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Foto: Judit Klein [1]

Geschenke motivieren kaum zur Teilnahme an Gemeindeversammlungen

Die Teilnahmezahlen an Schweizer Gemeindeversammlungen sind seit Jahren rückläufig. Doch, was bringt Stimmberechtigte dazu, überhaupt an der lokalen Demokratie teilzunehmen? Der Gastbeitrag von Alexander Haus und Philippe E. Rochat geht dieser Frage nach und berichtet mit einem methodischen Schwerpunkt von ihrer Fallstudie in Richterswil (ZH).

Weil die Teilnahmewerte stetig sinken, sehen sich zahlreiche Gemeinden veranlasst, Massnahmen zur Erhöhung der Besucherzahlen zu ergreifen.[2] Mit Aktionen wie Apéros, Gutscheinen usw. wird unter anderem versucht, die Stimmberechtigten vermehrt zur Teilnahme an Versammlungen zu bewegen. Doch was bringen solche Aktionen? Mit welchen Massnahmen könnte sich die Beteiligung steigern lassen und wo liegen die Grenzen?

Anwendung eines experimentellen Verfahrens

Im Rahmen der Umfrage bei der Stimmbevölkerung der Gemeinde Richterswil wurden im Frühjahr 5‘000 Personen angeschrieben, wovon 1‘638 den Fragebogen beantworteten. Um festzustellen, was die Teilnehmenden und die Nicht-Teilnehmenden einer Versammlung in Richterswil motiviert respektive davon abhält, sich zu beteiligen, enthielt der Fragebogen ein experimentelles Design.[3] Die Befragten mussten sich jeweils für die hypothetische Teilnahme an einer von zwei fiktiv beschriebenen Gemeindeversammlungen entscheiden. Die paarweise vorgestellten Versammlungen unterschieden sich hierbei teilweise oder vollständig in sieben Punkten:

  • Mit der Teilnahme verbundene Annehmlichkeiten
  • Aufforderung zur Teilnahme
  • Dauer
  • Vorabinformationen der Gemeinde zur Versammlung
  • Art der Stimmabgabe
  • Zeitpunkt
  • Hauptthema der Versammlung
Mit dem Experiment näher an der «Realität»?

Die Verwendung des erwähnten experimentellen Verfahrens hat verschiedene Vorteile. Zum einen kommt es einem realen Teilnahmeentscheid näher, als blosses Abfragen einzelner Entschlussfaktoren. Die befragte Person muss im besagten Experiment anhand verschiedener Merkmale gesamthaft – das heisst ähnlich einer Einladung zu einer Gemeindeversammlung – abwägen, ob sie an einer Versammlung partizipieren will oder nicht. Zum anderen lässt sich mit diesem Verfahren aufzeigen, welche der Merkmale beim Partizipationsentscheid im Verhältnis zu den übrigen Merkmalen eine besonders wichtige oder eine eher untergeordnete Rolle spielen. Das erwähnte Verfahren kann zudem das Risiko einer Verzerrung der Resultate durch soziale Erwünschtheit begrenzen.[4] Die gesamthafte Betrachtung einer Gemeindeversammlung verhindert eine direkte Abfrage von einzelnen Faktoren, welche potentiell verzerrende Antworten generieren, wie zum Beispiel die Frage nach der Beteiligungsmotivation durch materielle Anreize.

Der Nachteil des beschriebenen Experiments besteht darin, dass das Verfahren nur eine limitierte Zahl von Entscheidungsfaktoren mit einbeziehen kann. Diese sind zudem hypothetisch formuliert und ohne nähere Angaben präsentiert. Das expermientelle Verfahren bildet somit die Realität nicht vollständig ab, was bei der Interpretation der Resultate entsprechend zu berücksichtigen gilt.

Das experimentelle Verfahren kann das Risiko einer Verzerrung der Resultate durch soziale Erwünschtheit begrenzen.
Von Annehmlichkeiten unbeeindruckt  

Die Resultate der Analyse zeigen, dass sich die Gruppe der Nicht-Teilnehmenden von Annehmlichkeiten, welche mit dem Besuch einer Versammlung verbunden wären, nicht beeindrucken lässt (Grafik «Nicht-Teilnehmende»). Weder die Aussicht auf einen Apéro noch die Abgabe von Geschenken erhöhen ihre Motivation, sich an einer Gemeindeversammlung zu beteiligen. Auch die Umstellung von einer offenen zu einer geheimen Stimmabgabe hätte keine positive Wirkung auf das Teilnahmeverhalten. Wer nicht teilnehmen will, lässt sich nicht beirren. Eine negative Auswirkung auf das Partizipationsverhalten haben Massnahmen wie eine Verschiebung der Versammlung auf das Wochenende (Ausnahme: Samstagvormittag) oder eine Umstellung des gedruckten Weisungshefts auf Online-Vorabinformationen. Die Abwesenden neigen vor allem dann teilzunehmen, wenn sie von ihnen nahestehenden Personen (Partner/ Partnerin, Freunde, Bekannte) dazu aufgefordert würden und/oder wenn die Versammlung die Finanzen der Gemeinde behandeln würde (Budget, Steuerfuss). Diese Faktoren lassen sich jedoch nur begrenzt mit Massnahmen beeinflussen.

Aktionismus wirkt eher kontraproduktiv

Das Verteilen von Geschenken käme bei den Teilnehmenden schlecht an (Grafik «Teilnehmende»). Ihre Beteiligungsmotivation würde angesichts einer solchen Aktion sinken. Massnahmen wie der Wechsel zu geheimer Stimmabgabe, die Verschiebung der Versammlung auf das Wochenende sowie die Vorabinformation via Youtube-Video würden die Teilnehmenden ebenfalls eher von einer Beteiligung abhalten. Eine Teilnahmeaufforderung durch Vereine wird von Besuchern von Gemeindeversammlungen ebenfalls nicht goutiert.

Weiter zeigen die Resultate, dass bei der Gruppe der Teilnehmenden die Versammlungsdauer keinen signifikanten Einfluss auf die Beteiligungsneigung hat, während bei den Nicht-Teilnehmenden mit jeder zusätzlichen Stunde die Teilnahmebereitschaft abnimmt. Die Teilnehmenden partizipieren unabhängig davon, ob das Thema komplex umstritten oder überschaubar ist. Offensichtlich begeben sie sich vor allem aus intrinsischen Motiven (Interesse an lokaler Politik, Bürgerpflicht) an Versammlungen, während sich die Nicht-Teilnehmenden selektiv nach Thema und/oder durch die Aufforderung nahestehender Personen beteiligen.

Die Resultate der Studie zeigen folglich, dass die Möglichkeiten, die Versammlungsbeteiligung zu erhöhen, in Richterswil begrenzt sind. Böte man Geschenke an oder eine vordergründig «unterhaltsamere» Art der Vorabinformation, besteht sogar die Gefahr, dass die Beteiligung dadurch weiter reduziert wird. Ein möglicher Ansatz zur Steigerung der Teilnahme wäre, wenn es den Behörden und lokalen politischen Akteuren (Parteien,  Verbände, etc.) gelingt, das Politikinteresse der Stimmberechtigten vermehrt zu wecken. Demokratische Institutionen – wie die Gemeindeversammlung – setzen lebhafte Auseinandersetzungen und intensive Kontroversen voraus. Diese müssen von den politischen Akteuren mit Mut und Energie geführt werden.

Alexander Haus und Philippe E. Rochat

Alexander Haus, MA Politikwissenschaft, ist Doktorand am IDHEAP, Universität Lausanne und Philippe E. Rochat promoviert am Zentrum für Demokratie Aarau. Die ganze Studie finden Sie hier.

[1] Foto: Flickr | Judit Klein

[2] Ladner, Andreas (2016): Gemeindeversammlung und Gemeindeparlament. Überlegungen und empirische Befunde zur Ausgestaltung der Legislativfunktion in den Schweizer Gemeinden, Lausanne: Cahier de l’IDHEAP 292/2016.

[3] Die Conjoint Analysis ist eine experimentelle statistische Methode, die kausale Effekte mehrerer Komponenten simultan zu identifizieren vermag. Während in traditionellen, experimentellen Untersuchungen ein interessierendes Merkmal («Treatment») als eindimensionaler Indikator in die statistische Analyse einfliesst, wird hier der Mehrdimensionalität des Versammlungssystems Rechnung getragen, indem die Teilnahmewahrscheinlichkeit auf verschiedene Komponenten und deren Ausprägungen heruntergebrochen wird.

[4] Soziale Erwünschtheit beschreibt ein Phänomen in Umfragen, bei welchem die Befragten Antworten bevorzugen, von denen sie glauben, sie träfen eher auf die soziale Stimmung einer Gesellschaft zu. Dies ist zum  Beispiel bei Nachwahlbefragungen zu beobachten, bei welchen Personen dazu neigen, eine Teilnahme an den Wahlen anzugeben obwohl sie effektiv nicht gewählt haben.