
Die Schweizer unterschätzen gemäss einer wissenschaftlichen Studie die Einkommensungleichheit in ihrem Land. Die Resultate der Studie legen nahe, dass gerade deswegen Umverteilungsbestrebungen wie die Erbschaftssteuerinitiative in Volksabstimmungen regelmässig Schiffbruch erleiden. Doch sie greift letztendlich etwas zu kurz.
Gemäss einer repräsentativen Umfrage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) glaubt eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung, dass die reichsten 20 Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Privatvermögens besitzen. Damit unterschätzen die Schweizer die Vermögensungleichheit krass. Tatsächlich sind es nämlich gerademal die reichsten zwei Prozent, die ein fünftel des gesamten Privatvermögens besitzen.
Fehleinschätzung weit verbreitet
Mit ihren Fehleinschätzungen zur Vermögens- und Einkommensverteilung stehen die Schweizer keinesfalls alleine da. Der russische Ökonom Vladimir Gimpelson und der amerikanische Politologe Daniel Treisman haben untersucht, inwiefern die von den Bürgern wahrgenommene Ungleichheit mit der Realität in 40 Ländern übereinstimmt. Sie kommen zum Schluss, dass Fehleinschätzungen zum tatsächlichen Grad der Ungleichheit weit verbreitet sind. Ihre These ist, dass lediglich die wahrgenommene Einkommensungleichheit – und nicht die tatsächliche Ungleichheit – Einfluss darauf haben, ob Individuen staatliche Umverteilung befürworten oder ablehnen. In Staaten wo breitere Schichten der Gesellschaft die Kluft zwischen Reich und Arm als besonders gross erachten, erwarten sie höhere Zustimmung zu staatlichen Korrekturmassnahmen. In ihrer Studie zeigen sie auf, dass sich diese These statistisch bekräftigen lässt.
Ist es wirklich die Wahrnehmung Oder zählt das Einkommen der Ärmsten?
Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker an den Universitäten Basel und Zürich, kritisiert die genannte Studie.[2] Die Resultate seien «kaum wasserdicht». Die Studie konzentriere sich nur auf die relativen Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich innerhalb von Staaten. Was jedoch wirklich zähle, sei die Höhe des Einkommens der unteren Einkommensklassen. Gerade in den reicheren OECD Staaten verfügen diese Gesellschaftsschichten schliesslich über wesentlich höhere Einkünfte. Straumanns Argument ist einleuchtend. Wenn die unteren Einkommensschichten über genügend Mittel verfügen um ihr Leben selber zu meistern, mögen sie sich materiell weniger benachteiligt fühlen. Erwartungsgemäss sollten diese Schichten dann auch die politische Ordnung weniger stark hinterfragen und weniger bestrebt sein, Umverteilung von oben nach unten zu fordern. Greift das Einkommensargument weit genug? Ist es lediglich die Höhe des Einkommens der unteren Schichten, die ausschlaggebend ist?
Sozialer Fortschritt und Zustimmung zu staatlicher Umverteilung
Eine erweiterte Erklärung ist im Erfolg einer Gesellschaft zu sehen, wie sie ökonomischen Fortschritt in tatsächliches Wohlbefinden aller Mitglieder umzumünzen vermag. Schliesslich garantieren höhere Einkommen nicht zwingend, dass alle Individuen gleiche Chancen und Möglichkeiten haben. Kann das allgemeine Wohlbefinden etwas zur Erklärung der unterschiedlich hohen Zustimmung zu staatlicher Umverteilung beitragen? Hierzu bietet es sich an, den innovativen Social Progress Index (SPI) hinzuzuziehen. Der SPI misst den sozialen Fortschritt eines Landes. Er definiert Fortschritt nicht anhand ökonomischer Inputs sondern tatsächlicher Ergebnisse (genaueres dazu in der Infobox unten). Im Endeffekt soll der SPI die Frage beantworten, ob die Früchte des ökonomischen Wohlstands eines Landes so genutzt werden, dass sich das Wohlbefinden aller erhöht.
Tatsächlich scheint mit sozialem Fortschritt die Zustimmungsrate zu staatlicher Umverteilungspolitik tendenziell zu sinken. Die Schweiz erreicht einen sehr hohen SPI-Wert (3. Platz), während ihre Zustimmungsrate zu staatlicher Umverteilung unter den tiefsten ist. Es ist somit wenig verwunderlich, dass die Verfechter staatlicher Umverteilung hierzulande in Volksabstimmungen einen schweren Stand haben. Ähnlich verhält es sich im Falle der skandinavischen Länder, welche im SPI Ranking ebenfalls sehr gut abschneiden. Die Schweden (2.), welche eigentlich für eine äusserst progressive Umverteilungspolitik bekannt sind, weisen ein nur geringfügig höheres Zustimmungsniveau auf. Die Norweger (1.) zeigen hingegen noch deutlich weniger Begeisterung für staatliche Intervention in Verteilungsfragen. Die Befürworter staatlicher Eingriffe sind in den Süd- und Osteuropäischen Staaten um einiges zahlreicher. Es sind jene Staatern, welche gemessen am SPI weniger fortschrittlich sind.

Wenn der nationale Wohlstand vielen zugutekommt, erlischt der Robin-Hood-Impuls
Eine plausible Begründung für diesen Zusammenhang ist, dass sich in den fortschrittlicheren Staaten breitere Schichten am wirtschaftlichen Erfolg ihres Landes beteiligt fühlen. In diesen Gesellschaften werden die Symptome exzessiver Ungleichheit weniger perzipiert oder zumindest als weniger problematisch erachtet. In der Bevölkerung mag die Auffassung, in einem sozial gerechten, fairen System zu leben, verbreiteter sein. Die Notwendigkeit, die Vermögenden stärker zur Kasse zu bitten um Geld nach unten zu transferieren, mag von vielen daher als geringer eingeschätzt werden.
Aber bekräftigen weiterführende Analysen diese Aussage? Erwartungsgemäss sollten gerade die Menschen, welche am stärksten von einem progressiven Wohlfahrtsstaat profiteren, Umverteilung am vehementesten befürworten. Dies trifft besonders im Falle der innerhalb einer Gesellschaft schlechtest gestellten Individuen zu. Um zu prüfen, ob dies zutrifft, kann die Unterscheidung zwischen «Arbeitsmarkt- In- und Outsidern» hinzugezogen werden. [3]
In fortschrittlicheren Staaten fehlt sogar den «Outsidern» der Wille den Reichen zu nehmen
«Arbeitsmarkt-Outsider» weisen ein besonders hohes Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko auf. Oftmals finden sich «Outsider» in atypischen, prekären Arbeitsverhältnissen wieder und sind daher besonders auf das Auffangnetz des Wohlfahrtstaates angewiesen. «Outsider» sollten Umverteilung daher stärker Befürworten als «Insider», welche sichere, gut bezahlte Jobs haben und generell besser abgesichert sind. Diese Erwartung trifft jedoch nur begrenzt zu. Anhand der Daten des European Social Survey (ESS) kann die Wahrscheinlichkeit berechnet werden, dass Individuen mit gewissen sozioökonomischen Merkmalen Umverteilungsbestrebungen befürworten oder nicht. Der Kontext ist nämlich ausschlaggebend. Während in Staaten mit tiefem SPI in der Gruppe der Outsider die «starker Zustimmung» zu staatlichen Eingriffen in die Vermögensverteilung signifikant höher ausfällt als in der Gruppe der Insider, ist ein solcher Unterschied zwischen diesen zwei Gruppen in den fortschrittlicheren Staaten nicht auszumachen. Die untenstehende Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeiten an, dass In- und Outsider in verschiedenen mit steigendem SPI Umverteilung zustimmen oder ablehnen.
Kommt uns mit ansteigendem Wohlbefinden, trotz der sich akzentuierenden Ungleichheiten, der Robin-Hood Impuls – notabene die Lust nach Umverteilung – abhanden? Gut möglich. Auch im Schweizer Fall könnte dies zur Erklärung der fehlenden Lust nach Politikrezepten wie der Erbschaftssteuer beitragen.
Infobox: Der Social Progress Index (SPI)
Ein Team um Harvard Professor Michael E. Porter hat den SPI als Ergänzung zum BIP ins Leben gerufen. Der Index bewertet Staaten anhand dreier Teilindizes (Basic Human Needs, Foundations of Wellbeing und Opportunity). Wichtige Aspekte welche für die Bewertung hinzugezogen werden sind u.a. die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum, medizinische Versorgung, Zugang zu Wasser und Strom, Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Freiheits- und Wahlrechte, Toleranz oder Zugang zu Bildung und Information. Das Team um Porter zeigt anhand des Index auf, dass sich ein höheres BIP pro Kopf nicht zwangsläufig positiv auf all diese Bereiche auswirkt.
http://www.socialprogressimperative.org/
Hier geht es zur erwähnten Studie im Lead.
[1] Foto: Tony Blay|Flickr