Die Anhänger der Schweizer Polparteien SP und SVP unterscheiden sich fundamental: Während bei Kernthemen SP-Sympathisanten in Scharen zu den Gegnern überlaufen, kann die SVP bei ihren Hauptanliegen auf Unterstützung der Basis zählen.
Die SP hat ein Problem. Bei eigenen oder generell linken Initiativen stimmen ihre Anhänger oft nicht parteikonform. Das heisst, das Abstimmungsverhalten der Parteibasis weicht stark von der nationalen Parteiparole ab. Das gilt vor allem für die eigentlichen Kernthemen der SP: Wirtschafts- und Sozialfragen.
Bei der 1:12-Initiative hielten sich beispielsweise lediglich etwa zwei von drei SP-Sympathisanten und bei der Mindestlohn- und der Gesundheitsinitiative sogar nur etwas mehr als jeder Zweite an die Parole der Partei. Obwohl die SP-Spitze auf einer Linie war. Ein interner Zwist erklärt die Abweichung nicht. Bei den drei Abstimmungen wich keine einzige kantonale Sektion von der nationalen Empfehlung ab. Trotzdem liefen die SP-Anhänger in Scharen ins Lager der Gegner über.
Abstimmungen sind ein Stimmungstest. Sie zeigen, wie sehr die Wählerschaft der eigenen Parteilinie folgt – oder eben nicht. Die Parteilinie wird dabei durch die Abstimmungsparole vorgegeben. Die Parolen widerspiegeln aber primär die Haltung der Parteieliten und nur beschränkt jene der Parteibasis. Wie die Basis über eine Sachfrage denkt, zeigt sich erst am jeweiligen Abstimmungssonntag. Die Abstimmungsforschung in der Schweiz hat gezeigt, dass Parteisympathisanten sich zwar oft an der Parole ihrer bevorzugten Partei orientieren, aber längst nicht immer.
Während die SP Mühe hat, die Basis bei eigenen Anliegen auf der Parteilinie zu halten, ist die Stimmdisziplin hoch, wenn es sich um rechte Initiativen oder Referenden handelt. Gegen den politischen Gegner sind die Reihen geschlossen und SP-Sympathisanten weichen kaum von der Parole ab, wenn Anliegen aus rechten Kreisen, vor allem der SVP kommen. Ergreift die SP aber zu gleichen Themen ein Referendum – zum Beispiel gegen eine Verschärfung des Ausländer- oder Asylrechts, bröckelt dieser Zusammenhalt bereits wieder. Die SP braucht offenbar ein klares «Feindbild», um einheitlich zusammenzustehen.
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Im Gegensatz zur SP hat die SVP wenig Probleme, ihre Sympathisanten bei Kernfragen auf Kurs zu halten. Bei Abstimmungen über eigene Initiativen in der Ausländer- und Aussenpolitik sind die Annahmeraten bei der SVP-Wählerschaft fast schon phänomenal hoch. Das gilt auch dann, wenn die SVP Referenden in diesem Themenbereich ergreift.

Bei linken Referenden im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat die SVP hingegen Mühe, ihre Basis von der Parteimeinung zu überzeugen – genauso wie die SP, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Dies hat beim Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) zur verblüffenden Situation geführt, dass SVP-Anhänger das Liberalisierungsprojekt stärker bodigten als SP-Anhänger. Bei anderen linken Referenden wie dem BVG-Umwandlungssatz oder den Öffnungszeiten der Tankstellenshops lagen die Nein-Anteile von SP- und SVP-Anhängern zumindest nahe beieinander.
Gering ist die Parolenkonformität bei der SVP ausserdem bei Abstimmungen, bei denen alle grösseren Parteien dieselbe Parole wie die SVP fassen. Während sich die anderen Wählerschaften meistens an diese Empfehlung halten, weichen die SVP-Wähler vergleichsweise oft davon ab.
Die Gründe dafür sind im gesellschaftlichen Strukturwandel und der Veränderung der Parteienlandschaft zu suchen. Die tieferen Einkommensschichten, einst die treue Klientel der Sozialdemokratie, wählen heute häufiger SVP als SP.[1] Sie tun dies nicht wegen, sondern trotz der Sozialpolitik der SVP. Denn ausschlaggebend für die Wahl einer Partei ist bei den Büezern nicht etwa die Sozialpolitik, sondern immer häufiger die Ausländer- und Aussenpolitik.
Die Wählerschaft der SP wiederum setzt sich zu einem erheblichen Anteil aus sogenannten «sozio-kulturellen Spezialisten» zusammen. Dies sind beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer, Journalisten und Journalistinnen oder im Gesundheits- und Sozialwesen tätige Personen. Diese Berufskategorien wählten früher noch stärker bürgerlich. Mittlerweile wählen sie meist links, hauptsächlich aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Überzeugungen.
Weil viele SP-Wählende mittlerweile zu den besser Verdienenden zählen, unterscheiden sich ihre materiellen Interessen zudem zusehends von der offiziellen Sozial- und Wirtschaftspolitik der SP, was die Partei bei eigenen Initiativen vor Probleme stellt. Die Gefolgschaft bröckelt.
Dieser Artikel wurde als Gastbeitrag auf dem Datenblog des Tages-Anzeiger veröffentlicht.[2]
[1] Mehr Informationen dazu finden Sie hier.
[2] Hier geht es zum Artikel im Datenblog.
Zum methodischen Vorgehen:
Wie fast immer bei Datenauswertungen handelt es sich um eine Abstraktion der Realität, welche mit gewissen Unsicherheiten einhergeht. Folgende Punkte sollten Sie auf jeden Fall beachten:
- Berücksichtigt wurden alle Vox-Umfragen seit 1999.
- Wie immer bei Umfragen handelt es sich bei den ausgewiesenen Werten um Schätzungen. Schätzungen sind aber mit Unsicherheiten behaftet. Eine relevante Kennzahl ist dabei die Fehlermarge. Diese ist von verschiedenen Parametern abhängig und beträgt für die hier untersuchten Fälle durchschnittlich etwa acht Prozentpunkte.
- Wenn Sie die Fehlermarge kennen, können Sie das Intervall, in welchem der reale Wert mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent liegt, ausrechnen. Dazu addieren sie die Fehlermarge zum ausgewiesenen Schätzwert, womit sie die Obergrenze des 95-Prozent-Vertrauensintervalls erhalten. Anschliessend subtrahieren sie die Fehlermarge vom Schätzwert und erhalten die entsprechende Untergrenze.
- Die Fehlergrenze variiert zwischen den einzelnen Abstimmungen. Wir bitten Sie deshalb, die jeweiligen Werte zur Kenntnis zu nehmen. Diese erfahren Sie, wenn Sie über die Schätzpunkte in der interaktiven Grafik fahren.
- Die Einteilung der einzelnen Vorlagen in ein Politikfeld beruht auf der Arbeit von Politikwissenschaftler Hans-Peter Kriesi. Wir haben diese Einteilung vereinfacht, indem wir einzelne Kategorien zusammengelegt haben.