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Werkstattbericht zu #Nobillag – epischer Abstimmungskampf auf Twitter

Die NoBillag-Initiative fordert die Abschaffung aller Radio- und TV-Gebühren. Der Abstimmungskampf rund um die Initiative wird intensiv geführt – auch auf Social Media – und das schon relativ lange. Wir sammeln seit dem Aufkeimen des Abstimmungskampfes Twitter-Daten und zeigen, wer am aktivsten ist, welches politische Lager sich besonders engagiert und welche Journalisten am meisten zwitschern. Mittels Machine Learning haben wir die Tweets klassifiziert um herauszufinden, ob Gegner oder Befürworter die Nase vorne haben.

[Korrigendum: In der ersten Version dieses Artikels haben wir die Beschriftung Pro/Kontra in der Grafik der beiden Lager über die Zeit verwechselt. Dies ist nun angepasst (6.2.18).]

Es scheint, als wäre «No Billag» omnipräsent. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in irgendeinem Medium von der kommenden Abstimmung berichtet wird. Aus diesem Grund haben wir uns die Tweets zum #nobillag angeschaut. Wir sammeln die Daten bereits seit dem Frühjahr 2015, jedoch besteht die Datengrundlage für diesen Bericht lediglich aus Tweets, welche nach dem 31. August 2017 gemacht wurden. Konkret: Seit dem 1. September 2017 (und damit 184 Tage vor der Abstimmung) wurden über 60’000 Tweets verschickt – das ist rekordverdächtig. Damit diese Zahl etwas in Relation gebracht werden kann der Vergleich: In den letzten acht Tagen vor der Bundesratswahl 2015 wurden 2310 Tweets verschickt und zum #abst17 wurde im ganzen Jahr (2017) weniger als 20’000 Tweets verschickt.

Die Arena: Lagerfeuer mit Ausstrahlung bis in die Social Media

Das rege Interesse spiegelt sich auch in den folgenden Zeitverläufen wider: Sind im Oktober noch durchschnittlich 217 Tweets pro Tag verschickt worden, so sind es im Januar bereits knapp 610 Tweets pro Tag. Einen vorläufigen Höhepunkt wurde in der Woche 44 im November 2017 erzielt: Damals fand die Arena zur Abstimmung statt. Vor dem lodernden «Lagerfeuer Fernsehen» haben sich während dieser Arena – zumindest für eine Stunde – Gegner und Befürworter versammelt, um dem Abstimmungskampf auf Twitter seinen bisher hitzigsten Höhepunkt zu schenken. Die Arena, ein Format aus der Ära des Röhrenfernsehgeräts, hat an dem Abend ein veritables Feuer der Deliberation im digitalen Raum entfacht.

Die aktivsten

Politische Lager

Wir haben uns auch angeschaut welche Bundesparlamentarierinnen und Parlamentarier sich auf Twitter äussern. Jene aus der SP sind am fleissigsten, dann folgen die von der SVP, welche wiederum vor der Grünen Partei sind. Es ist jedoch zu vermerken, dass die Volks- und Kantonsvertreter deutlich seltener als Medienschaffende tweeten (~700 Tweets).

Welche Journalisten besonders aktiv zwitscherten

Dank Dario Siegen und Adrian Rauchfleisch konnten wir zusätzlich untersuchen, welche Medienschaffenden sich zur Intiative mit diesem Hashtag äusserten.[1] Wie Sie der Rangliste entnehmen können, kann man sich streiten, wer als Medienschaffend gilt und wer nicht. Zum Beispiel stellt sich die berechtigte Frage, ob die Bezeichnung «Freischaffend» bereits zum Label «Journalist» reicht. Es zeigt aber auch, wie schwierig eine solche Klassifizierung ist. So oder so finden Sie untenstehend die Top 20 der Medienschaffenden.

Twitter-HandleProzent der Tweets
GregBarbey3.41%
FlorianSchwab3.34%
peter_schibli2.45%
AndreaChristen32.38%
sandroluescher2.14%
XavierBloch2.05%
AntonioCivile1.86%
juergvollmer1.81%
DennisBuehler1.72%
redder661.25%
miperrico1.20%
retoperitz1.20%
MichelVenetz1.15%
feusl1.13%
BornBeatrice1.03%
RaphAuberT1.03%
Frau_W0.96%
ZeitRauber0.94%
ChantalTauxe0.85%
RenatKuenzi0.82%
Welches Lager hat auf Twitter die Nase vorne?

Waren die Befürworter oder die Gegner auf Twitter aktiver? Dieser Blogpost stellt insofern eine Premiere dar, als dass wir mittels innotativer Werkzeuge versucht haben, Antworten auf diese Frage zu liefern. Tweets zu klassifizieren ist gegeben ihrer Kürze – meist unter 140 bis maximal 280 Zeichen – kein Kinderspiel. Insbesondere wenn für die Einordnung nur der Text selbst und keine zusätzlichen Kontextinformationen oder Angaben zu den Twitterern verwendet werden. Mit einem reduzierten Datensatz deutschsprachiger Tweets, in welchem wir vermeintliche Kontra- und Pro Tweets anhand gewisser Indizien (u.a. den Hashtags #NeinzuNobillag vs #JazuNobillag) kennzeichnen konnten, haben wir einen Machine Learning Algorithmus trainiert. Genaueres zum Verfahren, seinen Stärken und Schwächen gibt es im Abschnitt zur Methodik, weiter unten, zu lesen. Die Klassifizierung soll aufzeigen wie aktiv die beiden Lager über die Zeit waren.

Die Resultate des Modells weisen auf eine Aufholjagd der Initiativgegner hin. Gemessen an der Aktivität – also der Anzahl Tweets – haben die Initativbefürworter beim Hashtag #NoBillag die Nase vorne. Die Reichweite haben wir aus Zeitgründen (vorerst) ausgeklammert. Die Initiativbefürworter haben den Abstimmungskampf auf Twitter früh lanciert und scheinen zu Beginn noch auf wenig Gegenwehr gestossen zu sein. Die Präsenz der Befürworter nimmt jedoch laufend zu und es ist klar zu erkennen, zu welchem Zeitpunkt die Gegenkampagne an Fahrt aufgenommen hat. Der Anteil der befürwortend eingestuften Tweets steigt mit annäherndem Abstimmungstermin stark an. Im ursprünglichen Post wurden die Labels aus Versehen vertauscht, wofür wir uns entschuldigen möchten. Wir haben uns zu stark auf eine möglichst akkurate Klassifizierung der User konzentriert und haben die Abbildung des Zeitverlaufes aufgrund der knappen Zeit nicht genügend hinterfragt.

Wie akkurat ist unser Machine Learning Modell?

Unser Machine-Learning Modell klassifiziert die einzelnen Tweets anhand der Muster, die es im Text aufstöbert. Es bestimmt auf diese Weise, ob der Tweet eher dem Pro- oder Kontra NoBillag-Lager zuzuordnen ist. Die Grafik unten zeigt, wie die Tweets der Top-Twitterer klassifiziert wurden und zu welchen Anteilen Sie als Pro / Kontra klassifiziert wurden. Diejenigen mit einem Anteil über 50% an Kontra-Tweets befinden sich links, die mit mehr als 50% Pro-Tweets rechts. Die Grafik offenbart, dass wir anhand unseres Modells – welches nach wie vor ein Protoyp ist – von den 100 fleissigsten Twitternutzern die meisten richtig einordnen würden. Das Modell ordnet die Tweets der Initiativbefürworter etwas kosnistenter ein. Bei den Initiativgegnern wird eine höhere Zahl Tweets dem entgegengesetzten Lager zugeordnet. Daher gehen wir davon aus, dass die Kontra-Seite vom Algorithmus unterschätzt wird und die Anteile der zwei Lager daher weniger weit auseinander liegen, als die Grafik zu den Anteilen im Zeitverlauf oben suggeriert. In dieser Hinsicht besteht somit Optimierungspotential, welches wir bei nächster Gelegenheit durch ein feiner austariertes Modell auszuschöpfen gedenken.

Eine Schwäche unseres Modells ergibt sich daraus, dass wir das Modell zwingen eine binäre Entscheidung zu treffen. Dies führt dazu, dass die Tweets aller Nutzer einem der zwei Lager zugeordnet werden. Diese schwarz-weiss Einteilung wird der Realität nicht gerecht. Es gibt in der Debatte um NoBillag auf Twitter durchaus auch Stimmen mit differenzierten Ansichten, oder solche die lediglich Informationen teilen und als neutral eingestuft werden sollten. Diese Fälle lassen sich eigentlich nicht in eine der zwei Schubladen stecken. Eine dritte Kategorie für die nicht einwandfrei klassifizierbaren Fälle würde hier Abhilfe schaffen. Abschliessend gilt es jedoch zu sagen, dass die grosse Mehrheit in der stark polarisierten Debatte auf Twitter die eigene Position relativ deutlich preis gibt und das Modell – alles in allem – ziemlich gute Arbeit leistet.

NoBillag : droht die trumpisierung der schweizer Abstimmungsdemokratie?

Hitzige Abstimmungskämpfe sind per se nichts neues. Doch NoBillag setzt in punkto Intensität und Gehässigkeit gerade neue Massstäbe. Auf Twitter, dem digitalen Hauptschauplatz der politischen Auseinandersetzung, fliegen die Fetzen besonders häufig. Für einmal sind es nicht nur Trumps Tweets, welche die Schlagzeilen füllen, sondern auch Tweets im Zusammenhang mit NoBillag, die vermehrt als Vehikel für Beleidigungen und Ausfälligkeiten dienen. Ist NoBillag in dieser Hinsicht ein Sonderfall? Oder müssen wir im Rahmen der immer stärkeren Verlagerung des politischen Schlagabtausches in die digitale Arena mit aggressiver geführten Abstimmungskämpfen – quasi einer Trumpisierung unserer Abstimmungsdemokratie – rechnen? Die Antwort darauf steht (noch) in den Sternen geschrieben, doch werden wir auch in Zukunft weiterhin systematisch Twitter-Daten sammeln um Fragen dieser Natur nachgehen zu können.

Thomas Lo Russo und Thomas Willi

[1] Hier finden Sie Dario Siegen und hier Adrian Rauchfleisch.

Weitere Infos zum Modell

Die erste Bewährungsprobe für viele Machine Learning Modelle ist die Vorhersagepräzision, welche in einem Testdatensatz erreicht wird. Unser Modell erreichte eine Vorhersagepräzision von über 90%, was gegeben dem Umstand dass das Model über kein Kontextwissen verfügt – bescheiden ausgedrückt – ziemlich beeindruckend ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Generalisierbarkeit des Modells auf alle Tweets einwandfrei möglich und die Klassifzierung aller Tweets perfekt ist. Unser ‘Desicion-Tree’ Modell haben wir mit 9500 Tweets trainiert und anhand von 2300 Tweets getestet. Im Anschluss haben wir das Modell verwendet um die 30’000 deutschsprachigen Tweets zu klassifizieren, welche seit September 2017 abgesetzt wurden. Wie bereits weiter oben erwähnt scheint das Modell den Anteil an Kontra-NoBillag-Tweets zu unterschätzen, wie die Tweet-Anteile der Top-Twitterer verdeutlichen (siehe Grafik zu User-Anteilen).

Korrigendum

Wir haben das Script und die Daten für die zu Beginn erwähnte Grafik hier hochgeladen.

 

 

 

Die wahren Volksvertreter

Was würde sich ändern, wenn bloss Parteilose an Abstimmungen teilnehmen würden? Die Antwort lautet: So gut wie nichts. Denn Parteiungebundene stimmen in aller Regel so ab wie die Gesamtheit aller Stimmenden. Sie sind der perfekte Durchschnitt.

Bürgerinnen und Bürger mit einer starken Parteiverbundenheit wissen oft von Anfang an, wie sie bei einer Sachfrage entscheiden werden: Nämlich so, wie es ihre bevorzugte Partei empfiehlt. Nicht zwingend deshalb, weil sie die entsprechenden Parteiparolen gedankenlos umsetzen, sondern vielmehr weil sie die fundamentalen Wertvorstellungen ihrer Partei teilen. Denn es muss ja einen Grund geben, weshalb man sich just mit dieser und nicht einer anderen Partei identifiziert. Und dieser Grund dürfte oftmals darin liegen, dass die Parteisympathisanten sich mit den politischen Grundüberzeugungen ihrer bevorzugten Partei zu identifizieren vermögen. Gewiss, diese Übereinstimmung wird nicht bei allen Sachfragen gleich hoch sein, aber gerade bei den wichtigen politischen Themen der Zeit ist sie wohl gegeben.

So weit, so gut. Das Problem an den überzeugten Parteigebundenen ist, dass ihre Präferenzen häufig so vorhersehbar, unverrückbar und starr sind. Ihre Meinungen sind längst gemacht, bevor die Kampagnen loslegen. Was gut für Prognostiker ist – Abstimmungen, an denen nur solch disziplinierte Parteigebundene teilnehmen würden, wären sehr viel einfacher zu prognostizieren[2] – ist nicht sonderlich hilfreich für die Chancen von politischem Wandel: Gäbe es bloss dogmatische Parteisoldaten, die sich diszipliniert an die Parteilinie halten, so gäbe es keinen bzw. kaum einen politischen Wandel. Denn die Fronten zwischen den Parteien und den Parteianhängern sind bei politischen Kernfragen verhärtet und starr.

Wie wäre es, wenn wir bloss Parteiunabhängige abstimmen lassen würden?

Parteiunabhängige hingegen folgen keiner Ideologie und keinem unverrückbaren, politischen Überzeugungssystem, sondern sind flexibel und ungebunden. Wie üblich, kann man dieselbe Sache auch negativ sehen. In solch einem Fall würde man diese Flexibilität als «Beliebigkeit» oder «Wischi-Waschi» bezeichnen. Aber bleiben wir doch beim positiven Narrativ der Parteiungebundenen: Auf jeden Fall fällt bei Parteiungebundenen der Druck weg, die eigene Partei bei Sachabstimmungen – koste es, was es wolle – unterstützen zu müssen. Die Parteigebundenen sind da bekanntlich anders. Parteiidentifikation im Sinne der Vorväter des sozialpsychologischen Ansatzes[3] meint nämlich eine affektive, emotionale Bindung an die eigene Partei – ähnlich wie ein Fussballfan, der seit Kindesbeinen seinen Verein unterstützt, manchmal gar ohne sich zu erinnern, wo und wie seine Liebe zu diesem Verein begann (wahrscheinlich: intergenerationelle Transmission oder «Vererbung» sowohl des bevorzugten Fussballvereins wie auch der politischen Partei). Und wir alle wissen, dass Fussballfans ihr Team treu unterstützen, selbst dann, wenn es grottenschlecht, langweilig und ein völlig unattraktives Spielsystem spielt. Treue Fussballfans nehmen zudem jeden, noch so ungerechtfertigten Elfmeter gerne entgegen, falls er zum Sieg verhilft. Hauptsache gewonnen.

ParteiSOLDATEN sind wie Fussballfans

Nicht wenige Parteigebundene verhalten sich ähnlich. Sie wollen «ihr» Team, also ihre Partei, an der Abstimmung gewinnen sehen – und zwar häufig auch in jenen Fällen, in denen sie von der Kampagne oder Position ihrer Partei nicht wirklich überzeugt sind. In der Tat belegen Studien, dass im Konfliktfall – also wenn die eigene Überzeugung und die Parteilinie bei einer Sachfrage auseinander fallen – mehrheitlich der Parteilinie der Vorzug gegeben wird.[4] Und es gibt noch eine andere Parallele zur Fussballwelt: Parteigebundene wollen das gegnerische Team verlieren sehen. Ist eine Niederlage des Gegners manchmal nicht noch viel süsser als der Sieg der eigenen «Boys»? Was den Parteianhängern Glücksgefühle verschafft, muss aber nicht zwingend gut sein für die Politik. Denn dort geht es um konkrete Sachfragen, über die in einer modellhaften Demokratie nüchtern, rational, abwägend und unabhängig von Zugehörigkeitsgefühlen entschieden werden sollte.

Warum also nicht bloss die Parteiunabhängigen abstimmen lassen? Keine Bange, es ist bloss ein Gedankenexperiment. Selbstverständlich wäre eine solche Forderung absurd und völlig unrealistisch – wenngleich: derzeit sind auch andere, reichlich unrealistische Forderungen zur Reform der Demokratie ernsthaft im Gespräch (z.B. die Losdemokratie, Abkehr vom Prinzip «one (wo)man, one vote» und ein doppeltes Stimmrecht für «vernünftige» Stimmbürger, etc.). Und deshalb fragen wir mit gutem Gewissen: Wie stimmen die Parteiunabhängigen denn erfahrungsgemäss ab? Die Antwort ist doch etwas verblüffend: So wie die Gesamtheit der Stimmenden. Sie sind der perfekte Durchschnitt.

Wie die obige Abbildung zeigt, folgt die Regressionsgerade des Entscheids der Parteiunabhängigen beinahe haargenau der Anpassungslinie für alle Stimmenden. Mit anderen Worten: Meistens ist der Ja-Stimmenanteil unter den Parteiunabhängigen identisch oder zumindest in der Nähe des Zustimmungswertes aller Stimmenden. Das ist keineswegs überall so: Bei den vier Bundesratsparteien (siehe erste vier Panels der oberen Abbildung) verhält es sich beispielsweise anders. Ihre Anhängerschaften stimmen zum Teil ganz anders ab als die Gesamtheit der Teilnehmenden. Selbst die CVP, die regelmässig Auszeichnungen dafür erhält[5], mit ihren Parteiparolen am nächsten beim tatsächlichen Stimmentscheid gelegen zu haben, ist – was «Volksnähe» betrifft – meilenweit von den Parteiunabhängigen entfernt. Die Parteiunabhängigen sind die viel repräsentativere Miniaturversion des Elektorats als jede andere Parteianhängerschaft.

Die Antwort ist verblüffend: Sie sind der perfekte Durchschnitt.

Das hat zunächst einmal ganz profane, mathematische Gründe: Denn die Gruppe der Parteiunabhängigen ist oftmals die zahlenmässig grösste Gruppe unter den Stimmenden. «Oftmals» deshalb, weil ihr Anteil am Stimmkörper ziemlich stark variiert – einerseits abhängig von der Definition dessen, was ein Parteigebundener ist[6] und andererseits auch abhängig davon, wann[7] und wie[8] gemessen wird. Im Schnitt beläuft sich der Anteil Parteiungebundener im Stimmkörper zwischen rund 20-45 Prozent. Es leuchtet wohl sofort ein, dass der Entscheid der (vielfach) grössten Gruppe unter den Stimmenden, also den Parteiunabhängigen, logischerweise auch am gewichtigsten in den Entscheid aller Stimmenden einfliesst. Aber so gross ist die Gruppe der Parteiunabhängigen auch wieder nicht, dass sie den Entscheid der Gesamtheit gleichsam determinierten würde. Wie gesagt, zuweilen sind sie noch nicht einmal die zahlenmässig grösste elektorale Gruppe. Der Grund für die starke Übereinstimmung zwischen dem Entscheid der Gesamtheit und dem Entscheid der Parteiunabhängigen liegt somit auch zu einem erheblichen Teil daran, dass sie im Aggregat den perfekten oder gutschweizerischen Durchschnitt bilden. Das wiederum bedeutet, dass sie demnach auch kein allzu starker Treiber für politischen Wandel sein können. Das ist möglicherweise mit ein Grund dafür, dass die politische Schweiz so stabil ist.

Thomas Milic und Thomas Willi

[1] Foto: Keystone

[2] Man stelle sich beispielsweise vor, dass bei einer Europa- oder migrationspolitischen Vorlage nur die Anhängerschaften der SP und SVP teilnehmen würden. In solch einem Fall könnte man schlicht die Wähleranteile der beiden Parteien auf den Stimmkörper übertragen und hätte – übergespitzt formuliert – das Ergebnis schon.

[3] Angus Campbell, Philip Converse, Warren Miller, and Donald Stokes. Siehe dazu ihr bahnbrechendes WerkThe American Voter.

[4] Siehe dazu beispielsweise Dalton 2002, Milic 2008, 2010, Selb et al. 2009, Sciarini und Tresch 2009.

[5] Lesen Sie hier mehr dazu.

[6] Wofür steht Parteigebundenheit oder Parteiidentifikation? Wie gesagt, die Begründer dieses Konzepts, die Autoren des American Voter, definierten Parteiidentifikation als affektive, stabile Bindung zu einer Partei, die aber nicht zwingend übereinstimmen muss mit der Wahl dieser Partei. In den USA wird dieses Konstrukt mittlerweile zumeist in der Form einer Likert-Skala gemessen mit den Polen Republikaner und Demokraten, wobei es dazwischen graduelle Ausprägungen der Verbundenheit gibt. Beispielsweise werden Personen, die sich häufig erst auf ein wiederholtes Nachfragen hin zu einer Partei bekennen, als «Leaners» bezeichnet. In der Mitte dieser Skala sind die Independents, die sich keiner Partei zugehörig fühlen. In der Schweiz wird die Parteigebundenheit mit unterschiedlichen Fragen gemessen. In diesen Frageformulierungen kommen unterschiedliche Sichtweisen davon, was die Parteisympathie bedeutet, zum Ausdruck. Deshalb variieren die Anteile der Parteiungebundener zwischen den Erhebungen zum Teil drastisch.

[7] Kurz vor und unmittelbar nach den Wahlen ist der Anteil Parteigebundener jeweils höher.

[8] Es gibt nicht nur unterschiedliche Formulierungen, um die Parteiidentifikation zu messen. Auch die Strategien unterscheiden sich: Bei gewissen Befragungen wird bei jenen, die auf die erste Frage nach der Parteiidentifikation mit “keine Partei” oder «Weiss nicht» antworteten, jeweils nachgefragt, ob es nicht doch eine Partei gibt, der man nahe steht. Bei anderen Befragungen wird darauf verzichtet. Es ist aber klar, dass der Anteil Parteiungebundener bei der ersten Strategie geringer ist als bei der zweiten Strategie.

Von der Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger

Oft wird spekuliert, ob die steigende Anzahl und Komplexität von Abstimmungsvorlagen zu einer Überforderung der StimmbürgerInnen führt. Im Rahmen einer Forschungsarbeit konnte Thomas Reiss nachweisen, dass die Überforderung mit Zunahme der Anzahl Vorlagen einhergeht. Der vorliegende Gastbeitrag zeigt, dass das negative Auswirkungen auf den Stimmentscheid hat.

Die Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 hat aufgrund der Komplexität der Vorlage eine alte Frage neu gestellt: Was bedeutet eine allfällige Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für den Stimmentscheid?[2] Nicht nur die Komplexität einer Vorlage, sondern auch die Anzahl Vorlagen, über die an einem Abstimmungssonntag befunden wird, erhöhen den  Informationsaufwand für die Abstimmenden. Nicht zu Unrecht wurde die Schweiz auch schon «the unchallenged champions in national referendums»[3] genannt, wobei diese Aussage die föderalen Ebenen der Kantone und Gemeinden, auf denen oft parallel zu den nationalen Vorlagen auch Abstimmungen stattfinden, nicht einmal in Betracht zieht. Die Frage stellt sich also, ob Bürgerinnen und Bürger überfordert sind, und wenn ja, inwiefern sich das auf ihren Stimmentscheid auswirkt.

Für diese Forschungsarbeit interessiert mich vor allem die Anwendung der sogenannten Status Quo-Heuristik, eine Entscheidhilfe, die vor allem von schlecht informierten Abstimmenden verwendet wird. Diese wissen oft nicht was die Konsequenzen der Annahme einer Vorlage sind. Wenn sich eine Person kein Bild über die Folgen einer Annahme einer Vorlage machen kann, tendiert sie eher dazu die Vorlage abzulehnen, denn die Folgen der Ablehnung, den Status Quo, kennt sie besser.[4]

Zur Beantwortung der Frage, ob schlecht informierte Personen eher Nein stimmen als gut informierte, habe ich sämtliche Abstimmungen von Januar 2009 bis und mit Juni 2016 anhand Vox und VoxIt Daten untersucht.

Um als gut informiert zu gelten, musste die Person in der Lage sein den Inhalt sowie einen Grund angeben zu können. Um in die mittlere Kategorie zu fallen, mussten die TeilnehmerInnen entweder den Inhalt oder einen validen Grund angegeben haben, solche die weder noch angeben konnten, wurden als schlecht informiert codiert.

Die erste Grafik zeigt die vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten, ob eine Person in eine der drei Kategorien der Informiertheit fällt, für alle drei Arten von Vorlagen. Grün steht für gut informierte, gelb für mittel informierte und rot für schlecht informierte Personen. Einerseits fällt auf, dass eine grosse Mehrheit gut informiert war (grün), andererseits ist klar zu erkennen, dass mit einer zunehmenden Anzahl Vorlagen pro Abstimmungstermin die Wahrscheinlichkeit in die Kategorie gut informiert zu fallen abnimmt, während umgekehrt die Wahrscheinlichkeit in die mittlere Kategorie (gelb) oder in die schlecht informierte Kategorie (rot) zu fallen, steigt. So waren bei der Milchkuh-Initiative am 5. Juni 2016, als über fünf nationale Vorlagen abgestimmt wurde, lediglich 58.6% der Personen aus der Vox Stichprobe gut informiert und 13.9% schlecht informiert. Bei der Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» über die am 13. Februar 2011 als einzige Vorlage abgestimmt wurde, waren 89.1% gut informiert und nur 0.5% schlecht informiert. Zusätzlich fällt auf, dass die Informiertheit bei fakultativen Referenden am grössten ist und bei obligatorischen Referenden am tiefsten. Wenn also von Gesetzes wegen abgestimmt wird, wissen Stimmende wenig über den Inhalt der Vorlage. Fakultative Referenden sind häufig konfliktiver, da ein Akteur es aktiv verlangen muss, was mit hohen Kosten verbunden ist. Deshalb werden fakultative Referenden nur ergriffen, wenn der Akteur sich realistische Chancen auf Erfolg ausrechnet. Da die Abstimmung als knapp antizipiert wird, wird die Kampagne auf beiden Seiten intensiviert, was die höhere Informiertheit erklärt. Um zur Ausgangsfrage zurückzugehen: Die Abstimmenden sind insofern mit dem Inhalt der Vorlagen überfordert, dass ihr vorlagen-spezifisches Wissen mit einer zunehmenden Anzahl an Vorlagen abnimmt.

Die zweite Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeit für jede Ausprägung der Informiertheit auf den Stimmentscheid für die drei Vorlagentypen. Personen mit schlechter Informiertheit weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich für ein Nein zu entscheiden, als Personen, die gut informiert waren. Die Zustimmung für Initiativen ist in zweiten Grafik viel tiefer als für obligatorische Referenden, was auf darauf zurückzuführen ist, dass Initiativen oft von politischen Aussenseitern kommen, und deshalb selten angenommen werden. In obligatorischen Referenden hingegen ist die Zustimmung relativ gross, da es oft konfliktarme Vorlagen sind, die häufig angenommen werden. Dies deutet darauf hin, dass selbst schlecht informierte Personen nach Vorlagenart unterscheiden können, und so die einheitlichen Elitensignale bei obligatorischen Referenden erkennen und entsprechend stimmen.

Die Anzahl Vorlagen pro Abstimmungssonntag hat einen direkten Einfluss auf die Informiertheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, wobei diese wiederum einen Einfluss auf die Annahme bzw. Ablehnung einer Vorlage hat. Wir können also festhalten, dass eine gewisse Überforderung festzustellen ist und sich diese negativ auf den Stimmentscheid auswirkt.

Thomas Reiss

Thomas Reiss studiert Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

[1] Parolen für eidgenössische Urnengänge werden in der Regel von den Delegiertenversammlung gefasst. Zuweilen formulieren aber auch andere Organe Empfehlungen (z.B. Zentralvorstand bei der SVP, etc.).

[2] Die NZZ zur Überforderung.

[3] Christin, Thomas, Simon Hug, and Pascal Sciarini. 2002. Interests and information in referendum voting: An analysis of Swiss voters. European journal of political research 41: 759–776.

[4] Kriesi, Hanspeter. 2005. Direct democratic choice: The Swiss experience. Political Science. Lanham, Md: Lexington Books.

[5] Foto | Flickr