Die Schweizer unterschätzen gemäss einer wissenschaftlichen Studie die Einkommensungleichheit in ihrem Land. Die Resultate der Studie legen nahe, dass gerade deswegen Umverteilungsbestrebungen wie die Erbschaftssteuerinitiative in Volksabstimmungen regelmässig Schiffbruch erleiden. Doch sie greift letztendlich etwas zu kurz.
Gemäss einer repräsentativen Umfrage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) glaubt eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung, dass die reichsten 20 Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Privatvermögens besitzen. Damit unterschätzen die Schweizer die Vermögensungleichheit krass. Tatsächlich sind es nämlich gerademal die reichsten zwei Prozent, die ein fünftel des gesamten Privatvermögens besitzen.
Fehleinschätzung weit verbreitet
Mit ihren Fehleinschätzungen zur Vermögens- und Einkommensverteilung stehen die Schweizer keinesfalls alleine da. Der russische Ökonom Vladimir Gimpelson und der amerikanische Politologe Daniel Treisman haben untersucht, inwiefern die von den Bürgern wahrgenommene Ungleichheit mit der Realität in 40 Ländern übereinstimmt. Sie kommen zum Schluss, dass Fehleinschätzungen zum tatsächlichen Grad der Ungleichheit weit verbreitet sind. Ihre These ist, dass lediglich die wahrgenommene Einkommensungleichheit – und nicht die tatsächliche Ungleichheit – Einfluss darauf haben, ob Individuen staatliche Umverteilung befürworten oder ablehnen. In Staaten wo breitere Schichten der Gesellschaft die Kluft zwischen Reich und Arm als besonders gross erachten, erwarten sie höhere Zustimmung zu staatlichen Korrekturmassnahmen. In ihrer Studie zeigen sie auf, dass sich diese These statistisch bekräftigen lässt.
Ist es wirklich die Wahrnehmung Oder zählt das Einkommen der Ärmsten?
Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker an den Universitäten Basel und Zürich, kritisiert die genannte Studie.[2] Die Resultate seien «kaum wasserdicht». Die Studie konzentriere sich nur auf die relativen Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich innerhalb von Staaten. Was jedoch wirklich zähle, sei die Höhe des Einkommens der unteren Einkommensklassen. Gerade in den reicheren OECD Staaten verfügen diese Gesellschaftsschichten schliesslich über wesentlich höhere Einkünfte. Straumanns Argument ist einleuchtend. Wenn die unteren Einkommensschichten über genügend Mittel verfügen um ihr Leben selber zu meistern, mögen sie sich materiell weniger benachteiligt fühlen. Erwartungsgemäss sollten diese Schichten dann auch die politische Ordnung weniger stark hinterfragen und weniger bestrebt sein, Umverteilung von oben nach unten zu fordern. Greift das Einkommensargument weit genug? Ist es lediglich die Höhe des Einkommens der unteren Schichten, die ausschlaggebend ist?
Sozialer Fortschritt und Zustimmung zu staatlicher Umverteilung
Eine erweiterte Erklärung ist im Erfolg einer Gesellschaft zu sehen, wie sie ökonomischen Fortschritt in tatsächliches Wohlbefinden aller Mitglieder umzumünzen vermag. Schliesslich garantieren höhere Einkommen nicht zwingend, dass alle Individuen gleiche Chancen und Möglichkeiten haben. Kann das allgemeine Wohlbefinden etwas zur Erklärung der unterschiedlich hohen Zustimmung zu staatlicher Umverteilung beitragen? Hierzu bietet es sich an, den innovativen Social Progress Index (SPI) hinzuzuziehen. Der SPI misst den sozialen Fortschritt eines Landes. Er definiert Fortschritt nicht anhand ökonomischer Inputs sondern tatsächlicher Ergebnisse (genaueres dazu in der Infobox unten). Im Endeffekt soll der SPI die Frage beantworten, ob die Früchte des ökonomischen Wohlstands eines Landes so genutzt werden, dass sich das Wohlbefinden aller erhöht.
Tatsächlich scheint mit sozialem Fortschritt die Zustimmungsrate zu staatlicher Umverteilungspolitik tendenziell zu sinken. Die Schweiz erreicht einen sehr hohen SPI-Wert (3. Platz), während ihre Zustimmungsrate zu staatlicher Umverteilung unter den tiefsten ist. Es ist somit wenig verwunderlich, dass die Verfechter staatlicher Umverteilung hierzulande in Volksabstimmungen einen schweren Stand haben. Ähnlich verhält es sich im Falle der skandinavischen Länder, welche im SPI Ranking ebenfalls sehr gut abschneiden. Die Schweden (2.), welche eigentlich für eine äusserst progressive Umverteilungspolitik bekannt sind, weisen ein nur geringfügig höheres Zustimmungsniveau auf. Die Norweger (1.) zeigen hingegen noch deutlich weniger Begeisterung für staatliche Intervention in Verteilungsfragen. Die Befürworter staatlicher Eingriffe sind in den Süd- und Osteuropäischen Staaten um einiges zahlreicher. Es sind jene Staatern, welche gemessen am SPI weniger fortschrittlich sind.
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Wenn der nationale Wohlstand vielen zugutekommt, erlischt der Robin-Hood-Impuls
Eine plausible Begründung für diesen Zusammenhang ist, dass sich in den fortschrittlicheren Staaten breitere Schichten am wirtschaftlichen Erfolg ihres Landes beteiligt fühlen. In diesen Gesellschaften werden die Symptome exzessiver Ungleichheit weniger perzipiert oder zumindest als weniger problematisch erachtet. In der Bevölkerung mag die Auffassung, in einem sozial gerechten, fairen System zu leben, verbreiteter sein. Die Notwendigkeit, die Vermögenden stärker zur Kasse zu bitten um Geld nach unten zu transferieren, mag von vielen daher als geringer eingeschätzt werden.
Aber bekräftigen weiterführende Analysen diese Aussage? Erwartungsgemäss sollten gerade die Menschen, welche am stärksten von einem progressiven Wohlfahrtsstaat profiteren, Umverteilung am vehementesten befürworten. Dies trifft besonders im Falle der innerhalb einer Gesellschaft schlechtest gestellten Individuen zu. Um zu prüfen, ob dies zutrifft, kann die Unterscheidung zwischen «Arbeitsmarkt- In- und Outsidern» hinzugezogen werden. [3]
In fortschrittlicheren Staaten fehlt sogar den «Outsidern» der Wille den Reichen zu nehmen
«Arbeitsmarkt-Outsider» weisen ein besonders hohes Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko auf. Oftmals finden sich «Outsider» in atypischen, prekären Arbeitsverhältnissen wieder und sind daher besonders auf das Auffangnetz des Wohlfahrtstaates angewiesen. «Outsider» sollten Umverteilung daher stärker Befürworten als «Insider», welche sichere, gut bezahlte Jobs haben und generell besser abgesichert sind. Diese Erwartung trifft jedoch nur begrenzt zu. Anhand der Daten des European Social Survey (ESS) kann die Wahrscheinlichkeit berechnet werden, dass Individuen mit gewissen sozioökonomischen Merkmalen Umverteilungsbestrebungen befürworten oder nicht. Der Kontext ist nämlich ausschlaggebend. Während in Staaten mit tiefem SPI in der Gruppe der Outsider die «starker Zustimmung» zu staatlichen Eingriffen in die Vermögensverteilung signifikant höher ausfällt als in der Gruppe der Insider, ist ein solcher Unterschied zwischen diesen zwei Gruppen in den fortschrittlicheren Staaten nicht auszumachen. Die untenstehende Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeiten an, dass In- und Outsider in verschiedenen mit steigendem SPI Umverteilung zustimmen oder ablehnen.
Kommt uns mit ansteigendem Wohlbefinden, trotz der sich akzentuierenden Ungleichheiten, der Robin-Hood Impuls – notabene die Lust nach Umverteilung – abhanden? Gut möglich. Auch im Schweizer Fall könnte dies zur Erklärung der fehlenden Lust nach Politikrezepten wie der Erbschaftssteuer beitragen.
Ein Team um Harvard Professor Michael E. Porter hat den SPI als Ergänzung zum BIP ins Leben gerufen. Der Index bewertet Staaten anhand dreier Teilindizes (Basic Human Needs, Foundations of Wellbeing und Opportunity). Wichtige Aspekte welche für die Bewertung hinzugezogen werden sind u.a. die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum, medizinische Versorgung, Zugang zu Wasser und Strom, Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Freiheits- und Wahlrechte, Toleranz oder Zugang zu Bildung und Information. Das Team um Porter zeigt anhand des Index auf, dass sich ein höheres BIP pro Kopf nicht zwangsläufig positiv auf all diese Bereiche auswirkt.
Die beiden viel beachteten Zuwanderungsabstimmungen des Jahres 2014, Masseneinwanderungs- und Ecopop-Entscheid, mobilisierten teils unterschiedliche Gruppen. Am stärksten davon profitierte die Gegnerschaft des Ecopop-Begehrens. Ihr gelang es, die Unterstützer der Bilateralen an die Urne zu treiben, während zuwanderungskritische Stimmbürger dem Ecopop-Votum eher fernblieben. Die Wanderungsbilanz zwischen dem MEI-Ja und dem Ecopop-Nein deutet zudem darauf hin, dass die grundsätzlichen Haltungen zur Zuwanderungs- und EU-Frage zwischen den beiden Urnengängen relativ stabil blieb.
Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (kurz: MEI) sandte seinerzeit regelrechte Schockwellen durchs Land und beschäftigt die Schweizer Politik seither. Denn ihre wortgetreue Umsetzung hätte mit grösster Wahrscheinlichkeit ein Zerwürfnis mit der EU zur Folge. Diese Umsetzung muss jedoch bald erfolgen, spätestens bis Anfangs 2017, so schreiben es die Übergangsbestimmungen des angenommenen Verfassungsartikels 121a vor. Vor diesem Hintergrund wird deshalb immer noch über die Motive spekuliert, welche die Bürger damals, an diesem schicksalsträchtigen 9. Februar 2014, antrieben. War es ein Votum gegen überfüllte Züge, gegen Lohndumping, gegen die «Überfremdung» oder – horribile dictu – gar gegen die EU? Obwohl der Wortlaut der Sachfragen, die dem Schweizer Stimmvolk vorgelegt werden, in aller Regel klarer formuliert sind als diejenige, über welche das griechische Elektorat kürzlich befand,[2] lassen auch helvetische Stimmentscheide unterschiedliche Interpretationen zu. Ein gutes Bild von diesen Deutungskämpfen vermitteln die jeweiligen «Elefantenrunden» im Nachgang zu eidgenössischen Urnengängen,[3] bei denen darüber gestritten wird, was das Stimmvolk denn eigentlich mit seinem Votum meinte. Die Auslegung des MEI-Entscheids wurde durch das darauf folgende Votum zur Ecopop-Vorlage noch zusätzlich erschwert. Denn dieses Begehren wurde nun – zur Überraschung vieler – überaus deutlich verworfen. Wie sind diese beiden, auf den ersten Blick widersprüchlichen Abstimmungsergebnisse zu deuten? Haben die Schweizer Stimmbürger es sich im Laufe des Jahres anders überlegt und sich Ende 2014 zu den Bilateralen bekannt? Oder haben sie die Vorlagen von vornherein als zwei unterschiedliche Sachfragen behandelt?
Wir wollen in diesem Beitrag (vorerst) nicht spekulieren, sondern lediglich aufzeigen, wie sich MEI-Befürworter und MEI-Gegner aus den einzelnen Parteianhängerschaften bei der wenige Monate später vorgelegten Ecopop-Frage verhielten. Dabei wollen wir nicht nur diejenigen berücksichtigen, die sich an beiden Urnengängen beteiligten (wie das etwa in der Vox-Analyse zu den Abstimmungen vom 30.11.2014 getan wurde), sondern auch die Nicht-Teilnehmenden. Dies ist angesichts der unterschiedlich hohen Partizipationsraten (rund 7 Prozent Differenz zwischen MEI und Ecopop) gar einer der interessantesten Fragen. Denn offenbar muss sich ja eine beträchtliche Zahl derer, die bei der MEI-Abstimmung noch teilnahmen, beim Ecopop-Entscheid der Stimme enthalten haben. Wer waren diese Bürger und Bürgerinnen? Kamen sie mehrheitlich aus dem Lager der MEI-Befürworter oder demjenigen der MEI-Gegner? Und was bedeutet das? Richtig, hier muss dann wieder spekuliert werden, aber immerhin auf einer (etwas) informierteren Basis. Klicken Sie hier, um die Grafik auf ihrem Mobilgerät zu sehen.
In der Abbildung oben sind die Resultate für alle Stimmoptionen (mit Ausnahme der leeren und ungültigen Stimmen) und für alle Stimmberechtigten ausgewiesen. Zunächst aber: Wie sind wir vorgegangen und woher stammen die Informationen darüber, wer bei beiden Vorlagen wie abgestimmt hat? Wir schildern die Vorgehensweise hier in aller Kürze und verweisen all diejenigen, die mehr dazu wissen wollen, auf die Methodenbox am Ende des Beitrags. Die hauptsächliche Datengrundlage bildete die 20 Minuten-Vorwahlumfrage vom 16/17.6.2015, in welcher auch die Entscheide zur MEI und zu Ecopop abgefragt wurden. Mit anderen Worten: Rund 24’000 Befragte haben angegeben, wie sie einerseits zur MEI und andererseits zum Ecopop-Begehren stimmten bzw. ob sie teilnahmen. Wir haben diese Ergebnisse sodann mit den entsprechenden Vox-Daten verglichen, um ihre Reliabilität zu prüfen. Dieser Vergleich zeigt, dass die Ergebnisse beider Umfragen nur geringfügig voneinander abweichen (siehe Methodenbox). Zuletzt wurden die Umfragewerte auch noch nach den St. Galler Registerdaten gewichtet, in erster Linie, um verlässlichere Resultate für die Nichtteilnehmenden zu erhalten (vgl. Methodenbox).
Die Abstimmungen über die Masseneinwanderung und Ecopop mobilisierten teils unterschiedliche Gruppen
Zu den Ergebnissen: Zuerst ist festzuhalten, dass die Fluktuation zwischen Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden grösser war als viele (möglicherweise) vermutet haben. In der Stadt St. Gallen beispielsweise blieb jeder fünfte MEI-Teilnehmende (20.6%) der Ecopop-Abstimmung fern, während beim Urnengang vom 30.11. rund 17 Prozent teilnahmen, die zuvor, also im Februar, noch nicht partizipiert hatten. Kurz, es war demnach nicht zwei Mal dasselbe Elektorat (minus 7 Prozent), welches sich an den beiden Urnengängen beteiligte, sondern offenbar haben die beiden Vorlagen zum Teil unterschiedliche Gruppen mobilisiert bzw. demobilisiert.
MEI-Befürworter blieben dem Ecopop-Entscheid eher fern, während die von der Ecopop-Initiative neu Mobilisierten meist ein Nein einlegten
Wer wurde bei der Ecopop-Abstimmung demobilisiert? Es waren die MEI-Befürworter, die sich etwas stärker ins Lager der Abstinenten verabschiedeten als die seinerzeit Nein-Stimmenden. Über diesen «Demobilisierungseffekt» der MEI-Befürworter wurde bereits kurz nach der Abstimmung vom November 2014 spekuliert, im Übrigen auch (und zeitlich zuerst) in diesem Blog. Und in der Tat war dem so (andernfalls hätten wir diesen Umstand «geflissentlich übersehen»). Aber das war nicht der Hauptgrund für das im Vergleich zum MEI-Erfolg (50.3 % Ja) nur etwa halb so gute Abschneiden der Ecopop-Initiative (25.9%). Zwei andere Gründe waren noch wichtiger: Erstens, den Gegnern der Ecopop-Initiative gelang es viel besser, ihre Anhängerschaft unter den unregelmässigen Urnengängern zu mobilisieren als den Ecopop-Befürwortern. Denn die allermeisten derer, die noch im Februar der Urne fernblieben, aber im November partizipierten, stimmten Nein zu Ecopop. Der zweite Grund war: Viele, die zur MEI noch ein «Ja» einlegten, stimmten Nein zu Ecopop. Hingegen gab es kaum jemanden, der die MEI ablehnte, aber dem Ecopop-Begehren zustimmte.
Grüne lehnten beide Vorlagen deutlich ab, die SVP-Anhängerschaft blieb der November-Abstimmung eher fern
Wer waren die Demobilisierten, wer die Mobilisierten und zuletzt: wer waren die «Wechselwähler»? Darüber informiert nachfolgende Grafik, die aufzeigt, wie die verschiedenen Parteianhängerschaften stimmten. Die «Heatmap» zeigt auf den ersten Blick, wie der grössere Teil der jeweiligen Parteianhängerschaft gestimmt hat. Dabei darf eines nicht vergessen werden: Angesichts der Partizipationsraten (nur etwa die Hälfte nahm an den jeweiligen Urnengängen teil) ist das Feld derer, die an beiden Abstimmungen fernblieben, bei den meisten Parteianhängerschaften dasjenige mit den meisten Fällen. Klicken Sie hier, um die Grafik auf ihrem Mobilgerät zu sehen.
Die an Urnengängen teilnehmenden SVP-Anhänger haben die MEI fast einstimmig angenommen, sind dann aber zu etwa gleichen Teilen ins Lager der Ecopop-Befürworter (38%), -Gegner (33%) und Nichtteilnehmenden (30%) geströmt. Die Demobilisierung war bei den SVP-Anhängern dabei besonders stark: Fast jeder dritte MEI-Befürworter aus ihren Reihen enthielt sich bei Ecopop der Stimme.[4] Diese Demobilisierung war nur noch bei den Lega-Anhängern stärker, die sich – wie übrigens das ganze Tessin – am 30. November unterdurchschnittlich beteiligten. Mit anderen Worten: Die (glücklichen, weil knappen) Sieger vom 9. Februar blieben der Urne am 30. November überdurchschnittlich häufig fern. Hinzu kommt, dass viele das «Lager wechselten»: Am 9. Februar hatten die SVP-Wähler noch Ja gestimmt, nun legte ein erheblicher Teil von ihnen ein Nein in die Urnen. Allerdings hatte dies wohl wenig mit Meinungsänderung zu tun. Die Parole der SVP zu Ecopop lautete ja ebenfalls Nein, ohne dass sich zwischenzeitlich etwas an der Haltung der Parteispitze zur selbst vorgeschlagenen Zuwanderungsbegrenzung (MEI) geändert hätte. Das «Doppel-Nein» wurde von den Grünen am häufigsten in die Urnen gelegt. Mit Ausnahme der Nichtbeteiligung an beiden Urnengängen kam keine andere Stimmkombination bei den Grünen auch nur im entferntesten an diesen Wert heran. Dies ist einerseits wenig überraschend, aber andererseits auch nicht trivial. Immerhin stammte die Ecopop-Initiative teilweise aus ihren Reihen.
Eine nicht unerhebliche Zahl der FDP-Anhänger nahm erst bei der Ecopop-Abstimmung teil und legte fast einstimmig ein Nein in die Urnen
Bei der FDP und der CVP wiederum ist der Anteil derer, die vom Lager der MEI-Befürworter ins Lager der Ecopop-Gegner wechselten, vergleichsweise hoch, wenn auch nicht so hoch wie bei der SVP. Immerhin aber lässt sich festhalten, dass der zuvor genannte zweite Hauptgrund für das deutlich schlechtere Abschneiden der Ecopop-Initiative – viele «Wechselwähler» vom MEI-Ja zum Ecopop-Nein – hauptsächlich auf das Konto der SVP und der beiden Mitte-Parteien geht. Der erstgenannte Grund (Neumobilisierte stimmten grossmehrheitlich Nein) wiederum hatte vor allem mit der FDP-Wählerschaft zu tun: 24 Prozent, die dem MEI-Votum noch fernblieben, legten ein Nein zu Ecopop in die Urne, während nur gerade zwei Prozent ein Ja einwarfen (der Rest derer, die am 9. Februar nicht teilnahmen, beteiligte sich auch am 30. November nicht). Kurz, bei keiner anderen Wählerschaft war die Neu-Mobilisierung von Ecopop-Gegnern derart stark wie bei der FDP-Wählerschaft.[5]
Stabile Haltungen, aber teils unausgeschöpfte Mobilisierungspotenziale
Was bedeuten diese Zahlen für die anhaltende Diskussion über die «wahren» Motive und Haltungen der Stimmbürger zu Zuwanderung, Personenfreizügigkeit und Bilaterale? Es ist klar, sie sagen nach wie vor nichts genaues darüber aus, was in den Köpfen der Stimmenden vorging, als sie entweder «Ja» oder «Nein» auf den Stimmzettel schrieben, sofern sie überhaupt etwas darauf schrieben. Es ist aber wenig realistisch, davon auszugehen, dass etwa ein Drittel der SVP-Anhängerschaft seine Meinung zu Zuwanderung und Europa geändert hätte. Die Aussage, dass das Elektorat zwischen den beiden Urnengängen seine Haltung geändert hat, wäre ohnehin nur dann zulässig, wenn beide Male über dasselbe abgestimmt worden würde. Das war aber offenkundig nicht der Fall. Die Ecopop-Initiative ging weiter als die MEI, was auch daran erkennbar ist, dass ihre Unterstützung im Parlament deutlich geringer war als diejenige der MEI. Kurz, das Gros der SVP-Wähler (und weiterer MEI-Befürworter) hat ihre Haltung zur Zuwanderungsproblematik wohl kaum geändert, sondern das Ecopop-Begehren abgelehnt, weil es zum einen radikaler als die MEI war und zum anderen von ihrer bevorzugten Partei zur Ablehnung empfohlen worden war. Vieles spricht demnach dafür, dass die grundsätzlichen Haltungen zu Europa und der Zuwanderung mehr oder weniger stabil geblieben sind. Allerdings zeigt die starke zusätzliche Mobilisierung der Bilateralen-Anhänger bei der Ecopop-Abstimmung, dass dieses Lager im Vergleich zum MEI-Votum durchaus noch Luft nach oben hat. Zugegegeben, dies ist ein Stück weit Spekulation, denn wir wissen nicht genau, was diejenigen motivierte, die der MEI-Abstimmung noch fernblieben, dann aber mit überwältigender Mehrheit die Ecopop-Initiative verwarfen. Aber ganz abwegig erscheint der Gedanke nicht, dass sie dies zur Bewahrung der Bilateralen taten, die sie durch die MEI und erst recht durch Ecopop gefährdet sahen.
[2] Auf Deutsch übersetzt, lautete die Abstimmungsfrage: «Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25.06.2015 eingereicht wurde und aus zwei Teilen besteht, die in einem einzigen Vorschlag zusammengefasst sind?»
Methodik: Die Datengrundlage bildeten die 20 Minuten-Vorwahlumfragen vom 16/17. Juni 2015 mit rund 24’000 Teilnehmern. Diese Daten wurden nach soziodemographischen und politischen Kriterien gewichtet. Die MEI wurde im ungewichteten 20 Minuten-Sample im Übrigen mit 54.6 Prozent angenommen (+4.3% Differenz zum effektiven Resultat), Ecopop mit 74.8 % (+0.7% Differenz) abgelehnt. Wenn wir die entsprechenden Vox- und 20 Minuten-Daten vergleichen, so stellen wir fest, dass es beruhigenderweise nur geringfügige Unterschiede gibt: Die grösste Differenz besteht bei denjenigen, die bei der MEI-Abstimmung der Urne fernblieben, die Ecopop-Initiative sodann ablehnten. Im 20 Minuten-Sample liegt der entsprechende Wert 6 Prozentpunkte über dem Wert, der in der Vox ermittelt wurde. Darüber zu spekulieren, welcher Wert näher am “wahren” Wert in der Grundgesamtheit liegt, ist müssig. Denn es lässt sich ohnehin nicht überprüfen. Letztlich haben wir uns für die 20 Minuten-Daten entschieden, weil sie ihrer hohen Fallzahl wegen eine Analyse auf der Ebene der einzelnen Parteianhängerschaften ermöglicht: So lagen im 20 Minuten-Sample für die Lega dei Ticinesi beispielsweise 209 Fälle vor, während sich in der entsprechenden Vox-Stichprobe nur gerade 9 Befragte zur Lega bekannten.
Hinsichtlich der Teilnahme liegen jedoch beide Datensätze nachweislich daneben. In beiden Umfragen gaben deutlich mehr Befragte an, teilgenommen zu haben, als dies effektiv der Fall war. Dies ist ein allseits bekanntes Phänomen bei Umfragen: Politisch Involvierte nehmen viel eher an politischen Umfragen teil als solche, die sich nicht für Politik interessieren. Deshalb haben wir die «Wanderungsbilanzen» zwischen Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden nach den St. Galler Registerdaten gewichtet. Diese ermöglichen – zumindest für die Stadt St. Gallen – die Rekonstruktion der Wechselströme zwischen Teilnahme und Nichtteilnahme. Nimmt man die St. Galler Registerdaten als Referenz, liegen die gewichteten 20 Minuten-Daten jedoch gar nicht derart weit daneben. Die Wanderungsbilanz zwischen Nicht-Teilnehmenden und Teilnehmenden wird im ungewichteten Datensatz (wahrscheinlich) um lediglich rund 5 Prozent überschätzt. Allerdings – und darauf deutet das zuvor in Klammern gesetzte «wahrscheinlich» hin – ist die Frage erlaubt, ob denn die Stadt St. Gallen (bzw. deren Wanderungsbilanz) auch tatsächlich repräsentativ für die Gesamtschweiz steht. Wir wissen es nicht, aber ein Vergleich zwischen den Ergebnissen in der Stadt St. Gallen und dem nationalen Ergebnis lässt vermuten, dass dem annäherungsweise so ist: Die Beteiligungshöhe in der Stadt St. Gallen betrug bei der MEI-Abstimmung 55.4 (schweizweit: 56.6%), bei der Ecopop-Abstimmung 51.0 Prozent (schweizweit: 50.0). Die St.Galler Werte liegen demnach sehr nahe bei den nationalen Werten. Übrigens haben wir für die Gewichtung nur diejenigen St. Galler und St. Gallerinnen berücksichtigt, die an beiden Urnengängen in der Stadt St. Gallen als Stimmberechtigte registriert waren. Daraus entsteht eine – allerdings wohl ziemlich geringe – Differenz zum schweizweiten Ergebnis, weil Stimmbürger ja sterblich sind, Erstwähler und Eingebürgerte hinzukommen, etc..
Zuletzt wird sich manch einer möglicherweise die Frage stellen: Warum wurden nicht einfach die St. Galler Registerdaten verwendet? Warum die komplexe Gewichtung von Umfragedaten, wenn doch offizielle, prozessgenerierte (aber selbstredend anonymisierte!) Daten vorliegen? Die ganz einfache Antwort darauf lautet: Es gilt das Stimmgeheimnis. Und deshalb wissen wir nicht, wie die St. Galler und St. Gallerinnen gestimmt haben (und welche Parteipräferenz sie haben), sondern lediglich, ob sie gestimmt haben.
Das Zürcher Stimmvolk stimmte am 30. November 2014 (hier zur Erinnerung, worum es ging) nicht zum ersten Mal über die Pauschalbesteuerung ab: Vor sechs Jahren, am 8. Februar 2009, wurde über die Volksinitiative mit dem Titel «Schluss mit den Steuerprivilegien für ausländische Millionärinnen und Millionäre» entschieden. Die damalige kantonale Vorlage wurde noch mit rund 53% Ja-Stimmen angenommen. Deshalb kann die Abstimmung jüngeren Datums verwundern: Für das nationale Anliegen konnten sich nur noch 49% der Zürcherinnen und Zürcher erwärmen.
Unterschied im Niveau der Beteiligung
Natürlich sind es kaum je exakt dieselben Personen, die sich an die Urne begeben. Insofern sind die beiden Abstimmungen keine Spiegelbilder. Jedoch zeigt die Analyse der Abstimmungsresultate auf kommunaler Ebene, dass die Unterschiede zwischen den Gemeinden ähnlich sind, das Niveau jedoch ein anderes. Die durchschnittliche Stimmbeteiligung erhöhte sich gegenüber der kantonalen Vorlage, die mit 50.4% überdurchschnittlich hoch war, bei der nationalen Abstimmung auf 52.8%. Interessanterweise gilt generell: Je höher die Stimmbeteiligung im Vergleich zur kantonalen Abstimmung, desto tiefer war der Ja-Stimmen Anteil.
Eigene Darstellung; Daten: Kanton Zürich
Unterschied im Niveau der Zustimmung
Das Level der Zustimmung bewegt sich überall auf einem tieferen Niveau als fünf Jahre zuvor. Als Beispiel dient die Gemeinde Turbenthal. Sie wies 2009 eine der höchsten Zustimmungsraten (60.75%) aus und stimmte auch bei der nationalen Vorlage wieder zu. Jedoch nur noch mit 52.36% Ja-Stimmen, was einem Minus von rund acht Prozentpunkten entspricht. Diese Entwicklung weg von einer derart klaren Zustimmung zeigt sich auch bei damals ablehnenden Gemeinden: Die Gemeinde Zumikon erhöhte ihre Ablehnung um rund zehn Prozentpunkte, der Ja-Stimmen Anteil sank von 39.95% auf 29.92%. Wendet man diese Logik auf Gemeinden mit knappen Resultaten an, bedeutet dies, dass ihr gesamthaftes JA zu einem NEIN werden konnte. Hierfür exemplarisch ist die Gemeinde Adliswil, welche die kantonale Vorlage mit 51.19% guthiess, bei der Abschaffung der Pauschalbesteuerung auf nationaler Ebene aber mit 52.05% Nein sagte. Die folgende Grafik zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen den Ja-Anteilen bei den beiden Vorlagen gibt.
Eigene Darstellung; Daten: Kanton Zürich
Was die Grafik andeutet und in der Karte unten verdeutlicht wird, ist der Sonderfall Niederweningen: Die einzige Gemeinde, die bei der kantonalen Abstimmungen 2009 für ein «Nein» votierte und beim nationalen Urnengang «Ja» stimmte, also vom Nein ins Ja-Lager wechselte.
Eigene Darstellung; Daten: Kanton Zürich
Fand ein Meinungswandel statt? Ein Erklärungsansatz findet sich in den (nun nicht eintretenden) Folgen der Abschaffung. Die Steuerhoheit der Kantone ist ein zentraler Aspekt der föderalistischen Schweiz. Ein Eingriff darin kann durchaus auch für Befürworter der Abschaffung der Pauschalbesteuerung zu viel des Guten sein. Insofern also kein Meinungswandel. Falls ein solcher aber stattfand (was womöglich erst die Nachbefragung auf Individualebene zeigen wird), lässt sich mit dieser Analyse nur spekulieren. Ein Ansatzpunkt ist die unterschiedliche Stimmbeteiligung, welche darauf hinweist, dass bei der kantonalen Vorlage vor allem die Befürworter der Abschaffung der Pauschalsteuer (überdurchschnittlich) mobilisiert wurden. Bei der eidgenössischen Abstimmung – mit der höheren Stimmbeteiligung – wurde diese neutralisiert durch die zusätzlichen Stimmenden, welche vermutlich vor allem gegen die Abschaffung waren.
Korrigenda In der ursprünglichen Version dieses Beitrages haben sich Fehler eingeschlichen. Die Stimmbeteiligungsdaten waren inkorrekt – insbesondere bei den Städten Winterthur und Zürich hat dies einen Unterschied gemacht. Wir danken Peter Moser für den Hinweis.
Um es sogleich vorweg zu nehmen: Natürlich stellt die Ecopop-Initiative nicht den Normalfall eines Volksbegehrens im Bereich der Ausländer- und Asylpolitik dar. Wann hat es schon eine Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung gegeben, die von links-ökologischen Kreisen lanciert wurde? Und wie lange ist es her, dass die SVP – genauer: ihre nationale Dachorganisation – eine solche Zuwanderungsbegrenzung ablehnte? Aber betrachtet man die Ecopop-Initiative von einem anderen Blickwinkel, erscheint sie möglicherweise nicht mehr als Spezial-, sondern vielmehr als Normalfall. Dieser andere Blickwinkel ist die Perspektive des Elite-Basis-Konflikts. In der Folge wollen wir den mutmasslichen «Sonderfall» Ecopop aus diesem Blickwinkel untersuchen.
Zunächst gilt es, gewisse Begriffe zu präzisieren. Der Begriff der Elite ist ein schillerndes, aber selten präzise definiertes Konzept. In der Regel versteht man unter den politischen Eliten die Behörden, Parlamentarier und einflussreichen Parteivertreter. Dazu gehören aber auch – je nach Definition – Journalisten, mächtige Wirtschaftsvertreter sowie weitere politische Meinungsführer. Das Volk wiederum setzt sich, salopp ausgedrückt, aus dem Rest, der nicht zur Elite dazugehört, zusammen. Für unsere Untersuchungszwecke haben wir die politische Elite mit dem Nationalrat gleichgesetzt. Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber durchaus berechtigt. Tatsächlich ist der Nationalrat das «Forum» der Nation und ist (im Gegensatz zum Ständerat) nach dem demokratischen (und nicht dem föderalistischen) Prinzip zusammengesetzt. Insofern darf die Volksvertretung als «repräsentatives» Abbild der politischen Eliten angesehen werden.
Dass die Präferenzen der politischen Eliten und des Volkes bei Migrationsvorlagen nicht deckungsgleich sind, sondern vielmehr auseinander klaffen und dies weiter als bei den meisten anderen Sachfragen, ist kein neuer Gedanke. Michael Hermann meint gar, dass «die grösste durchschnittliche Abweichung bei migrationspolitischen Abstimmungen» vorliege (siehe Buchbesprechung in der NZZ). In der Tat wird dies auch durch einen einfachen Vergleich des Ja-Stimmenanteils zu Ausländerfragen an der Urne und der entsprechenden Schlussabstimmung im Nationalrat bestätigt.
Quelle: swissvotes. Berücksichtigt wurden – ausser dem GgV zur Ausschaffungsinitiative – sämtliche Abstimmungen über ausländerpolitische Fragen seit 1984.
Das Stimmvolk stimmt Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht deutlich stärker zu als der Nationalrat. Das klingt für den aufmerksamen Beobachter der Schweizer Politik trivial, ist es aber nicht: Denn das gleiche Stimmvolk, welches über Ausländerfragen anders denkt als der Nationalrat, hat ebendiesen gewählt. Die obige Darstellung ist aber für die Beantwortung der Frage, inwieweit Ecopop ein Spezial- (oder eben Normalfall) war, nicht sonderlich gut geeignet. Dies liegt daran, dass in dieser Darstellung alle Abstimmungsfragen zu diesem Thema in einer Abbildung zusammengefasst wurden. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass es gehörige Unterschiede zwischen Initiativen und Referenden gibt. Initiativen im Bereich der Ausländer- und Asylpolitik fordern in aller Regel eine Zuwanderungsbegrenzung oder generell Verschärfungen. Lanciert wurden sie von der SVP oder – vor allem vor der Jahrhundertabstimmung über den EWR (1992) – von rechtskonservativen Kleinparteien, wobei die restlichen Parteien die Begehren in den allermeisten Fällen vereint bekämpften. Eine klare Ausnahme davon bildet die Initiative «gegen den Ausverkauf der Heimat», die zwar von der damaligen Rechtsaussen-Partei NA lanciert wurde, aber von links-grünen Gruppierungen (die SPS empfahl beispielsweise ein Ja) als Protest gegen die unökonomische Bodenpolitik des Bundesrates unterstützt wurde. Wenn man so will, war jene Initiative von 1984 ein «Vorläufer» der Ecopop-Initiative: Von links- wie auch von rechtsaussen gab es – allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen – Sukkurs für das Begehren. Referenden fordern zwar oft auch Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht, ergriffen wurden die Referenden (sofern fakultativ) jedoch von links. Schliesslich gab es auch obligatorische (Erleichterte Einbürgerung 1994 und 2004) und fakultative Referenden (Lockerung Lex Friedrich und in gewisser Weise auch das Antirassismusgesetz), die nicht eine Verschärfung, sondern eine «Lockerung» der betreffenden Rechtsetzung im Ausländer- und Asylbereich enthielten. Und just bei diesen Abstimmungen ging das Volk auch nicht so weit wie der Nationalrat. Die erleichterte Einbürgerung scheiterte beispielsweise drei Mal an der Urne (1994 allerdings nur am Ständemehr), obwohl sich im Nationalrat jeweils eine komfortable Mehrheit dafür aussprach.
Um aufschlussreichere Aussagen machen zu können, haben wir deshalb bloss die Initiativen in diesem Bereich miteinander verglichen.
Quelle: swissvotes. Berücksichtigt wurden sämtliche Initiativabstimmungen über ausländerpolitische Fragen seit 1984.
Um den Vergleich zu erleichtern, haben wir zudem die durchschnittliche Differenz zwischen Nationalrat und Stimmvolk bei diesen Initiativen als gestrichelte Linie angegeben. Die durchschnittliche Differenz beträgt für die angegebenen Initiativen knapp 24 Prozent. Mit anderen Worten: Bei Migrationsinitiativen ist der Ja-Stimmenanteil an der Urne im Schnitt 24 Prozentpunkte höher als das entsprechende Ergebnis zur jeweiligen Vorlage im Nationalrat. Und tatsächlich kommen die meisten der hier untersuchten Migrationsinitiativen dieser gestrichelten Linie nahe – mit wenigen Ausnahmen. Zu diesen Ausnahmen zählt die Ecopop-Initiative jedoch nicht. Im Gegenteil, sie bildet sogar den perfekten Idealfall des Elite-Basis-Konflikts bei Migrationsinitiativen: Die drei Nationalräte, welche ihr zustimmten, entsprechen etwa 1.5 Prozent aller abgegeben Stimmen im Nationalrat. Die Vorlage wurde schliesslich von knapp 26 Prozent der teilnehmenden Stimmberechtigten angenommen. Kurz, der Normalfall einer Migrationsinitiative.
Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich zudem, wenn wir den Wähleranteil derjenigen Parteien, die national ein Ja empfahlen, dem Ergebnis an der Urne gegenüberstellen. Auch hier beträgt die durchschnittliche Differenz rund 20 Prozent, d.h. die Volksinitiativen schneiden um rund 20 Prozent besser ab als man alleine aufgrund des Wähleranteils des Ja-Lagers erwarten könnte. Die blauen Kreise stehen dabei stellvertretend für die Gesamtzahl der abweichenden kantonalen Parolen. Davon gab es bei der Ecopop-Initiative einige: Acht SVP-Kantonalparteien wichen von der Nein-Empfehlung der nationalen Mutterorganisation ab.
Quelle: swissvotes. Berücksichtigt wurden sämtliche Initiativabstimmungen über ausländerpolitische Fragen seit 1984
Auch wenn man das Verhältnis zwischen Wähleranteil des Ja-Lagers und dem Abstimmungsergebnis betrachtet, ist die Ecopop-Abstimmung nicht etwa ein Spezial-, sondern ein Normalfall. Sonderfälle sind viel eher die Volksinitiative für die Begrenzung der Einwanderung (1988), die es nur mit den Zustimmungsempfehlungen der NA und EDU auf immerhin knapp 33 Prozent brachte, und die 18-Prozent-Initiative, die trotz Ja-Parole der nationalen SVP (bei allerdings elf abweichenden Kantonalparteien), gerade mal 36 Prozent der Ja-Stimmen auf sich vereinigen konnte. Abseits stehen auch die Initiativen gegen den Ausverkauf der Heimat und für demokratische Einbürgerungen – beides sind aber keine typischen Fälle von Migrationsinitiativen.
Kurz, betrachtet man die Ecopop-Initiative aus der Warte des Elite-Basis-Konflikts, war sie ein Normalfall. Aus dieser Perspektive würde man folgendermassen argumentieren: Gescheitert ist die Ecopop-Initiative, weil sie zu radikal war. Nur ein kleiner Teil der politischen Eliten unterstützte sie. Die Unterstützung des Stimmvolks wiederum war wie gewohnt höher als diejenige des Nationalrats, aber es reichte bei Weitem nicht, um angenommen zu werden.
Gleich nach den Abstimmungen haben wir und auch andere (hier geht es zur Tagi-Grafik) das Abstimmungsergebnis von Ecopop und anderen Vorlagen verglichen.
Wen es interessiert, kann mit untenstehender Grafik verschiedene Vorlagen auf Bezirksebene selber vergleichen. Es braucht etwas Zeit, bis die Grafik geladen hat. Falls noch weitere Abstimmungen gewünscht werden, versuchen wir das in den nächste Tagen umzusetzten.
Eine erste Analyse von Daten auf Bezirksebene zeigt, dass verschiedene Faktoren zu den (zwar geringen) Ja-Anteilen geführt haben. Der interessanteste Befund betrifft die Einfamilienhausquote. Diese korreliert positiv mit dem Ja-Stimmenanteil zur Ecopop-Initiative. Das heisst, je höher der Anteil an Einfamilienhäusern in einem Bezirk, desto öfter wurde ein Ja eingelegt. Die Grafik unten stellt diese Beziehung dar und unterscheidet die Bezirke farblich nach Sprachregion.
Eigene Darstellung; Daten: BfS
Die Darstellung nach Sprachregion regt zugleich auch eine genauere Betrachtung des gefundenen Zusammenhangs an. Wenn man für die Analyse die Bezirke nach Sprachregionen aufteilt, wird deutlich, dass die Aussage nur auf deutschsprachige und italienischsprachige Bezirke zutrifft.
Eine mögliche Interpretation für die Rolle der Einfamilienhausquote könnte die verbreitete Vorstellung von der Schweiz sein, welche von den Initianten vielfach propagiert wurde: eine heile Welt mit (geräumigem) Vorgarten. Bezirke, die diesem Landschaftsbild entsprechen, wollen es auch erhalten. Eine Drosselung des Bevölkerungswachstums, so die Vorstellung der Ecopop-Befürworter, hätte die “Zubetonierung” dieser “heilen” Schweiz aufgehalten. Deshalb vermuten wir, dass in Bezirken mit hohem Anteil an Einfamilienhäusern die Besorgnis diesbezüglich zu vermehrten Ja-Stimmen geführt hat.
Methode Damit wir nicht nur über den Einfluss eines Faktors sprechen, haben wir ein Modell gerechnet, welches mehrere Variablen berücksichtigt: u.a. den Ausländeranteil, die Veränderung der Wohnbevölkerung 2010-2013 und das Alter der Bevölkerung. So lassen sich etwas verlässlicherere Aussagen machen, in dem man unter der Berücksichtigung anderer Faktoren über den Einfluss eines Einzelnen sprechen kann. Die Zustimmung zu Ecopop wird durch verschiedene Faktoren erklärt. Zum jetzigen Zeitpunkt (Sonntagabend, 30.11.2014) kann noch nichts über individuelle Daten gesagt werden, dafür müssen die Nachumfragen abgewartet werden. Für die ersten Analysen stehen aber die Ja-Stimmenanteile in den 148 Bezirken zur Verfügung.
Die Pauschalsteuer-Initiative blieb heute ebenfalls chancenlos. Obwohl sie von den drei Initiativen noch den höchsten Ja-Stimmen-Anteil aufweist, lehnte sie das Schweizer Stimmvolk mit 40.8% Ja-Stimmen klar ab. Dies zeigt sich auch auf Bezirksebene. Zustimmung fand die Initiative nur in fünf Bezirken: Stadt Zürich, Winterthur, Stadt Luzern, Schaffhausen und Vorderland (Appenzell-Ausserrhoden). Diese liegen alle in Kantonen, welche die Pauschalbesteuerung auf kantonaler Ebene bereits abgeschafft haben. Die untenstehende Grafik deutet zwar auf einen Zusammenhang innerhalb der Kantone zwischen der Zustimmung zur Pauschalsteuerinitiative und ähnlichen Abstimmungen auf kantonaler Ebene hin. Interessanterweise lehnten jedoch auch in den Kantonen Zürich, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Basel-Land und Basel-Stadt, die alle keine Pauschalsteuer mehr haben, die meisten Bezirke die Abschaffung der Pauschalbesteuerung auf nationaler Ebene ab.
Betroffenheit wichtiger als ideologische Einstellungen
Auf die stärkste Ablehnung traf die Initiative in jenen Kantonen, in denen die direkte Betroffenheit aufgrund der grösseren Anzahl Pauschalbesteuerten auch am höchsten war. Dazu gehören neben der Region um den Genfersee vor allem auch die Bergregionen im Wallis und Graubünden, sowie das Tessin. Am deutlichsten abgelehnt – mit nur 14.1% Ja-Stimmen – wurde die Initiative in Obersimmental-Saanen. Der Bezirk im Berner Oberland lehnte die Abschaffung der Pauschalsteuer bereits in einer kantonalen Abstimmung im September 2012 ab – mit einem Ja-Anteil von 10.6% sogar noch deutlicher.
Dass es in der Abstimmung über die Pauschalsteuer eher um die regionale Betroffenheit ging als um ideologische Einstellungen, zeigen auch die Unterschiede zu inhaltlich ähnlich gelagerten Vorlagen. So ist der Zusammenhang zwischen der Pauschalsteuerinitiative und der Volksinitiative «Für faire Steuern. Stopp dem Missbrauch beim Steuerwettbewerb», die im November 2010 mit einem ähnlich hohen Anteil an Ja-Stimmen (41.5%) abgelehnt wurde, nicht sonderlich stark. Im Gegensatz zur Abschaffung der Pauschalsteuer war bei der Steuergerechtigkeitsinitiative die Zustimmung vor allem in der französischsprachigen Schweiz – allen voran im Kanton Jura – deutlich höher.
Vergleich des Ja-Stimmenanteils auf Kantonsebene mit der Anzahl an Pauschalbesteurten pro 1000 Einwohner (eigene Darstellung, Daten: BfS und KPMG).
Pauschalbesteuerte und Zweitwohnungen
Interessanter ist jedoch der Vergleich mit einer – auf den ersten Blick – ganz anderen Initiative. Und zwar zeigt unsere Analyse, dass das Stimmverhalten zur Pauschalsteuerinitiative stark mit demjenigen zur Zweitwohnungsinitiative vom März 2012 korreliert. Da die Zweitwohnungsinitiative mit 50.6% Ja-Stimmen angenommen wurde, liegen die Ja-Stimmenanteile zur Pauschalsteuerinitiative natürlich generell auf einem tieferen Niveau. Bezirke, welche die Pauschalsteuer deutlich ablehnten, hatten jedoch auch bei der Zweitwohnungsinitiative einen höheren Nein-Stimmen-Anteil. Eine mögliche Erklärung dafür ist wiederum die Betroffenheit. Viele der Regionen, die von pauschalbesteuerten vermögenden Ausländern und Ausländerinnen profitieren, sind auch auf den Tourismus angewiesen – und damit auf Zweitwohnungen. Aber nicht nur in den direkt betroffenen Bezirken gibt es einen hohen Zusammenhang zwischen den beiden Vorlagen. So gab es zum Beispiel auch im Bezirk Höfe im Kanton Schwyz, der die Zweitwohnungsinitiative deutlicher ablehnte als die umliegenden Bezirke (38.4% Ja-Stimmen), eine sehr tiefe Zustimmung zur Abschaffung der Pauschalsteuer (29.3% Ja-Stimmen). Wie bei der Pauschalsteuer, argumentierten auch die Gegner der Zweitwohnungsinitiative mit Arbeitsplatzverlusten und der Gefährdung des Schweizer Föderalismus. Bei beiden Initiativen spielten die Tourismusregionen also eine wichtige Rolle – dieses Mal mit einem besseren Ausgang für die Verlierer der Zweitwohnungsinitiative.
von Sina Blassnig, Chris Goodman, Thomas Lo Russo, Thomas Milic, Basil Schläpfer und Thomas Willi
Abermals sorgte eine Migrationsinitiative für eine Überraschung. Indes, nicht weil sie angenommen worden wäre, sondern weil ihre Ablehnung so deutlich ausfiel. Selbst die Initiative «Für die Begrenzung der Einwanderung», die seinerzeit (1988) bloss von NA und EDU unterstützt wurde, erzielte ein besseres Resultat als die Ecopop-Initiative. Auch im Vergleich zu anderen Migrationsinitiativen steht die Ecopop-Initiative ziemlich einsam da. Kein Wunder, denn sie war in der Tat ein Spezialfall: Eine Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung, die trotz ihrer links-grünen Urheberschaft keine grünen Unterstützer fand und der zusätzlich auch noch die Stimmen des zuwanderungskritischen Lagers fehlten.
Was unterschied die Ecopop-Initiative von der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) – nebst dem offensichtlichen Umstand, dass die eine Vorlage angenommen, die andere hingegen deutlich abgelehnt wurde? Zunächst gleichen sich die regionalen Entscheidmuster sehr stark: Die Bezirke, welche die MEI überdurchschnittlich stark ablehnten, verwarfen auch das Ecopop-Begehren am deutlichsten. Die Stimmenverhältnisse zwischen den Bezirken sind also beinahe gleich geblieben. Der wesentliche Unterschied liegt vielmehr im Niveau des Ja-Anteils: Ecopop schnitt in allen Bezirken deutlich schwächer ab als die MEI. Zugegeben, das ist keine besonders aufsehenerregende Erkenntnis, zeigt aber, dass die Stimmbürger zwischen den beiden Vorlagen differenzierten. Aufgrund der Diskussionen um die Umsetzung der MEI konnte nicht ausgeschlossen werden, dass nicht über die vorgelegte Sachfrage (Nettozuwanderung von 0.2 Prozent), sondern über die Umsetzung der MEI oder noch genereller: über die Migrationspolitik abgestimmt würde. Das aber war nicht der Fall.
Die Protestwähler fehlten
Die Mobilisierungsdynamik könnte einen Teil der Unterschiede erklären. Dazu lohnt es sich, zunächst einmal einen Blick in den Kanton Genf zu werfen, der über die längste Reihe von amtlichen Mobilisierungsdaten verfügt. Ecopop – immer vorausgesetzt, diese Vorlage war auch die Lokomotivvorlage – begann zunächst einmal ähnlich stark wie die MEI. Dies liegt gewiss auch daran, dass die regelmässigen Urnengänger den Stimmzettel schon gleich nach Erhalt des Stimmmaterials ausfüllen und abschicken. Der Vergleich mit einer durchschnittlichen Vorlage (gestrichelte Linie) zeigt aber, dass die Ecopop-Initiative zu Beginn stürmisch loslegte und zwar auf dem Niveau der MEI. Etwa zwei Wochen vor dem Entscheidtermin flachte sich die Mobilisierungskurve von Ecopop ab und glich sich mehr und mehr einer durchschnittlichen Vorlage mit durchschnittlicher Mobilisierung an. Was wir aus Erfahrung wissen, ist, dass die höchst selten partizipierenden Stimmbürger der MEI massiv zugestimmt haben. Diese – die Protest- und Wutbürger – sind dieses Mal wohl zu Hause geblieben.
Die Mobilisierung und das Damoklesschwert MEI
Bleibt die Frage, was zwischen der MEI und der Ecopop-Abstimmung geschehen ist? Vordergründig empfiehlt sich ein Vergleich zwischen der Beteiligung bei beiden Abstimmungen und dem Ja-Anteil bei der MEI-Abstimmung. Anders gefragt: Hatten Bezirke, die der MEI noch deutlich zugestimmt haben, bei der Ecopop-Abstimmung eine geringere Beteiligung als solche, welche die MEI ablehnten? Ja, das ist in der Tat so. Die untenstehende Abbildung belegt dies – wobei wir sogleich zur Vorsicht mahnen: Die provisorischen BfS-Bezirksdaten weisen gewisse Ungereimtheiten auf. Die am wenigsten plausiblen Ergebnisse wurden aus der Analyse entfernt. [Update vom 3. Dezember 2014: Inzwischen hat das BfS die Daten korrigiert. Die Grafik enthält nun alle Bezirke.]
Diese erste Übersicht deutet vorderhand darauf hin, dass sich die konservativen Bezirke mit hoher MEI-Zustimmungsrate im Vergleich zum 9. Februar 2014 deutlich seltener beteiligten als die progressiv-urbanen Bezirke. Mit anderen Worten: Die Zuwanderungskritischen sind am 30.11.2014 eher zu Hause geblieben als die Öffnungsbefürworter. Drei Beispiele: Im Bezirk Lugano mit vergleichsweise hoher MEI-Zustimmung (68.5%) betrug die Anzahl gültiger Stimmen am 9. Februar über 52’000, am 30. November nur noch rund 41’000. In Zürich hingegen stieg die Zahl der gültigen Stimmen von etwa 125’000 auf fast 130’000 Stimmen – und Zürich lehnte die MEI seinerzeit wuchtig ab. Ein aus dem Rahmen fallendes Beispiel ist der Verwaltungskreis Obersimmental-Saanen. Bei der MEI-Abstimmung wurden ca. 6’400 gültige Stimmen ausgewiesen, gestern waren es ca. 7’200. Der Grund dafür ist wohl derjenige, dass die Pauschalbesteuerung dort noch stärker mobilisierte als die MEI.
Für die Ermittlung der Beteiligungsquote auf Bezirksebene wurde bei der Ecopop-Abstimmung (in Ermangelung der exakten Beteiligungsquoten) die Anzahl Stimmberechtigter vom 9. Februar verwendet.
Die Ecopop-Initiative fordert eine Begrenzung der Nettozuwanderung auf 0.2 Prozent der ständigen Bevölkerungsgrösse, was einer Nettozuwanderung von rund 16’000 Personen jährlich entspräche. Gleichzeitig sollen zehn Prozent des Entwicklungshilfebudgets in die Familienplanung investiert werden. Damit stimmt das Schweizer Stimmvolk zum wiederholten Male über eine Zuwanderungsfrage ab. Und doch ist die Ecopop-Initiative nicht vergleichbar mit den Migrationsvorlagen, mit denen sich die Schweizer Stimmberechtigten bisher konfrontiert sahen. Denn es handelt sich um eine Forderung nach Zuwanderungsbegrenzung, die von links-ökologischen Kreisen lanciert wurde und die von der SVP – zumindest von ihren Parteispitzen – abgelehnt wird. Die übliche Konfliktkonfiguration im Vorfeld solcher Abstimmungen wurde gewissermassen auf den Kopf gestellt. Hinzu kommt: Verschiedene SVP-Exponenten rieten zwar, die Initiative abzulehnen, liessen gleichzeitig aber durchblicken, dass ihnen eine knappe Ablehnung durchaus gelegen käme. Höchst ungewöhnlich ist auch, dass eine Initiative aus links-ökologischen Kreisen von den meisten national bekannten Exponenten der Grünen Partei vehement bekämpft wird.
Damoklesschwert MEI
Was die Abstimmung über die Ecopop-Initiative zusätzlich von anderen Migrationsvorlagen unterscheidet, ist der Umstand, dass die Masseneinwanderungsinitiative wie ein Damoklesschwert über der Abstimmung hängt: Den Stimmbürgern und Stimmbürgerinnen ist kaum entgangen, dass ein hoher Ja-Stimmenanteil als unmissverständliche Aufforderung, die MEI strikt umzusetzen, interpretiert würde. Ein tiefer Ja-Stimmenanteil würde hingegen als Signal für eine laxe Umsetzung der MEI verstanden. Das könnte sich in einem rein taktisch motivierten Stimmentscheid niederschlagen: Einige Bürger werden wohl nicht nur über die Ecopop-Initiative abstimmen, sondern zugleich auch über die Umsetzung der MEI. Alles in allem stellt dies eine sehr ungewöhnliche Ausgangslage dar.
Mobilisierung möglicherweise mitentscheidend
Zur Irritation trug sodann auch bei, dass die Vorumfragen von 20 Minuten und SRF zu Beginn diametral entgegengesetzte Momentaufnahmen auswiesen. In der ersten Welle der 20 Minuten-Umfrage sprach sich eine knappe Mehrheit zugunsten des Volksbegehrens aus, während gfs.bern das Lager der Befürworter auf lediglich 35 Prozent bezifferte. Die 20 Minuten-Umfrage löste bei den Gegnern offenbar einen Schock aus, denn es folgte eine massive Gegenkampagne.
Von gewisser Bedeutung für die Erfolgsaussichten einer Initiative im Bereich der Migrationspolitik ist die Mobilisierung.
Je höher die Stimmbeteiligung, umso stärker steigen die Erfolgschancen einer solchen Initiative. Denn bei einer hohen Stimmbeteiligung nehmen viele Bürger teil, die ansonsten nie oder höchst selten partizipieren. Das ist selbstredend kein Naturgesetz. Obige Darstellung zeigt, dass es davon durchaus Ausnahmen gibt. Aber generell gilt: Je mehr unregelmässige Urnengänger partizipieren, desto höher der Ja-Stimmenanteil für Initiativen, die eine restriktivere Migrationspolitik fordern. Ein gutes Beispiel ist die MEI: Die entsprechende Vox-Analyse belegte, dass die selten partizipierenden Stimmbürger deutlich stärker zugunsten der Initiative gestimmt haben als die fleissigen und regelmässigen Urnengänger.
Stimmbeteiligung
Wie hoch die Beteiligungsrate am 30. November 2014 ausfallen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt unbekannt. Die Staatskanzlei des Kantons Genf und die Stadt Zürich weisen jedoch täglich den Anteil der eingegangenen Stimmzettel aus. Daraus lassen sich – unter Berücksichtigung gewisser Parameter – Aussagen zur Beteiligungshöhe kommender Urnengänge ableiten. Im Falle der Ecopop-Initiative liegt ein Vergleich zur MEI nahe. Zum einen wird am 30. November 2014 über eine sehr ähnliche Sachfrage abgestimmt wie am 9. Februar 2014 und zum anderen liegt die MEI-Abstimmung bloss wenige Monate zurück. Der Anteil brieflich Stimmender wird sich in dieser kurzen Zeit kaum gross verändert haben, was einen Vergleich verlässlicher macht als ein solcher mit einer Vorlage, die weit in der Vergangenheit zurück liegt.
Die Abbildung verdeutlicht, dass eine tiefere Stimmbeteiligung als am 9. Februar erwartet werden darf. Damals betrug die Stimmbeteiligung im Kanton Genf 57.4 Prozent, während sie schweizweit nur unwesentlich darunter lag – bei 56.6 Prozent. Aktuell beträgt die Beteiligungsdifferenz zwischen den beiden Urnengängen am jeweiligen Vergleichstag (vier Tage vor dem Abstimmungstermin) in Genf bei über fünf Prozent – mit einer steigenden Tendenz. Und genau dieser Umstand könnte für Ecopop matchentscheidend sein.
von Thomas Milic, Thomas Willi, Chris Goodman und Basil Schläpfer
Die von SVP-Exponenten lancierte Volksinitiative «Rettet unser Schweizer Gold» verlangt, dass die Schweizerische Nationalbank mindestens 20 Prozent ihrer Aktiven in Gold halten muss. Zudem dürfen diese Goldreserven nicht verkauft und müssen ausschliesslich in der Schweiz gelagert werden. Bloss die EDU und die Schweizer Demokraten fassten auf ihren nationalen Delegiertenversammlungen eine Ja-Parole, während der Zentralvorstand der SVP beispielsweise ein Nein empfahl – wobei die entsprechende Abstimmung sehr knapp ausging (35:34 Stimmen). Allerdings wichen zwanzigkantonale SVP-Parteien von dieser Stimmempfehlung ab. Allein dies lässt schon auf eine breite Unterstützung der Initiative innerhalb der SVP-Wählerschaft schliessen.
Frühere Goldinitiativen
Der Kurztitel der Initiative (“Goldinitiative”) verleitet dazu, sie mit der gleichnamigen Initiative zu vergleichen, über die am 22. September 2002 abgestimmt wurde. Die damals abgelehnte Initiative “Überschüssige Goldreserven in den AHV-Fonds” stammte ebenfalls aus SVP-Kreisen und es ging im Kern auch um die Goldreserven der Schweizerischen Nationalbank. Damit hören die (materiellen) Gemeinsamkeiten aber schon auf. Die Goldinitiative von 2002 war ein Gegenprojekt der SVP zum Solidaritätsfonds. Dieser war in den Augen der SVP das Resultat von Erpressungsversuchen des Auslandes im Zusammenhang mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Ausserdem stellte die damalige Goldinitiative keine währungspolitischen Forderungen (Golddeckung), sondern verlangte, dass der Erlös des Verkaufs der nicht mehr benötigten Goldreserven der AHV zugute kommen sollte. Was die beiden SVP-Goldinitiativen jedoch verbindet, ist der nationalkonservative Einschlag: Damals ging es in der Sichtweise der Befürworter um die historische Darstellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, heute um die “Unabhängigkeit” des Schweizer Frankens vom Ausland. Die vier Jahre später abgelehnte KOSA-Initiative der SP wiederum tangierte zwar ebenfalls die SNB, aber nicht deren Handlungsspielraum in der Währungspolitik, sondern den Verteilschlüssel der SNB-Gewinne.
Über die Goldbindung wurde schon früher abgestimmt. Indes, dies ist schon länger her: Am 22. Mai 1949 sagte das Volk Nein zum Nationalbankenartikel, am 15. April 1951 hingegen wird die Golddeckung des Notengelds in der Verfassung verankert. Für die Schweizer Geldpolitik bedeutsam war zudem der Beitritt zu den Bretton Woods-Institutionen IWF und Weltbank, dem das Volk am 17. Mai 1992 zustimmte.