
Am 27. November 2016 wird nicht zum ersten Mal über die Kernenergie abgestimmt. Wie gingen ähnliche Abstimmungen in der Vergangenheit aus und was erschliesst sich daraus für den kommenden Abstimmungssonntag?
Am 27. November 2016 wird einzig über die Atomausstiegsinitiative befunden. Dieser Umstand ist nicht ganz unbedeutend, wie Hanspeter Kriesi in einem Beitrag aufzeigen konnte.[2] Denn: Je geringer die Anzahl Vorlagen pro Urnengang, desto höher – ceteris paribus – die Vorlagenkenntnis. Höhere Vorlagenkenntnis, so Kriesi, nütze grünen Anliegen jedoch. Daneben sind auch schon erste Umfragewerte bekannt: Sowohl die erste Tamedia-Umfrage wie auch die erste SRF-Trendumfrage weisen eine mehrheitliche Zustimmung aus (55 bzw. 57 Prozent). Wie aber ist es Atomausstiegs- und Moratoriumsinitiativen in der Vergangenheit ergangen?

UNd Was sagt uns der «Nationalrats-Prädiktor»?
Bereits im Vorfeld der Service Public-Initiative haben wir ein sehr einfaches Modell zur Voraussage von Abstimmungsergebnissen vorgestellt, das lediglich auf dem Abstimmungsergebnis bei der entsprechenden Schlussabstimmung im Nationalrat aufbaut. Damals war die Modellprognose für alle vier Sachfragen des entsprechenden Urnenganges ganz ordentlich. Die Abbildung unten zeigt aber, dass das Modell auch ganz gehörig daneben liegen kann. Vor allem im rechten, unteren Quadranten der Abbildung finden wir einige Vorlagen, die im Nationalrat zwar eine Mehrheit erzielten, aber anschliessend am Volksnein scheiterten – und dies in einigen Fällen sehr deutlich. Der gegenteilige Fall indessen – Vorlagen, die der Nationalrat ablehnte, die beim Volk jedoch eine mehrheitliche Zustimmung fanden – trat selten ein. Genau solch ein Fall wäre nötig, damit die Atomausstiegsinitiative angenommen würde.

Der Gedanke, das Ergebnis der Schlussabstimmung im Parlament als Prädikator für das Abstimmungsergebnis zu verwenden, ist keineswegs abwegig. Denn das Parlament, in erster Linie der im Proporz gewählte Nationalrat, repräsentiert das Elektorat und somit auch dessen politische Präferenzen. Nicht umsonst heisst es ja, das Parlament sei das Forum der Nation, weshalb sich in einem Parlamentsentscheid auch der «Volkswille» widerspiegeln sollte. Wenn es also zutrifft, dass das Parlament eine Art «Miniatur» der politischen Schweiz ist, so müsste doch die parlamentarische Schlussabstimmung zu einer Vorlage ein «Vorbote» der nachfolgenden Volksabstimmung sein – wenn man so will, eine Art «Vorab-Simulation» des Abstimmungsergebnis. Hinzu kommt folgendes: Wir dürfen davon ausgehen, dass der Entscheidfindungsprozess, den die Parlamentsmitglieder vor der nationalrätlichen Schlussabstimmung durchmachten, nun auch beim Stimmvolk einsetzen wird und – vorausgesetzt, das Parlament widerspiegelt die politischen Präferenzen ihrer Wähler und Wählerinnen – zu einem ähnlichen Ergebnis führen wird. Gewissermassen nimmt das Nationalratsergebnis den (noch einsetzenden) Meinungsbildungsprozess des Stimmvolkes vorweg. Und nicht nur der Meinungsbildungsprozess wird im Nationalratsergebnis vorweggenommen, auch der Abstimmungskampf wird dort schon vorgezeichnet: Denn eine Vorlage, die im Parlament kaum Unterstützung findet, wird in den meisten Fällen auch im Abstimmungskampf keine finanzielle Unterstützung erhalten – und umgekehrt. Klar, das ist kein Naturgesetz und es lassen sich stets auch Gegenbeispiele finden. Aber in der Tendenz stimmt die Aussage. Das Nationalratsergebnis nimmt demnach die Verteilung der Kampagnenbudgets auf gewisse Weise vorweg und spurt so die noch folgende Meinungsbildung vor.
Wie sah es nun aber bei den vier Kernenergie-Vorlagen aus, über die 1990 und 2003 abgestimmt wurde (die Vorlagen aus den Jahren 1979 und 1984 wurden nicht berücksichtigt)? Sie alle lagen nicht allzu weit von der Schätzlinie entfernt. Am weitesten vom modellgeschätzten Ergebnis entfernt liegt die Moratoriumsinitiative von 1990. Just diese Initiative wurde auch angenommen – und dies trotz ablehnender Haltung des Nationalrats. Wir können also jetzt schon sagen: Eine Überraschung ist nicht auszuschliessen, denn einen solchen Fall gab es tatsächlich schon einmal. Allerdings ging es um ein Moratorium und nicht um einen Ausstieg aus der Kernenergie. Die gleichzeitig vorgelegte Ausstiegsinitiative von 1990 wiederum lag ebenfalls über dem Schätzergebnis, zu einem Volksja reichte es aber nicht. Die beiden Vorlagen aus dem Jahre 2003 hingegen schnitten deutlich schlechter ab, wahrscheinlich auch deshalb, weil an jenem Abstimmungssonntag über die Rekordzahl von neun Vorlagen entschieden wurde. Die damalige Vox-Analyse zeigte, dass das Informiertheitsniveau an jenem Urnengang generell tief war und eine nicht unerhebliche Zahl von Stimmenden gleich alle neun Vorlagen (sieben Volksinitiativen aus dem linken Lager und zwei Behördenvorlagen) in toto ablehnte. Sie entschieden sich somit für die die Status-Quo-Option, die man vor allem dann wählt, wenn man von dem Vorlageninhalt oder, in jenem Fall, von der schieren Überzahl an Vorlagen überfordert ist.
Unsere Vermutung lautet deshalb, dass Atomausstiegsvorlagen tendenziell besser abschneiden als es das Nationalratsmodell prognostiziert. Um aber das «kleine Moratoriumswunder» von 1990 zu wiederholen, müsste sich rein statistisch gesprochen ein grösseres Wunder ereignen als damals. Denn die Moratoriumsinitiative von damals «startete» mit 41 Prozent Zustimmung im Nationalrat (und betraf ein Moratorium und nicht einen Ausstieg aus der Atomenergie). Die aktuelle Atomausstiegsinitiative startete mit rund 30 Prozent Zustimmung und hat damit einen Rückstand von rund zehn Prozentpunkten zu damals aufzuholen.
Thomas Milic und Thomas Willi
[2] Mehr dazu lesen Sie auf im Beitrag zur Atomausstiegsinitiative von 50+1.