittelt wurde. Darüber zu spekulieren, welcher Wert näher am “wahren” Wert in der Grundgesamtheit liegt, ist müssig. Denn es lässt sich ohnehin nicht überprüfen. Letztlich haben wir uns für die 20 Minuten-Daten entschieden, weil sie ihrer hohen Fallzahl wegen eine Analyse auf der Ebene der einzelnen Parteianhängerschaften ermöglicht: So lagen im 20 Minuten-Sample für die Lega dei Ticinesi beispielsweise 209 Fälle vor, während sich in der entsprechenden Vox-Stichprobe nur gerade 9 Befragte zur Lega bekannten.

Hinsichtlich der Teilnahme liegen jedoch beide Datensätze nachweislich daneben. In beiden Umfragen gaben deutlich mehr Befragte an, teilgenommen zu haben, als dies effektiv der Fall war. Dies ist ein allseits bekanntes Phänomen bei Umfragen: Politisch Involvierte nehmen viel eher an politischen Umfragen teil als solche, die sich nicht für Politik interessieren. Deshalb haben wir die «Wanderungsbilanzen» zwischen Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden nach den St. Galler Registerdaten gewichtet. Diese ermöglichen – zumindest für die Stadt St. Gallen – die Rekonstruktion der Wechselströme zwischen Teilnahme und Nichtteilnahme. Nimmt man die St. Galler Registerdaten als Referenz, liegen die gewichteten 20 Minuten-Daten jedoch gar nicht derart weit daneben. Die Wanderungsbilanz zwischen Nicht-Teilnehmenden und Teilnehmenden wird im ungewichteten Datensatz (wahrscheinlich) um lediglich rund 5 Prozent überschätzt. Allerdings – und darauf deutet das zuvor in Klammern gesetzte «wahrscheinlich» hin – ist die Frage erlaubt, ob denn die Stadt St. Gallen (bzw. deren Wanderungsbilanz) auch tatsächlich repräsentativ für die Gesamtschweiz steht. Wir wissen es nicht, aber ein Vergleich zwischen den Ergebnissen in der Stadt St. Gallen und dem nationalen Ergebnis lässt vermuten, dass dem annäherungsweise so ist: Die Beteiligungshöhe in der Stadt St. Gallen betrug bei der MEI-Abstimmung 55.4 (schweizweit: 56.6%), bei der Ecopop-Abstimmung 51.0 Prozent (schweizweit: 50.0). Die St.Galler Werte liegen demnach sehr nahe bei den nationalen Werten. Übrigens haben wir für die Gewichtung nur diejenigen St. Galler und St. Gallerinnen berücksichtigt, die an beiden Urnengängen in der Stadt St. Gallen als Stimmberechtigte registriert waren. Daraus entsteht eine – allerdings wohl ziemlich geringe – Differenz zum schweizweiten Ergebnis, weil Stimmbürger ja sterblich sind, Erstwähler und Eingebürgerte hinzukommen, etc..
Zuletzt wird sich manch einer möglicherweise die Frage stellen: Warum wurden nicht einfach die St. Galler Registerdaten verwendet? Warum die komplexe Gewichtung von Umfragedaten, wenn doch offizielle, prozessgenerierte (aber selbstredend anonymisierte!) Daten vorliegen? Die ganz einfache Antwort darauf lautet: Es gilt das Stimmgeheimnis. Und deshalb wissen wir nicht, wie die St. Galler und St. Gallerinnen gestimmt haben (und welche Parteipräferenz sie haben), sondern lediglich, ob sie gestimmt haben.

Wie informiert ist das Schweizer Stimmvolk bei Sachfragen?

Die politische Kompetenz des Schweizer Stimmvolks wird immer wieder in Frage gestellt, insbesondere nach überraschenden Volksentscheiden. Das Volk sei den immer komplexer werdenden Sachfragen einfach nicht mehr gewachsen, lauten die Unkenrufe. An dieser These sind Zweifel angebracht, denn die Empirie zeigt anderes.

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind besonders stolz, direkt an der Urne über politische Sachfragen entscheiden zu können. Doch diese einzigartigen Mitbestimmungsrechte erfordern auch eine gewisse politische Involvierung: Um bei Sachabstimmungen einen rationalen Entscheid fällen zu können, muss man informiert sein und die zentralen Argumente sowie die Standpunkte der Konfliktparteien kennen. Immer wieder (und, so scheint es, immer häufiger) wird jedoch angezweifelt, dass das Gros des Stimmvolks über eine solche Vorlagenkompetenz verfügt. Erst kürzlich hiess es in einem Gastkommentar in der NZZ, dass «die wachsende Zahl komplexer Urnengänge zu einer Überlastung und Überforderung der Stimmbürger» führe.[1] Die These, dass die Stimmbürgerschaft materiell überfordert ist, wurde insbesondere im Zusammenhang mit dem Entscheid über die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) vorgebracht. Die überraschende Annahme der Vorlage erklärten einige der Abstimmungsverlierer damit, dass viele Initiativbefürworter nicht gewusst hätten, worüber sie im Detail abgestimmt haben. Zu diesen Kritikern gehörte beispielsweise auch der Deutsche Bundespräsident Joachim Gauck. Dieser warnte im Nachgang zum MEI-Votum, dass «die direkte Demokratie Gefahren bergen (kann), wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen».[2] Implizit steckt darin die Annahme, dass das Ja zustande kam, weil die Bürger von der Komplexität der MEI überfordert waren. Zunächst ist es keineswegs klar, ob eine grössere Informiertheit der Bürger zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Aber abgesehen davon stellt sich noch eine andere, viel grundlegendere Frage: Stimmt es überhaupt, dass die Bürger überfordert sind?

Wurden Sie schon einmal mit politischen Botschaften in den sozialen Medien konfrontiert?

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Zur politischen Informiertheit bei Schweizer Sachabstimmungen gibt es bereits einen umfangreichen Fundus an Literatur.[3] Die Frage, ob sich die Stimmbürger mit ihren direktdemokratischen Verpflichtungen immer schwerer tun, blieb bislang unbeantwortet. Tatsächlich konnte (oder wollte) bis dato kaum jemand die These der zunehmenden Überforderung empirisch belegen. Sie ist fast zu einer Art Axiom der Kritiker der direkten Demokratie geworden – also ein Grundsatz, der nicht weiter begründet werden muss. Doch es muss nicht zwingend bei Spekulationen und Annahmen bleiben. Es gibt eine Fülle an Datenmaterial, aufgrund dessen man sich einer empirischen Beantwortung dieser Frage zumindest annähern kann. Die empirische Messung der Informiertheit bei Sachabstimmungen ist allerdings kein leichtes Unterfangen. Wir haben deshalb auch nicht den Anspruch, die obigen Fragen endgültig zu beantworten. Aber wir wollen im vorliegenden Beitrag zumindest einige empirische Fakten dazu vorlegen.

Ein «Goldstandard» der Informiertheit wäre normativer Natur

Ein Problem besteht darin, dass es nicht möglich ist, das genaue Mass an ausreichender politischer Informiertheit zu bestimmen: Es gibt keinen allgemein gültigen Schwellenwert, der uns erlauben würde, zu beurteilen, ob ein Stimmbürger genügend informiert ist, um einen rationalen Entscheid zu fällen. Ein solcher «Goldstandard» der Informiertheit wäre zudem zwangsläufig normativer Natur und damit stets offen für die Kritik, nicht objektivierbar zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die Informiertheit empirisch nicht untersuchen kann. Der Vergleich verschiedener Vorlagen erlaubt relative Aussagen, die durchaus objektivierbar sind. Voraussetzung ist ein Indikator, der die Informiertheit zwischen den zum Teil ganz unterschiedlichen Abstimmungen und Vorlagen (möglichst) ähnlich bzw. im Idealfall genau gleich erfasst. Einen solchen Index möchten wir hier vorschlagen. Er setzt sich aus drei Fragen zusammen, die bei den Vox-Nachbefragungen regelmässig gestellt werden: nach dem Titel und dem Inhalt der Vorlage sowie die Motivfrage (zur Methodik siehe Kasten am Schluss des Artikels). Dieser Index hat – wie jeder andere auch – seine Schwächen. Alles in allem misst er jedoch die Informiertheit auf eine sehr systematische Art und Weise und ermöglicht somit einen verlässlichen Vergleich zwischen den Vorlagen.

Für diesen Beitrag verglichen wir auf diese Weise die Informiertheit zu allen Sachabstimmungen zwischen 1998 und 2014. Die nachfolgende Abbildung zeigt zunächst, dass die Informiertheit zwischen den Vorlagen stark variiert. Das war zu erwarten und dürfte niemanden überraschen: Das vorlagenspezifische Wissen ist selbstverständlich auch vom Thema der Vorlage abhängig.[4]

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Gestapelte Anteile (in %) der jeweiligen Informiertheitsniveaus bei Vorlagen zwischen 1998 und 2014.

Wenn wir nun den durchschnittlichen Informiertheitsscore für jede einzelne Vorlage ermitteln und daraus einen gleitenden 10-Vorlagen-Durchschnitt bilden, wie wir das an anderer Stelle auch schon für die Erfolgsrate von Initiative getan haben, so wird schon viel eher ein Muster erkennbar. Und dieses Muster entspricht nicht der These der zunehmenden Überforderung der Stimmbürger. Im Gegenteil: Die Informiertheit nimmt tendenziell eher zu. Bei der Interpretation ist natürlich Vorsicht geboten. Wie gesagt, die Informiertheit ist von mancherlei Kontextfaktoren abhängig: Beispielsweise von der materiellen Komplexität der Vorlage oder der Kampagnenintensität. Der Anstieg in der Informiertheit mag deshalb auch damit zu tun haben, dass in jüngerer Vergangenheit vermehrt über sehr intensiv beworbene Vorlagen abgestimmt wurde. Auf jeden Fall lässt sich die These der zunehmenden materiellen Überforderung der Stimmbürger aber stark anzweifeln.

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Gleitender 10-Vorlagen-Durchschnitt für die Informiertheit bei Sachabstimmungen zwischen 1998 und 2014.

 

Der Absturz Ende 2003 hat im Übrigen einen einfachen Grund, der die Schwäche des hier verwendeten Index aufzeigt: Eine der drei Vox-Fragen, die in die Messung des vorlagenspezifischen Wissens eingeflossen ist, fragte nach dem Titel der Vorlage. Am 18. Mai 2003 wurde nun über die Rekordzahl von neun Vorlagen abgestimmt. In der Nachbefragung fiel es den Befragten anschliessend schwer, sich an alle neun Vorlagen zu erinnern. Entsprechend fielen auch die an diese Frage geknüpften Informiertheitswerte ernüchternd aus. Dieser drastische Absturz in der Informiertheit ist also – zumindest zum Teil – auf eine suboptimale Messung zurückzuführen. Das Erinnerungsvermögen, das bei der Titelfrage mitgemessen wird, ist allerdings nicht unabhängig von der Informiertheit.[5] Die Faustregel lautet, dass man sich an Vorlagen, mit denen man sich detailliert auseinandergesetzt hat, auch erheblich besser erinnern kann als an Vorlagen, über die man kaum informiert war. Erinnerungsvermögen und Informiertheit sind demnach nicht unabhängig voneinander. Aber es ist auch klar, dass bei neun Vorlagen kaum mehr die Informiertheit, sondern im Prinzip nur noch die Erinnerungsfähigkeit gemessen wird.

Wie gut war das Elektorat vergleichsweise informiert…

Über welche Vorlagen waren die Stimmbürger nun gut und über welche waren sie vergleichsweise schlecht informiert? Nochmals: Unsere Aussagen sind vergleichende Aussagen. Wir sagen nicht, dass die Stimmbürger bei dieser Vorlage ausreichend, bei jener jedoch ungenügend informiert waren. Wir sagen bloss, dass die Stimmbürger bei dieser Vorlage besser informiert waren als bei jener Vorlage. Dazu haben wir Ranglisten der zehn Vorlagen mit der höchsten bzw. der tiefsten Informiertheit erstellt.

Unter den Top Ten sind vor allem Initiativen mit materiell wenig komplexen Forderungen zu finden (Volkswahl des Bundesrates, 18-Prozent-Initiative oder Minarettverbot). Das heisst nicht zwingend, dass der konkrete Gesetzes- oder Verfassungstext dieser Initiativen immer einfach verständlich und alltagsnah war. Bei der Abzockerinitiative beispielsweise ging es um vergleichsweise komplexe Änderungen des Aktienrechts, mit dem die Stimmbürger wohl kaum tagtäglich zu tun haben. Auch der Vorlagentext zu den Bilateralen I war umfangreich und teilweise hochkomplex. Aber die Stimmbürger wussten, worum es prinzipiell ging, wie die geläufigen Argumente lauteten und wo sich die Parteien in diesem Konflikt positionierten. Man kann nun argumentieren, dass dies noch lange nicht ausreicht, um als «informiert» zu gelten. Doch die umfangreiche Literatur zu Heuristiken und zu correct voting hat gezeigt, dass diese Informationsbits oft genügen, um einen rationalen Entscheid zu fällen, von dem man auch dann nicht abweichen würde, wäre man (noch) besser informiert. Übrigens: Die MEI hat es nicht ganz in die Top Ten geschafft; sie rangiert auf Platz 13 (von 147 Vorlagen). Aber auch das reicht aus, um die MEI als eine Abstimmung mit vergleichsweise hoher Informiertheit bezeichnen zu können.[6] Auch das ist nicht verwunderlich: Pascal Sciarini und Lionel Marquis haben schon vor Jahren aufgezeigt, dass das Schweizer Stimmvolk in keinem anderen Sachbereich so gut informiert ist wie in der Aussenpolitik.[7]

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… und wie schlecht?

Kaum Bescheid wussten die Stimmbürger über Themen, die ohnehin nur wenig umstritten waren oder einen sehr technischen Inhalt hatten. Dazu gehört etwa die Neue Finanzordnung, die Spezialfinanzierung des Flugverkehrs oder die den meisten Stimmbürgern höchst alltagsferne Justizreform. Die allgemeine Volksinitiative ist gleich zweimal in den Bottom Ten enthalten. Sowohl bei ihrer Einführung wie auch bei ihrer Abschaffung wussten nur wenige, worüber sie eigentlich abstimmten. Bezeichnenderweise wurde die allgemeine Volksinitiative mit ganz ähnlichen Ja-Anteilen an der Urne zuerst eingeführt und anschliessend wieder abgeschafft – ein eindrückliches Beispiel für die Einflussmöglichkeiten von Regierung und Parteien. Etwas anderes zeigt diese Rangliste aber auch: Uninformiert waren die Stimmbürger vor allem bei Themen, die eine sehr geringe Konfliktivität aufwiesen und bei denen sie höchstwahrscheinlich auch gleich abgestimmt hätten, wären sie besser informiert gewesen. Tiefe Informiertheit ist somit noch nicht zwingend eine Gefahr für die Demokratie. Und über brisante Themen – wie die Zuwanderungspolitik – ist das Stimmvolk ohnehin vergleichsweise gut informiert.

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Dossier:

[1] Hier geht es zum Gastkommentar in der NZZ.

[2] An dieser Stelle warnt Joachim Gauck vor den Gefahren der direkten Demokratie.

[3] Für eine Zusammenfassung lesen Sie das Buch «Handbuch der Abstimmungsforschung» auf den Seiten 263-282.

[4] Wovon das Wissen einer Vorlage abhängt, finden Sie im «Handbuch der Abstimmungsforschung» auf den Seiten 279-282.

[5] Lesen Sie zum Beispiel Lodge et al. 1995.

[6]  Siehe hierzu folgenden Beitrag in der SPSR.

[7] Hier finden Sie den Artikel von Sciarini und Marquis.

[8] Drei Vox-Fragen wurden zur Messung des Informiertheitsniveaus bei Abstimmungen verwendet: 1) Die Frage, worüber am letzten Abstimmungswochenende abgestimmt wurde. 2) Die Frage nach dem Inhalt der Vorlage und 3) die Frage nach den Gründen für das JA bzw. NEIN. Bei den letzten beiden Fragen wurden allgemeine Aussagen, die Befolgung von Stimmempfehlungen und «Weiss nicht»-Antworten als uninformiert klassifiziert, substanzielle Antworten – unabhängig vom Differenzierungsgrad – hingegen als informiert. Detailliertere Angaben zur Operationalisierung finden sich in diesem Beitrag in der SPSR.

[9] Foto: Flickr|vfladeb