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Von der Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger

Oft wird spekuliert, ob die steigende Anzahl und Komplexität von Abstimmungsvorlagen zu einer Überforderung der StimmbürgerInnen führt. Im Rahmen einer Forschungsarbeit konnte Thomas Reiss nachweisen, dass die Überforderung mit Zunahme der Anzahl Vorlagen einhergeht. Der vorliegende Gastbeitrag zeigt, dass das negative Auswirkungen auf den Stimmentscheid hat.

Die Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 hat aufgrund der Komplexität der Vorlage eine alte Frage neu gestellt: Was bedeutet eine allfällige Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für den Stimmentscheid?[2] Nicht nur die Komplexität einer Vorlage, sondern auch die Anzahl Vorlagen, über die an einem Abstimmungssonntag befunden wird, erhöhen den  Informationsaufwand für die Abstimmenden. Nicht zu Unrecht wurde die Schweiz auch schon «the unchallenged champions in national referendums»[3] genannt, wobei diese Aussage die föderalen Ebenen der Kantone und Gemeinden, auf denen oft parallel zu den nationalen Vorlagen auch Abstimmungen stattfinden, nicht einmal in Betracht zieht. Die Frage stellt sich also, ob Bürgerinnen und Bürger überfordert sind, und wenn ja, inwiefern sich das auf ihren Stimmentscheid auswirkt.

Für diese Forschungsarbeit interessiert mich vor allem die Anwendung der sogenannten Status Quo-Heuristik, eine Entscheidhilfe, die vor allem von schlecht informierten Abstimmenden verwendet wird. Diese wissen oft nicht was die Konsequenzen der Annahme einer Vorlage sind. Wenn sich eine Person kein Bild über die Folgen einer Annahme einer Vorlage machen kann, tendiert sie eher dazu die Vorlage abzulehnen, denn die Folgen der Ablehnung, den Status Quo, kennt sie besser.[4]

Zur Beantwortung der Frage, ob schlecht informierte Personen eher Nein stimmen als gut informierte, habe ich sämtliche Abstimmungen von Januar 2009 bis und mit Juni 2016 anhand Vox und VoxIt Daten untersucht.

Um als gut informiert zu gelten, musste die Person in der Lage sein den Inhalt sowie einen Grund angeben zu können. Um in die mittlere Kategorie zu fallen, mussten die TeilnehmerInnen entweder den Inhalt oder einen validen Grund angegeben haben, solche die weder noch angeben konnten, wurden als schlecht informiert codiert.

Die erste Grafik zeigt die vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten, ob eine Person in eine der drei Kategorien der Informiertheit fällt, für alle drei Arten von Vorlagen. Grün steht für gut informierte, gelb für mittel informierte und rot für schlecht informierte Personen. Einerseits fällt auf, dass eine grosse Mehrheit gut informiert war (grün), andererseits ist klar zu erkennen, dass mit einer zunehmenden Anzahl Vorlagen pro Abstimmungstermin die Wahrscheinlichkeit in die Kategorie gut informiert zu fallen abnimmt, während umgekehrt die Wahrscheinlichkeit in die mittlere Kategorie (gelb) oder in die schlecht informierte Kategorie (rot) zu fallen, steigt. So waren bei der Milchkuh-Initiative am 5. Juni 2016, als über fünf nationale Vorlagen abgestimmt wurde, lediglich 58.6% der Personen aus der Vox Stichprobe gut informiert und 13.9% schlecht informiert. Bei der Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» über die am 13. Februar 2011 als einzige Vorlage abgestimmt wurde, waren 89.1% gut informiert und nur 0.5% schlecht informiert. Zusätzlich fällt auf, dass die Informiertheit bei fakultativen Referenden am grössten ist und bei obligatorischen Referenden am tiefsten. Wenn also von Gesetzes wegen abgestimmt wird, wissen Stimmende wenig über den Inhalt der Vorlage. Fakultative Referenden sind häufig konfliktiver, da ein Akteur es aktiv verlangen muss, was mit hohen Kosten verbunden ist. Deshalb werden fakultative Referenden nur ergriffen, wenn der Akteur sich realistische Chancen auf Erfolg ausrechnet. Da die Abstimmung als knapp antizipiert wird, wird die Kampagne auf beiden Seiten intensiviert, was die höhere Informiertheit erklärt. Um zur Ausgangsfrage zurückzugehen: Die Abstimmenden sind insofern mit dem Inhalt der Vorlagen überfordert, dass ihr vorlagen-spezifisches Wissen mit einer zunehmenden Anzahl an Vorlagen abnimmt.

Die zweite Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeit für jede Ausprägung der Informiertheit auf den Stimmentscheid für die drei Vorlagentypen. Personen mit schlechter Informiertheit weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich für ein Nein zu entscheiden, als Personen, die gut informiert waren. Die Zustimmung für Initiativen ist in zweiten Grafik viel tiefer als für obligatorische Referenden, was auf darauf zurückzuführen ist, dass Initiativen oft von politischen Aussenseitern kommen, und deshalb selten angenommen werden. In obligatorischen Referenden hingegen ist die Zustimmung relativ gross, da es oft konfliktarme Vorlagen sind, die häufig angenommen werden. Dies deutet darauf hin, dass selbst schlecht informierte Personen nach Vorlagenart unterscheiden können, und so die einheitlichen Elitensignale bei obligatorischen Referenden erkennen und entsprechend stimmen.

Die Anzahl Vorlagen pro Abstimmungssonntag hat einen direkten Einfluss auf die Informiertheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, wobei diese wiederum einen Einfluss auf die Annahme bzw. Ablehnung einer Vorlage hat. Wir können also festhalten, dass eine gewisse Überforderung festzustellen ist und sich diese negativ auf den Stimmentscheid auswirkt.

Thomas Reiss

Thomas Reiss studiert Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

[1] Parolen für eidgenössische Urnengänge werden in der Regel von den Delegiertenversammlung gefasst. Zuweilen formulieren aber auch andere Organe Empfehlungen (z.B. Zentralvorstand bei der SVP, etc.).

[2] Die NZZ zur Überforderung.

[3] Christin, Thomas, Simon Hug, and Pascal Sciarini. 2002. Interests and information in referendum voting: An analysis of Swiss voters. European journal of political research 41: 759–776.

[4] Kriesi, Hanspeter. 2005. Direct democratic choice: The Swiss experience. Political Science. Lanham, Md: Lexington Books.

[5] Foto | Flickr

 

 

Die SP im wirtschaftspolitischen Dilemma

Am 14. Juni 2015 hat das Schweizer Stimmvolk wiederholt über eine von linker Seite vorgeschlagenen Steuerreform zu entscheiden. Die letzten fünf wirtschaftspolitischen Initiativen aus dem linken Lager sind allesamt gescheitert, zum Teil überaus deutlich. Selbst das eigene Lager stand nur mässig hinter den Begehren. Was bedeutet das für die indirekten Wirkungen, die man mit solchen Initiativen oftmals zu erzielen versucht?  

Am 14. Juni 2015 hat das Schweizer Stimmvolk über die Volksinitiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV» (nachfolgend kurz: Erbschaftssteuerinitiative) zu befinden. Zum wiederholten Male innert wenigen Jahren wird damit über eine steuerpolitische Vorlage aus dem linken Lager entschieden. Zwar geht es bei der Erbschaftssteuerinitiative nicht um eine nationale Harmonisierung der Einkommens- und Vermögenssteuer (wie bei der Steuergerechtigkeitsinitiative 2010) und auch nicht um eine Abschaffung der Aufwandbesteuerung (Pauschalbesteuerungsinitiative 2014), sondern um die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer. Diese sei aber kein linkes, sondern vielmehr ein urliberales Anliegen, argumentieren die Befürworter.[2] Es fördere das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, welches doch einer der Grundpfeiler des liberalen Programms sei.

Das Buhlen um die Stimmen der liberalen Wähler und Wählerinnen scheint bislang ohne Erfolg geblieben zu sein. Vielmehr sieht es so aus, als ob der Erbschaftssteuerinitiative das gleiche Schicksal droht wie anderen, von vornherein als linke Projekte deklarierten Steuerreformen der jüngeren Vergangenheit. Die Vorumfragen von 20 Minuten und gfs.bern (siehe nachfolgende Abbildungen) deuten auf jeden Fall auf eine klare Ablehnung hin. Sollte die zweite Umfrage von gfs.bern den klassischen Trend von sinkenden Zustimmungsraten bei linken wirtschaftspolitischen Initiativen stützen, ist sogar ein ähnliches Debakel wie bei der Mindestlohninitiative zu erwarten [3]. [Update: Inzwischen ist die 2. Umfrage von gfs.bern erschienen. Sowohl diese als auch die 20 Minuten-Umfrage lassen vermuten, dass die Zustimmung gar nicht oder weniger stark gesunken ist, als bei anderen linken wirtschaftpolitischen Initiativen.]

Indirekte Wirkungen von Initiativen

Für den direkten Erfolg einer linken Initiative braucht es notwendigerweise auch eine Stimmunterstützung aus dem Lager der Mitte- oder Rechtswähler. Denn die Stimmen der linken Wählerschaft alleine reichen niemals für einen direkten Initiativerfolg aus. Die Rothenthurm-Initiative (1987) ist ein vielzitiertes, weil gutes Beispiel dafür: Sie wurde angenommen, weil neben den obligaten Stimmen der linken Umweltschützer auch noch diejenigen der rechten Heimatschützer hinzukamen. Doch zuweilen streben die Initianten – notabene aus dem linken Lager – gar keinen direkten Erfolg an der Urne an. Das heisst, sie rechnen schon bei der Lancierung ihres Begehrens nicht (bzw. kaum) mit deren Annahme durch das Volk.

Zentral ist die bedingungslose Unterstützung der Initiative im eigenen Lager.

Allerdings erhoffen sie sich von der Initiativabstimmung indirekte Effekte: Zum Beispiel die Auslösung eines Diskurses, der längerfristig zu einer Meinungsänderung führt (z.B. die GSoA-Initiative von 1989, welche die nachfolgenden Armeereformen eingeleitet hatte). Oder man erhofft sich einen indirekten Gegenvorschlag von Regierung und Parlament, der Teile des Begehrens «prophylaktisch» umsetzt. Zuletzt – und darauf hoffen Parteien eigentlich immer – resultieren aus einer Initiative vielleicht auch Wählerstimmen, dann nämlich, wenn das Vorlagenthema auch den (nachfolgenden) Wahlkampf zu dominieren vermag. Und in der Tat ist zumindest nicht auszuschliessen, dass man bei der Lancierung der Erbschaftssteuerinitiative eher auf diese indirekten Wirkungen abzielte als auf einen sensationellen Erfolg an der Urne. Um die eben genannten indirekten Wirkungen realisieren zu können, braucht es aber vor allem eines: Die bedingungslose Unterstützung der Initiative im eigenen Lager. Fehlt diese, darf man weder darauf hoffen, dass die Initiative als Wahlhelfer dienen könnte, noch darauf, dass Teile davon vor der Abstimmung umgesetzt werden, um die Erfolgschancen des Begehrens zu verringern.

Indes, die letzten fünf wirtschaftspolitischen Initiativen aus dem linken Lager erzielten eher ernüchternde Unterstützungswerte bei der SP. Bei vier der fünf Vorlagen wichen mehr als 30 Prozent der SP-Sympathisanten von der Stimmempfehlung ihrer nationalen Delegiertenversammlung ab. Wohlgemerkt: Diese Abweichung wurde für Initiativen ermittelt, die entweder von der SP selbst, einem SP-nahen Komitee oder aus dem linken Lager generell lanciert wurden. Nun sollte man aber erwarten dürfen, dass die Parteianhängerschaft zumindest bei eigenen Initiativen parolenkonform stimmt. Dies ist jedoch nur bedingt der Fall (siehe nachfolgende Abbildung).

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Abweichung des Stimmentscheids der SP-Anhängerschaft von der nationalen Parole in % (ausgewählte Vorlagen zwischen 2009-2015). Die Daten stammen aus den entsprechenden VOX-Nacherhebungen. Der schwarze Balken steht für das jeweilige Konfidenzintervall.

Man mag nun argumentieren, dass dies der Ausdruck einer «reifen, emanzipierten» Parteianhängerschaft ist, die sich nicht einfach gedankenlos an Parolen orientiert, sondern ihre Meinung unabhängig vom offiziellen Parteistandpunkt bildet. Das wird (in dem einen oder anderen Fall) gewiss auch stimmen. Man mag aber ebenso gut argumentieren, dass es offenbar zu einem Strukturwandel in der Parteienlandschaft gekommen ist, welcher dazu geführt hat, dass eine beträchtliche Zahl der SP-Wählerschaft in Wirtschaftsfragen nicht mehr auf der gleichen Linie politisiert wie ihre Parteispitze. Dazu passt zumindest folgendes, pikantes Detail: Paradoxerweise stimmt nämlich die SP-Anhängerschaft viel disziplinierter (sprich: parolenkonformer) ab, wenn die Initiative von der SVP (oder einem ihr nahen Initiativkomitee) stammt. Damit kein Missverständnis aufkommt: Die SP-Anhängerschaft stimmt natürlich grossmehrheitlich gegen die SVP-Initiativen, demnach eben parolenkonform (denn die SP-Parole lautet in solchen Fällen stets «Nein»). Die Kernaussage aber ist: Die SP-Anhängerschaft stimmt viel parolenkonformer bei SVP-Initiativen als bei den eigenen Initiativen! Was ein «V» im Parteinamen doch alles bewirken kann! Scherz beiseite, der Grund dafür liegt wohl daran, dass die Haltung zu Europa und zu Ausländern und Ausländerinnen in der Zwischenzeit viel stärkere linke Identifikationsmerkmale sind als wirtschaftspolitische Präferenzen. Das aber dürfte nicht ohne Auswirkungen auf den indirekten Effekt wirtschaftspolitischer Initiativen von Links bleiben.

 

[1] Foto: Flickr/aquarian_insight

[2] Mehr dazu finden Sie hier.

[3] Die Grafiken zeigen den Ja-Anteil (Stimmabsicht) in % bei der entsprechenden Vorumfrage. Die Gesamtheit bilden bei den gfs.bern-Umfragen alle Befragten, die angeben, sicher teilnehmen zu wollen. Vom hier ausgewiesenen Ja-Anteil kann deshalb nicht automatisch auf den entsprechenden Nein-Anteil geschlossen werden, weil es immer auch noch solche gibt, die sich zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht entschieden haben. Gleiches gilt auch für die 20 Minuten-Vorumfragen: Auch hier bilden alle Teilnahmewilligen (darunter auch Unentschiedene) die Gesamtheit.

So erfolgreich sind Volksinitiativen

Ein Thema, das Journalisten, Politiker und Politikwissenschaftler seit einigen Jahren gleichermassen beschäftigt, ist die steigende Erfolgsquote von Initiativen. Häufig ist aber nur generell von einer höheren Erfolgsrate der Initiativen die Rede, ohne dass dabei ein konkreter Erfolgswert ausgewiesen wird. Einen solchen, aktuellen Erfolgswert von Initiativen stellen wir im folgenden Beitrag vor.

Dass Initiativen immer häufiger Erfolg haben, ist im Prinzip unbestritten. Allerdings fehlen oft genauere Angaben dazu, wie erfolgreich Initiativen momentan sind. Häufig ist bloss davon die Rede, dass «seit gut 20 Jahren immer mehr Initiativen an der Urne erfolgreich sind» oder dass es «immer häufiger» vorkommt, dass «eine Volksinitiative angenommen» wird.[1] Werden konkrete (Prozent-)Zahlen angegeben, dann handelt es sich so gut wie immer um die Annahmerate von Initiativen pro Dekade. Zum Beispiel betrug die Annahmerate der Initiativen in den Jahren zwischen 2004 und 2013 27 Prozent. Zehn Jahre sind allerdings eine lange Zeitperiode. Insbesondere dann, wenn man die aktuelle Erfolgsrate von Initiativen angeben möchte und dabei den Schnitt der letzten zehn Jahre ausweist, scheint es etwas fragwürdig, von der «momentanen» oder «aktuellen» Erfolgsrate von Volksinitiativen zu sprechen. Denn dieser «aktuelle» Wert schliesst den Erfolg bzw. Misserfolg von Volksbegehren ein, deren Entscheid zum Teil zehn Jahre zurückliegt.

10-Jahres-Durchschnitte dieser Art haben einen weiteren Nachteil: Angaben, die sich auf die laufende Dekade beziehen, sind naturgemäss nur als vorläufige Zwischenbilanz zu betrachten. Vergleiche zwischen vorläufigen und endgültigen Durchschnittswerten (zum Beispiel ein Vergleich der Erfolgsquote von Initiativen zwischen 2001 bis 2010 und 2011 bis dato) sind demnach wenig aussagekräftig. Denn der vorläufige Durchschnittswert kann sich ja nach oben, aber auch nach unten ändern. Im Prinzip ist es so, als würde man bereits Mitte Juni die Durchschnittstemperatur des Sommers 2016 angeben wollen.

Aus diesem Grund schlagen wir einen gleitenden Durchschnittswert vor, der wie jede Kennzahl Vor- und Nachteile hat, bei welchem aber – so glauben wir zumindest – die Vorteile die Nachteile überwiegen. Gleitende Mittelwerte sind nichts Neues und werden beispielsweise in der Wirtschaft (zum Beispiel: 38-Tage-Durchschnittswert von Börsenkursen) angewandt. Auch in die Politikwissenschaft haben sie längst Eingang gefunden.[2] In unserem Fall bilden jedoch nicht Zeiteinheiten, sondern die Vorlagen selbst die jeweilige Untermenge. Konkret: Ausgewiesen wird der Mittelwert der jeweils letzten zehn Initiativen. Der Vorteil dieser Messvariante liegt vor allem darin, dass in der Tat von einer aktuellen Erfolgsquote der Initiativen gesprochen werden kann.

«Der Vorteil dieser Messvariante liegt vor allem darin, dass in der Tat von einer aktuellen Erfolgsquote
der Initiativen gesprochen werden kann.»

Allerdings bleibt eine Frage offen: Was genau soll ausgewiesen werden? In der Regel wird die Annahmerate von Initiativen pro Dekade ausgewiesen. Das heisst, man interessiert sich nicht dafür, wie knapp oder wie deutlich die Initiativabstimmung ausging, sondern lediglich, ob die Vorlage angenommen oder verworfen wurde. Man könnte nun argumentieren, dass für die Politikgestaltung ohnehin nur zählt, ob ein Begehren eine Mehrheit findet oder nicht. Angenommene Initiativen müssen (oder inzwischen wohl eher: sollten) umgesetzt werden, abgelehnte Initiativen nicht. Abgesehen davon, dass dies bei weitem nicht zutrifft – auch abgelehnte Volksinitiativen entfalten nachweislich eine Wirkung auf die Rechtsetzung («indirekte Wirkung»; siehe dazu etwa das Buch von Gabriela Rohner) – werden auf diese Weise Abstimmungen mit sehr ähnlichem Ausgang diametral anders bewertet. Dazu ein Beispiel:

Die SVP-Asylinitiative, über die 2002 abgestimmt wurde, verpasste das Volksmehr um lediglich rund 4’000 Stimmen. Die Masseneinwanderungsinitiative hingegen wurde mit knapp 20’000 Stimmen Vorsprung auf das Nein-Lager vom Volk gutgeheissen. Diese Differenz ist angesichts der rund drei Millionen abgegebenen Stimmen (bei der Abstimmung vom 9. Februar 2014) verschwindend gering.

Mit anderen Worten: Zwei Abstimmungen, die im Prinzip gleich ausgingen, werden – es geht ja um die Berechnung der Erfolgsquote von Initiativen – statistisch ganz unterschiedlich bewertet. Dies ist nicht bloss von rein akademischem Interesse: Eine der brennendsten politischen Fragen ist derzeit diejenige, weshalb Initiativen immer häufiger angenommen werden. Wie aber müsste die Antwort auf diese Frage im gezeigten Beispiel der Asyl- und Masseneinwanderungsinitiative lauten? Die Antwort wäre (wohl am ehesten), dass der Zufall alleine entschieden hat. Anders formuliert: Dass die Asylinitiative (hauchdünn) abgelehnt, die MEI jedoch (hauchdünn) angenommen wurde, war Zufall. Im Nachgang zur MEI war deshalb auch häufig von einer «Zufallsmehrheit» die Rede. Um keine methodisch bedingten Datenartefakte zu bilden, bietet es sich deshalb an, sowohl die Annahmerate wie auch die durchschnittliche prozentuale Zustimmung für Initiativen auszuweisen. Das haben wir in der Folge auch getan.

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Gleitende 10-Vorlagen-Annahmerate für Initiativen (1982-2015).

Die erste Abbildung zeigt die durchschnittliche Annahmerate der jeweils letzten zehn Initiativen. Wenig überraschend wird uns hier kein völlig neues Bild des Initiativerfolgs geboten. Die durchschnittliche Erfolgsrate der Volksbegehren ist seit 2004 erheblich angestiegen und beträgt aktuell 20 Prozent. Mit anderen Worten: Zwei der letzten zehn Initiativen wurden angenommen. Dabei wird gleichzeitig auch eine Schwäche des hier angewendeten gleitenden Mittelwerts deutlich: Die Erfolgsrate kann aufgrund der Festlegung auf zehn Vorlagen als jeweilige Untergruppe immer nur 10-Prozent-Sprünge machen.

 

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Durchschnittlicher Ja-Stimmenanteil bei Initiativen, gleitender 10-Vorlagen-Durchschnitt (1982-2015).

Die zweite Abbildung enthält mehr Informationen als die erste Abbildung. Und sie relativiert den bisherigen «Glaubenssatz», wonach Initiativen immer mehr Zuspruch im Volk finden, ein wenig. Denn der durchschnittliche Ja-Stimmenanteil hat seit 2004 zwar unverkennbar zugenommen, ist aber in etwa gleich hoch wie zwischen 1990 und 1996 (siehe Abbildung 4, welche eine weitere Form der Glättung (loess) vornimmt). Das korrespondiert – wie oben gesehen – nicht mit der Annahmerate, die seit 2004 meist höher ist als in den Neunziger Jahren. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon hat wohl damit zu tun, dass bis 2004 knappe Abstimmungen zu Initiativen in der Regel mit einer Niederlage für die Initianten endeten. Danach aber wendete sich das Blatt. Um das zu verdeutlichen, haben wir alle Initiativen seit 1982, deren Abstimmungsergebnis zwischen 47.5 und 52.5 Prozent fiel, nachfolgend aufgelistet:

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Auffallend ist, dass zwischen 1984 und 2004 nur eine einzige dieser wahrhaft knappen Initiativabstimmungen zugunsten der Initianten ausging (Alpenschutzinitiative), während seit 2005 alle knappen Abstimmungen mit einem Sieg der Befürworter endeten. Dieses Phänomen, wonach knappe Abstimmungen seit Kurzem zugunsten des Ja-Lagers ausgehen, erklärt die jüngsten Initiativerfolge natürlich nicht vollumfänglich. Dafür gibt es gewiss noch weitere Gründe. Die Suche nach den Gründen für den Erfolg von Initiativen in letzter Zeit darf deshalb getrost weitergehen. Aber der gleitende Mittelwert relativiert die Aufregung um den «Siegeszug» der Initiativen zumindest ein wenig.

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LOESS-Anpassungslinie zu den Ja-Stimmenanteilen bei Initiativen 1982-2015.

 

 

Hier geht es zu einer Übersicht aller angenommenen Volksinitiativen.

Hier finden Sie ein Beispiel zur Annahmerate von Volksinitiativen.

[1] Hier finden Sie einen NZZ-Artikel zum Thema und hier einen weiteren Artikel, der sich mit dem Erfolg von Initiativen auseinandersetzt.

[2] Hier finden Sie ein Beispiel eines gleitenden 7-Tage-Durchschnitts der Stimmabsichten zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2012.