Die politische Kompetenz des Schweizer Stimmvolks wird immer wieder in Frage gestellt, insbesondere nach überraschenden Volksentscheiden. Das Volk sei den immer komplexer werdenden Sachfragen einfach nicht mehr gewachsen, lauten die Unkenrufe. An dieser These sind Zweifel angebracht, denn die Empirie zeigt anderes.
Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind besonders stolz, direkt an der Urne über politische Sachfragen entscheiden zu können. Doch diese einzigartigen Mitbestimmungsrechte erfordern auch eine gewisse politische Involvierung: Um bei Sachabstimmungen einen rationalen Entscheid fällen zu können, muss man informiert sein und die zentralen Argumente sowie die Standpunkte der Konfliktparteien kennen. Immer wieder (und, so scheint es, immer häufiger) wird jedoch angezweifelt, dass das Gros des Stimmvolks über eine solche Vorlagenkompetenz verfügt. Erst kürzlich hiess es in einem Gastkommentar in der NZZ, dass «die wachsende Zahl komplexer Urnengänge zu einer Überlastung und Überforderung der Stimmbürger» führe.[1] Die These, dass die Stimmbürgerschaft materiell überfordert ist, wurde insbesondere im Zusammenhang mit dem Entscheid über die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) vorgebracht. Die überraschende Annahme der Vorlage erklärten einige der Abstimmungsverlierer damit, dass viele Initiativbefürworter nicht gewusst hätten, worüber sie im Detail abgestimmt haben. Zu diesen Kritikern gehörte beispielsweise auch der Deutsche Bundespräsident Joachim Gauck. Dieser warnte im Nachgang zum MEI-Votum, dass «die direkte Demokratie Gefahren bergen (kann), wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen».[2] Implizit steckt darin die Annahme, dass das Ja zustande kam, weil die Bürger von der Komplexität der MEI überfordert waren. Zunächst ist es keineswegs klar, ob eine grössere Informiertheit der Bürger zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Aber abgesehen davon stellt sich noch eine andere, viel grundlegendere Frage: Stimmt es überhaupt, dass die Bürger überfordert sind?

Zur politischen Informiertheit bei Schweizer Sachabstimmungen gibt es bereits einen umfangreichen Fundus an Literatur.[3] Die Frage, ob sich die Stimmbürger mit ihren direktdemokratischen Verpflichtungen immer schwerer tun, blieb bislang unbeantwortet. Tatsächlich konnte (oder wollte) bis dato kaum jemand die These der zunehmenden Überforderung empirisch belegen. Sie ist fast zu einer Art Axiom der Kritiker der direkten Demokratie geworden – also ein Grundsatz, der nicht weiter begründet werden muss. Doch es muss nicht zwingend bei Spekulationen und Annahmen bleiben. Es gibt eine Fülle an Datenmaterial, aufgrund dessen man sich einer empirischen Beantwortung dieser Frage zumindest annähern kann. Die empirische Messung der Informiertheit bei Sachabstimmungen ist allerdings kein leichtes Unterfangen. Wir haben deshalb auch nicht den Anspruch, die obigen Fragen endgültig zu beantworten. Aber wir wollen im vorliegenden Beitrag zumindest einige empirische Fakten dazu vorlegen.
Ein «Goldstandard» der Informiertheit wäre normativer Natur
Ein Problem besteht darin, dass es nicht möglich ist, das genaue Mass an ausreichender politischer Informiertheit zu bestimmen: Es gibt keinen allgemein gültigen Schwellenwert, der uns erlauben würde, zu beurteilen, ob ein Stimmbürger genügend informiert ist, um einen rationalen Entscheid zu fällen. Ein solcher «Goldstandard» der Informiertheit wäre zudem zwangsläufig normativer Natur und damit stets offen für die Kritik, nicht objektivierbar zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die Informiertheit empirisch nicht untersuchen kann. Der Vergleich verschiedener Vorlagen erlaubt relative Aussagen, die durchaus objektivierbar sind. Voraussetzung ist ein Indikator, der die Informiertheit zwischen den zum Teil ganz unterschiedlichen Abstimmungen und Vorlagen (möglichst) ähnlich bzw. im Idealfall genau gleich erfasst. Einen solchen Index möchten wir hier vorschlagen. Er setzt sich aus drei Fragen zusammen, die bei den Vox-Nachbefragungen regelmässig gestellt werden: nach dem Titel und dem Inhalt der Vorlage sowie die Motivfrage (zur Methodik siehe Kasten am Schluss des Artikels). Dieser Index hat – wie jeder andere auch – seine Schwächen. Alles in allem misst er jedoch die Informiertheit auf eine sehr systematische Art und Weise und ermöglicht somit einen verlässlichen Vergleich zwischen den Vorlagen.
Für diesen Beitrag verglichen wir auf diese Weise die Informiertheit zu allen Sachabstimmungen zwischen 1998 und 2014. Die nachfolgende Abbildung zeigt zunächst, dass die Informiertheit zwischen den Vorlagen stark variiert. Das war zu erwarten und dürfte niemanden überraschen: Das vorlagenspezifische Wissen ist selbstverständlich auch vom Thema der Vorlage abhängig.[4]

Wenn wir nun den durchschnittlichen Informiertheitsscore für jede einzelne Vorlage ermitteln und daraus einen gleitenden 10-Vorlagen-Durchschnitt bilden, wie wir das an anderer Stelle auch schon für die Erfolgsrate von Initiative getan haben, so wird schon viel eher ein Muster erkennbar. Und dieses Muster entspricht nicht der These der zunehmenden Überforderung der Stimmbürger. Im Gegenteil: Die Informiertheit nimmt tendenziell eher zu. Bei der Interpretation ist natürlich Vorsicht geboten. Wie gesagt, die Informiertheit ist von mancherlei Kontextfaktoren abhängig: Beispielsweise von der materiellen Komplexität der Vorlage oder der Kampagnenintensität. Der Anstieg in der Informiertheit mag deshalb auch damit zu tun haben, dass in jüngerer Vergangenheit vermehrt über sehr intensiv beworbene Vorlagen abgestimmt wurde. Auf jeden Fall lässt sich die These der zunehmenden materiellen Überforderung der Stimmbürger aber stark anzweifeln.

Der Absturz Ende 2003 hat im Übrigen einen einfachen Grund, der die Schwäche des hier verwendeten Index aufzeigt: Eine der drei Vox-Fragen, die in die Messung des vorlagenspezifischen Wissens eingeflossen ist, fragte nach dem Titel der Vorlage. Am 18. Mai 2003 wurde nun über die Rekordzahl von neun Vorlagen abgestimmt. In der Nachbefragung fiel es den Befragten anschliessend schwer, sich an alle neun Vorlagen zu erinnern. Entsprechend fielen auch die an diese Frage geknüpften Informiertheitswerte ernüchternd aus. Dieser drastische Absturz in der Informiertheit ist also – zumindest zum Teil – auf eine suboptimale Messung zurückzuführen. Das Erinnerungsvermögen, das bei der Titelfrage mitgemessen wird, ist allerdings nicht unabhängig von der Informiertheit.[5] Die Faustregel lautet, dass man sich an Vorlagen, mit denen man sich detailliert auseinandergesetzt hat, auch erheblich besser erinnern kann als an Vorlagen, über die man kaum informiert war. Erinnerungsvermögen und Informiertheit sind demnach nicht unabhängig voneinander. Aber es ist auch klar, dass bei neun Vorlagen kaum mehr die Informiertheit, sondern im Prinzip nur noch die Erinnerungsfähigkeit gemessen wird.
Wie gut war das Elektorat vergleichsweise informiert…
Über welche Vorlagen waren die Stimmbürger nun gut und über welche waren sie vergleichsweise schlecht informiert? Nochmals: Unsere Aussagen sind vergleichende Aussagen. Wir sagen nicht, dass die Stimmbürger bei dieser Vorlage ausreichend, bei jener jedoch ungenügend informiert waren. Wir sagen bloss, dass die Stimmbürger bei dieser Vorlage besser informiert waren als bei jener Vorlage. Dazu haben wir Ranglisten der zehn Vorlagen mit der höchsten bzw. der tiefsten Informiertheit erstellt.
Unter den Top Ten sind vor allem Initiativen mit materiell wenig komplexen Forderungen zu finden (Volkswahl des Bundesrates, 18-Prozent-Initiative oder Minarettverbot). Das heisst nicht zwingend, dass der konkrete Gesetzes- oder Verfassungstext dieser Initiativen immer einfach verständlich und alltagsnah war. Bei der Abzockerinitiative beispielsweise ging es um vergleichsweise komplexe Änderungen des Aktienrechts, mit dem die Stimmbürger wohl kaum tagtäglich zu tun haben. Auch der Vorlagentext zu den Bilateralen I war umfangreich und teilweise hochkomplex. Aber die Stimmbürger wussten, worum es prinzipiell ging, wie die geläufigen Argumente lauteten und wo sich die Parteien in diesem Konflikt positionierten. Man kann nun argumentieren, dass dies noch lange nicht ausreicht, um als «informiert» zu gelten. Doch die umfangreiche Literatur zu Heuristiken und zu correct voting hat gezeigt, dass diese Informationsbits oft genügen, um einen rationalen Entscheid zu fällen, von dem man auch dann nicht abweichen würde, wäre man (noch) besser informiert. Übrigens: Die MEI hat es nicht ganz in die Top Ten geschafft; sie rangiert auf Platz 13 (von 147 Vorlagen). Aber auch das reicht aus, um die MEI als eine Abstimmung mit vergleichsweise hoher Informiertheit bezeichnen zu können.[6] Auch das ist nicht verwunderlich: Pascal Sciarini und Lionel Marquis haben schon vor Jahren aufgezeigt, dass das Schweizer Stimmvolk in keinem anderen Sachbereich so gut informiert ist wie in der Aussenpolitik.[7]
… und wie schlecht?
Kaum Bescheid wussten die Stimmbürger über Themen, die ohnehin nur wenig umstritten waren oder einen sehr technischen Inhalt hatten. Dazu gehört etwa die Neue Finanzordnung, die Spezialfinanzierung des Flugverkehrs oder die den meisten Stimmbürgern höchst alltagsferne Justizreform. Die allgemeine Volksinitiative ist gleich zweimal in den Bottom Ten enthalten. Sowohl bei ihrer Einführung wie auch bei ihrer Abschaffung wussten nur wenige, worüber sie eigentlich abstimmten. Bezeichnenderweise wurde die allgemeine Volksinitiative mit ganz ähnlichen Ja-Anteilen an der Urne zuerst eingeführt und anschliessend wieder abgeschafft – ein eindrückliches Beispiel für die Einflussmöglichkeiten von Regierung und Parteien. Etwas anderes zeigt diese Rangliste aber auch: Uninformiert waren die Stimmbürger vor allem bei Themen, die eine sehr geringe Konfliktivität aufwiesen und bei denen sie höchstwahrscheinlich auch gleich abgestimmt hätten, wären sie besser informiert gewesen. Tiefe Informiertheit ist somit noch nicht zwingend eine Gefahr für die Demokratie. Und über brisante Themen – wie die Zuwanderungspolitik – ist das Stimmvolk ohnehin vergleichsweise gut informiert.
Dossier:
Hier geht es zum Gastkommentar in der NZZ.
[1]An dieser Stelle warnt Joachim Gauck vor den Gefahren der direkten Demokratie.
[2]Handbuch der Abstimmungsforschung» auf den Seiten 263-282.
[3] Für eine Zusammenfassung lesen Sie das Buch «Handbuch der Abstimmungsforschung» auf den Seiten 279-282.
[4] Wovon das Wissen einer Vorlage abhängt, finden Sie im « [5] Lesen Sie zum BeispielBeitrag in der SPSR.
[6] Siehe hierzu folgendenHier finden Sie den Artikel von Sciarini und Marquis.
[7]Beitrag in der SPSR.
[8] Drei Vox-Fragen wurden zur Messung des Informiertheitsniveaus bei Abstimmungen verwendet: 1) Die Frage, worüber am letzten Abstimmungswochenende abgestimmt wurde. 2) Die Frage nach dem Inhalt der Vorlage und 3) die Frage nach den Gründen für das JA bzw. NEIN. Bei den letzten beiden Fragen wurden allgemeine Aussagen, die Befolgung von Stimmempfehlungen und «Weiss nicht»-Antworten als uninformiert klassifiziert, substanzielle Antworten – unabhängig vom Differenzierungsgrad – hingegen als informiert. Detailliertere Angaben zur Operationalisierung finden sich in diesem [9] Foto: