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Licht am Ende des Tunnels? Eine Frage der Sichtweise. [1]

Wer den Tunnelblick hatte und wer nicht: Das Stimmverhalten bei der Abstimmung über den Zuger Stadttunnel

Am 14. Juni 2015 geschah Ungewöhnliches im Kanton Zug. Im beschaulichen Zentralschweizer Kanton strömten die Massen an die Urnen wie selten zuvor. 61.3 Prozent beteiligten sich am besagten Urnengang. Eine solche Stimmbeteiligung ist selbst im stimmfleissigen Kanton Zug eine Seltenheit. In der Stadt Zug betrug die Beteiligungshöhe gar 68 Prozent – ein Wert, der auf nationaler Ebene[2] seit der «Jahrhundertabstimmung» über den EWR unerreicht blieb. Die Sachfrage, welche das Zuger Stimmvolk elektrisierte, hatte indes nichts mit der Europäischen Union, der «Masseneinwanderung» (Beteiligung Kanton Zug: 61.1%) oder der Tiefsteuerstrategie zu tun, sondern mit einem anderen «Jahrhundert»- bzw. «Generationenprojekt»: Der Zuger Stadttunnel. Das 890 Millionen Franken teure Projekt («Stadttunnel mit Zentrum Plus») war selbst für den ressourcenstärksten Kanton der Schweiz ein Mammutvorhaben und hatte eine Vorlaufzeit von mehreren Jahrzehnten.[3]

Auch was die Konfliktkonfiguration betrifft, war die Vorlage ungewöhnlich. In allen politischen Lagern fanden sich Befürworter wie auch Gegner des Vorhabens. Die Zuger Stadtregierung beispielsweise unterstützte die Vorlage einstimmig – was selten genug vorkommt, denn die Zuger Stadtexekutive setzt sich aus fünf Parteien zusammen, darunter die ideologisch weit voneinander entfernt liegenden SP und SVP. Generell war es jedoch so, dass SP und ALG (Alternative – die Grünen) die treibenden Kräfte in der Opposition waren, während die bürgerlichen Parteien mehrheitlich hinter dem Stadttunnel standen. Indes, es gab auch im bürgerlichen Lager Vorbehalte gegen das aufwendige Projekt. Diese Vorbehalte waren angesichts des Spardrucks im Kanton vor allem finanzpolitischer Natur. Gegen diese Einwände kämpfte insbesondere der Zuger Baudirektor Heinz Tännler (SVP) an, der dabei aber nicht nur bei den Wählerschaften von FDP und CVP Überzeugungsarbeit leisten musste, sondern auch in seiner eigenen Wählerschaft. Wie sich diese ungewöhnliche parteipolitische Konfiguration auf das Stimmverhalten der verschiedenen Parteianhängerschaften abfärben würde, war deshalb kaum vorherzusehen.

Mit einer ausgeklügelten Lastenverteilung wurde zudem versucht, die Betroffenheitsstruktur aufzuweichen, welche das Entscheidverhalten bei solchen Infrastrukturvorhaben, die lokal begrenzt sind, über die aber eine ganze Region entscheidet, oft steuert[4a,b]: Die Stadt Zug als Hauptbetroffene (und primäre Nutzniesserin) hätte bei einer Annahme im Verhältnis mehr bezahlt als die umliegenden Zuger Gemeinden.[5] Zudem hätte ein Teil der Baukosten durch eine befristete Erhöhung der Motorfahrzeugsteuer zu Lasten weiterer mutmasslicher Profiteure des Tunnels – der Autofahrer – gehen sollen. Genützt hat diese «intelligente Finanzierung» offenbar nicht, denn letztlich wurde der Tunnel ziemlich deutlich abgelehnt (62.8 % Nein-Stimmen) – und zwar in allen Zuger Gemeinden[6]. Immerhin, der geplante Bau hat den Kanton demnach nicht gespalten, vielmehr waren sich die Zuger und Zugerinnen offenbar einig in der Ablehnung. Das war angesichts der «Rekordzahl an Leserbriefen» und der emotional geführten Debatte nicht zu erwarten gewesen.[7]

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Der Ja-Anteil zum Zuger Stadttunnel in den elf Zuger Gemeinden.

 

Das Entscheidverhalten

Doch war das wirklich so? Haben alle Gruppen, Schichten und Klassen das Projekt mehrheitlich abgelehnt? Zu diesem Zweck haben wir das Entscheidverhalten der Zuger Befragten in der kürzlich durchgeführten 20 Minuten-Vorwahlumfrage nach Parteipräferenz, Alter, Geschlecht und Bildungsniveau aufgeschlüsselt. Für eine Interpretation der nachfolgend präsentierten Ergebnisse sind gewisse methodische Vorbemerkungen unbedingt nötig. Um den Lesefluss nicht zu hemmen, folgen diese erst am Ende des Artikels in der entsprechenden Box. Eines sei aber bereits an dieser Stelle gesagt: Weil es sich um eine Umfrage mit Selbstrekrutierung handelt, kann der Stichprobenfehler, d.h. der Bereich, in welchem der wahre Wert mit grösster Wahrscheinlichkeit (95%) zu liegen kommt, nicht angegeben werden.[siehe Methodik-Box] Die ausgewiesenen Werte sind demnach Punktschätzungen, von denen aber ausgegangen werden muss, dass auch sie innerhalb eines – allerdings unbekannten – Unschärfebereichs liegen. Wir sind deshalb so vorgegangen wie in den Vox-Nachanalysen: Es werden nur für diejenigen Merkmalsgruppen Stimmenanteile ausgewiesen, für die (real) mehr als 50 Fälle vorliegen.

Der Stimmentscheid zum Zuger Stadttunnel nach gesellschaftlichen und politischen Merkmalen (n=414).
Der Stimmentscheid zum Zuger Stadttunnel nach gesellschaftlichen und politischen Merkmalen (n=414).

Im links-grünen Lager wurde das Infrastrukturvorhaben wuchtig abgelehnt (86% Nein), wobei es in der Umfrage geringfügige Differenzen zwischen SP- und ALG-Wählern gab (erstere verwarfen den Stadttunnel weniger deutlich als letztere). Diese dürfen wegen der tiefen Fallzahl bestenfalls als Tendenz betrachten werden, auf keinen Fall sind sie jedoch als empirisch erhärteter Befund zu sehen. Bei der SVP-Wählerschaft war das Vorhaben zwar deutlich umstrittener als im links-grünen Lager, aber in der gewichteten Stichprobe lehnte auch die SVP-Wählerschaft das Anliegen ab (64% Nein), ebenso die Wähler der beiden Mitte-Parteien CVP und glp (61%). Die FDP-Anhänger waren in unserer Stichprobe die einzige Merkmalsgruppe, die den Tunnel mehrheitlich unterstützte (52 Prozent Ja-Stimmen). Ob es bei der FDP letztlich eine knappe Mehr– oder eine knappe Minderheit war, welche den Tunnel annahm, lässt sich aufgrund der vorliegenden Daten nicht genau bestimmen. Im Prinzip spielt das aber auch keine entscheidende Rolle: Denn auf jeden Fall hätte es deutlich mehr benötigt, um das Vorhaben an der Urne durchzubringen.party.affil.zug1

Differenzen zwischen den Geschlechtern

Männer nahmen das Projekt eher an (43%) als Frauen (31%). Jedoch hat das mit dem Geschlecht als solches wohl eher weniger zu tun, sondern – so zumindest die Vermutung – mit dem Besitz eines Personenwagens, dem Mobilitätsverhalten und allenfalls auch mit den politischen Haltungen. Auch hier sei aber darauf hingewiesen, dass der Tunnel weder bei den Zugern noch bei den Zugerinnen eine Mehrheit fand. Zuletzt gab es auch Unterschiede zwischen den Bildungsklassen, wobei Universitäts- und ETH-Abgänger die Vorlage nur knapp ablehnten, während Stimmende mit Matura sie deutlicher verwarfen. Zwischen den Altersgruppen gab es hingegen keine allzu grossen (bzw. systematischen) Unterschiede im Stimmverhalten.

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Die Kurzanalyse mit vier Variablen (andere Variablen wurden nicht erhoben) geht erwartungsgemäss nicht allzu sehr in die Tiefe – dazu hätte es weiterer Fragen zur Meinungsbildung, dem Mobilitätsverhalten, etc. bedurft. Aber sie zeigt, dass der Entscheid einerseits politisch motiviert war (Differenzen zwischen den Parteianhängerschaften), andererseits aber auch von nicht-politischen Faktoren (Geschlecht, Bildungsniveau), hinter denen wiederum Gründe wie das Mobilitätsverhalten, die Sparbereitschaft oder das Umweltbewusstsein stehen, abhängig war. Letztlich galt für den Zuger Stadttunnel was für viele gescheiterte Gesetzes- oder Initiativvorlagen gilt: Viele Jäger sind des Hasen Tod.

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Methodik: Die Daten wurden im Gefolge der 20 Minuten Online-Umfrage erhoben. Insgesamt nahmen über 23’000 Befragte an der Befragung teil, davon rund 500 aus dem Kanton Zug. 414 Befragte gaben an, sich am kantonalen Urnengang vom 14. Juni beteiligt zu haben. Die Befragung lief am 16. und 17. Juni 2015, demnach zwei bzw. drei Tage nach der Abstimmung vom 14. Juni. Bei den angegebenen Werten handelt es sich, sofern nicht anders angegeben, stets um gewichtete Werte. Die Angaben wurden dabei nach Zug-spezifischen Strukturdaten (zum Beispiel die Altersverteilung unter den Zuger Stimmberechtigten), politischen Variablen (zum Beispiel das Wahlverhalten an vergangenen und aktuellen Abstimmungen im Kanton Zug) gewichtet. Die Ergebnisse wurden zudem nach dem Abstimmungsergebnis gewichtet. Das ungewichtete Abstimmungsergebnis fiel in der Stichprobe im Übrigen knapper aus als real: 52 Prozent der Zuger Umfrageteilnehmer gaben an, die Vorlage abgelehnt zu haben. Die Abweichung zum effektiven Resultat beträgt demnach rund 11 Prozent. Wie gesagt, wurde diese Abweichung mittels Gewichtung korrigiert. Wir folgen hier der gängigen Gewichtungspraxis, wie sie etwa bei den Vox-Nachbefragungen angewendet wird. Die Abweichung von rund 11 Prozent ist nicht ungewöhnlich hoch. Bei der Vox-Nachbefragung zu einem anderen Infrastrukturvorhaben, FABI (9.2.2014), betrug die Abweichung zwischen dem ungewichteten Resultat im Sample und dem effektiven Ergebnis beispielsweise 10 Prozent, beim Raumplanungsgesetz (3.3.2013) waren es gar knapp 15 Prozent.

Die Anwendung inferenzstatistischer Verfahren setzt eine Zufallsauswahl voraus. Eine Zufallsauswahl wird dadurch definiert, dass jedes Element der Grundgesamtheit (in unserem Beispiel: jeder Zuger/Zugerin, der/die teilnahm) dieselbe Chance hat, Element der Stichprobe zu werden. Diese Voraussetzung wird von der vorliegenden Umfrage nicht erfüllt. Allerdings wird diese Bedingung auch von den allermeisten (Telefon-)Umfragen nicht erfüllt. Denn Stimmberechtigte mit einem nicht-registrierten Telefonanschluss – und ihre Zahl ist nicht gering – haben selbstredend keine Chance, Element der Stichprobe zu werden, zumindest dann nicht, wenn das offizielle Telefonverzeichnis der Swisscom die Liste der Grundgesamtheit darstellt. Letzteres ist aber bei den meisten Schweizer Telefonumfragen der Fall.

 

[1] Foto: «Of lights and tunnels» Flickr/Erik

[2] Dieser Wert wurde in anderen Gemeinden und Kantonen zwar ab und an übertroffen, aber auf nationaler Ebene gab es seit der EWR-Abstimmung keine Vorlage mehr, die eine höhere Beteiligung aufwies.

[3] Um was es beim Ressourcenindex geht, finden Sie hier.

[4a] Ob die Lastenverteilung genützt oder geschadet hat, lässt sich kaum sagen, denn dazu müsste man – ähnlich wie bei Wirkungsanalysen von Kampagnen, die sich häufig (auf sehr naive Weise) nur auf das Stimmergebnis abstützen – wissen, wie das Ergebnis ausgegangen wäre, wenn die Lasten anders verteilt worden wären. Vielleicht wäre der Stadttunnel in solch einem Fall ja noch deutlicher abgelehnt worden.

[4b] Siehe zum Beispiel «Stuttgart 21», respektive die Analyse des Abstimmungsverhaltens zu «Stuttgart 21».

[5] Die Stadt Zug wäre alleine für 100 Mio. CHF aufgekommen, während der Kanton 235 Millionen beigesteuert hätte.

[6] Der Artikel «Bauen in Zeiten des Sparens» der NZZ finden Sie hier.

[7] Die NZZ zum klaren Zuger «Nein».