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Tag: Abstimmungen

Die wahren Volksvertreter

Was würde sich ändern, wenn bloss Parteilose an Abstimmungen teilnehmen würden? Die Antwort lautet: So gut wie nichts. Denn Parteiungebundene stimmen in aller Regel so ab wie die Gesamtheit aller Stimmenden. Sie sind der perfekte Durchschnitt.

Bürgerinnen und Bürger mit einer starken Parteiverbundenheit wissen oft von Anfang an, wie sie bei einer Sachfrage entscheiden werden: Nämlich so, wie es ihre bevorzugte Partei empfiehlt. Nicht zwingend deshalb, weil sie die entsprechenden Parteiparolen gedankenlos umsetzen, sondern vielmehr weil sie die fundamentalen Wertvorstellungen ihrer Partei teilen. Denn es muss ja einen Grund geben, weshalb man sich just mit dieser und nicht einer anderen Partei identifiziert. Und dieser Grund dürfte oftmals darin liegen, dass die Parteisympathisanten sich mit den politischen Grundüberzeugungen ihrer bevorzugten Partei zu identifizieren vermögen. Gewiss, diese Übereinstimmung wird nicht bei allen Sachfragen gleich hoch sein, aber gerade bei den wichtigen politischen Themen der Zeit ist sie wohl gegeben.

So weit, so gut. Das Problem an den überzeugten Parteigebundenen ist, dass ihre Präferenzen häufig so vorhersehbar, unverrückbar und starr sind. Ihre Meinungen sind längst gemacht, bevor die Kampagnen loslegen. Was gut für Prognostiker ist – Abstimmungen, an denen nur solch disziplinierte Parteigebundene teilnehmen würden, wären sehr viel einfacher zu prognostizieren[2] – ist nicht sonderlich hilfreich für die Chancen von politischem Wandel: Gäbe es bloss dogmatische Parteisoldaten, die sich diszipliniert an die Parteilinie halten, so gäbe es keinen bzw. kaum einen politischen Wandel. Denn die Fronten zwischen den Parteien und den Parteianhängern sind bei politischen Kernfragen verhärtet und starr.

Wie wäre es, wenn wir bloss Parteiunabhängige abstimmen lassen würden?

Parteiunabhängige hingegen folgen keiner Ideologie und keinem unverrückbaren, politischen Überzeugungssystem, sondern sind flexibel und ungebunden. Wie üblich, kann man dieselbe Sache auch negativ sehen. In solch einem Fall würde man diese Flexibilität als «Beliebigkeit» oder «Wischi-Waschi» bezeichnen. Aber bleiben wir doch beim positiven Narrativ der Parteiungebundenen: Auf jeden Fall fällt bei Parteiungebundenen der Druck weg, die eigene Partei bei Sachabstimmungen – koste es, was es wolle – unterstützen zu müssen. Die Parteigebundenen sind da bekanntlich anders. Parteiidentifikation im Sinne der Vorväter des sozialpsychologischen Ansatzes[3] meint nämlich eine affektive, emotionale Bindung an die eigene Partei – ähnlich wie ein Fussballfan, der seit Kindesbeinen seinen Verein unterstützt, manchmal gar ohne sich zu erinnern, wo und wie seine Liebe zu diesem Verein begann (wahrscheinlich: intergenerationelle Transmission oder «Vererbung» sowohl des bevorzugten Fussballvereins wie auch der politischen Partei). Und wir alle wissen, dass Fussballfans ihr Team treu unterstützen, selbst dann, wenn es grottenschlecht, langweilig und ein völlig unattraktives Spielsystem spielt. Treue Fussballfans nehmen zudem jeden, noch so ungerechtfertigten Elfmeter gerne entgegen, falls er zum Sieg verhilft. Hauptsache gewonnen.

ParteiSOLDATEN sind wie Fussballfans

Nicht wenige Parteigebundene verhalten sich ähnlich. Sie wollen «ihr» Team, also ihre Partei, an der Abstimmung gewinnen sehen – und zwar häufig auch in jenen Fällen, in denen sie von der Kampagne oder Position ihrer Partei nicht wirklich überzeugt sind. In der Tat belegen Studien, dass im Konfliktfall – also wenn die eigene Überzeugung und die Parteilinie bei einer Sachfrage auseinander fallen – mehrheitlich der Parteilinie der Vorzug gegeben wird.[4] Und es gibt noch eine andere Parallele zur Fussballwelt: Parteigebundene wollen das gegnerische Team verlieren sehen. Ist eine Niederlage des Gegners manchmal nicht noch viel süsser als der Sieg der eigenen «Boys»? Was den Parteianhängern Glücksgefühle verschafft, muss aber nicht zwingend gut sein für die Politik. Denn dort geht es um konkrete Sachfragen, über die in einer modellhaften Demokratie nüchtern, rational, abwägend und unabhängig von Zugehörigkeitsgefühlen entschieden werden sollte.

Warum also nicht bloss die Parteiunabhängigen abstimmen lassen? Keine Bange, es ist bloss ein Gedankenexperiment. Selbstverständlich wäre eine solche Forderung absurd und völlig unrealistisch – wenngleich: derzeit sind auch andere, reichlich unrealistische Forderungen zur Reform der Demokratie ernsthaft im Gespräch (z.B. die Losdemokratie, Abkehr vom Prinzip «one (wo)man, one vote» und ein doppeltes Stimmrecht für «vernünftige» Stimmbürger, etc.). Und deshalb fragen wir mit gutem Gewissen: Wie stimmen die Parteiunabhängigen denn erfahrungsgemäss ab? Die Antwort ist doch etwas verblüffend: So wie die Gesamtheit der Stimmenden. Sie sind der perfekte Durchschnitt.

Wie die obige Abbildung zeigt, folgt die Regressionsgerade des Entscheids der Parteiunabhängigen beinahe haargenau der Anpassungslinie für alle Stimmenden. Mit anderen Worten: Meistens ist der Ja-Stimmenanteil unter den Parteiunabhängigen identisch oder zumindest in der Nähe des Zustimmungswertes aller Stimmenden. Das ist keineswegs überall so: Bei den vier Bundesratsparteien (siehe erste vier Panels der oberen Abbildung) verhält es sich beispielsweise anders. Ihre Anhängerschaften stimmen zum Teil ganz anders ab als die Gesamtheit der Teilnehmenden. Selbst die CVP, die regelmässig Auszeichnungen dafür erhält[5], mit ihren Parteiparolen am nächsten beim tatsächlichen Stimmentscheid gelegen zu haben, ist – was «Volksnähe» betrifft – meilenweit von den Parteiunabhängigen entfernt. Die Parteiunabhängigen sind die viel repräsentativere Miniaturversion des Elektorats als jede andere Parteianhängerschaft.

Die Antwort ist verblüffend: Sie sind der perfekte Durchschnitt.

Das hat zunächst einmal ganz profane, mathematische Gründe: Denn die Gruppe der Parteiunabhängigen ist oftmals die zahlenmässig grösste Gruppe unter den Stimmenden. «Oftmals» deshalb, weil ihr Anteil am Stimmkörper ziemlich stark variiert – einerseits abhängig von der Definition dessen, was ein Parteigebundener ist[6] und andererseits auch abhängig davon, wann[7] und wie[8] gemessen wird. Im Schnitt beläuft sich der Anteil Parteiungebundener im Stimmkörper zwischen rund 20-45 Prozent. Es leuchtet wohl sofort ein, dass der Entscheid der (vielfach) grössten Gruppe unter den Stimmenden, also den Parteiunabhängigen, logischerweise auch am gewichtigsten in den Entscheid aller Stimmenden einfliesst. Aber so gross ist die Gruppe der Parteiunabhängigen auch wieder nicht, dass sie den Entscheid der Gesamtheit gleichsam determinierten würde. Wie gesagt, zuweilen sind sie noch nicht einmal die zahlenmässig grösste elektorale Gruppe. Der Grund für die starke Übereinstimmung zwischen dem Entscheid der Gesamtheit und dem Entscheid der Parteiunabhängigen liegt somit auch zu einem erheblichen Teil daran, dass sie im Aggregat den perfekten oder gutschweizerischen Durchschnitt bilden. Das wiederum bedeutet, dass sie demnach auch kein allzu starker Treiber für politischen Wandel sein können. Das ist möglicherweise mit ein Grund dafür, dass die politische Schweiz so stabil ist.

Thomas Milic und Thomas Willi

[1] Foto: Keystone

[2] Man stelle sich beispielsweise vor, dass bei einer Europa- oder migrationspolitischen Vorlage nur die Anhängerschaften der SP und SVP teilnehmen würden. In solch einem Fall könnte man schlicht die Wähleranteile der beiden Parteien auf den Stimmkörper übertragen und hätte – übergespitzt formuliert – das Ergebnis schon.

[3] Angus Campbell, Philip Converse, Warren Miller, and Donald Stokes. Siehe dazu ihr bahnbrechendes WerkThe American Voter.

[4] Siehe dazu beispielsweise Dalton 2002, Milic 2008, 2010, Selb et al. 2009, Sciarini und Tresch 2009.

[5] Lesen Sie hier mehr dazu.

[6] Wofür steht Parteigebundenheit oder Parteiidentifikation? Wie gesagt, die Begründer dieses Konzepts, die Autoren des American Voter, definierten Parteiidentifikation als affektive, stabile Bindung zu einer Partei, die aber nicht zwingend übereinstimmen muss mit der Wahl dieser Partei. In den USA wird dieses Konstrukt mittlerweile zumeist in der Form einer Likert-Skala gemessen mit den Polen Republikaner und Demokraten, wobei es dazwischen graduelle Ausprägungen der Verbundenheit gibt. Beispielsweise werden Personen, die sich häufig erst auf ein wiederholtes Nachfragen hin zu einer Partei bekennen, als «Leaners» bezeichnet. In der Mitte dieser Skala sind die Independents, die sich keiner Partei zugehörig fühlen. In der Schweiz wird die Parteigebundenheit mit unterschiedlichen Fragen gemessen. In diesen Frageformulierungen kommen unterschiedliche Sichtweisen davon, was die Parteisympathie bedeutet, zum Ausdruck. Deshalb variieren die Anteile der Parteiungebundener zwischen den Erhebungen zum Teil drastisch.

[7] Kurz vor und unmittelbar nach den Wahlen ist der Anteil Parteigebundener jeweils höher.

[8] Es gibt nicht nur unterschiedliche Formulierungen, um die Parteiidentifikation zu messen. Auch die Strategien unterscheiden sich: Bei gewissen Befragungen wird bei jenen, die auf die erste Frage nach der Parteiidentifikation mit “keine Partei” oder «Weiss nicht» antworteten, jeweils nachgefragt, ob es nicht doch eine Partei gibt, der man nahe steht. Bei anderen Befragungen wird darauf verzichtet. Es ist aber klar, dass der Anteil Parteiungebundener bei der ersten Strategie geringer ist als bei der zweiten Strategie.

Von der Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger

Oft wird spekuliert, ob die steigende Anzahl und Komplexität von Abstimmungsvorlagen zu einer Überforderung der StimmbürgerInnen führt. Im Rahmen einer Forschungsarbeit konnte Thomas Reiss nachweisen, dass die Überforderung mit Zunahme der Anzahl Vorlagen einhergeht. Der vorliegende Gastbeitrag zeigt, dass das negative Auswirkungen auf den Stimmentscheid hat.

Die Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 hat aufgrund der Komplexität der Vorlage eine alte Frage neu gestellt: Was bedeutet eine allfällige Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für den Stimmentscheid?[2] Nicht nur die Komplexität einer Vorlage, sondern auch die Anzahl Vorlagen, über die an einem Abstimmungssonntag befunden wird, erhöhen den  Informationsaufwand für die Abstimmenden. Nicht zu Unrecht wurde die Schweiz auch schon «the unchallenged champions in national referendums»[3] genannt, wobei diese Aussage die föderalen Ebenen der Kantone und Gemeinden, auf denen oft parallel zu den nationalen Vorlagen auch Abstimmungen stattfinden, nicht einmal in Betracht zieht. Die Frage stellt sich also, ob Bürgerinnen und Bürger überfordert sind, und wenn ja, inwiefern sich das auf ihren Stimmentscheid auswirkt.

Für diese Forschungsarbeit interessiert mich vor allem die Anwendung der sogenannten Status Quo-Heuristik, eine Entscheidhilfe, die vor allem von schlecht informierten Abstimmenden verwendet wird. Diese wissen oft nicht was die Konsequenzen der Annahme einer Vorlage sind. Wenn sich eine Person kein Bild über die Folgen einer Annahme einer Vorlage machen kann, tendiert sie eher dazu die Vorlage abzulehnen, denn die Folgen der Ablehnung, den Status Quo, kennt sie besser.[4]

Zur Beantwortung der Frage, ob schlecht informierte Personen eher Nein stimmen als gut informierte, habe ich sämtliche Abstimmungen von Januar 2009 bis und mit Juni 2016 anhand Vox und VoxIt Daten untersucht.

Um als gut informiert zu gelten, musste die Person in der Lage sein den Inhalt sowie einen Grund angeben zu können. Um in die mittlere Kategorie zu fallen, mussten die TeilnehmerInnen entweder den Inhalt oder einen validen Grund angegeben haben, solche die weder noch angeben konnten, wurden als schlecht informiert codiert.

Die erste Grafik zeigt die vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten, ob eine Person in eine der drei Kategorien der Informiertheit fällt, für alle drei Arten von Vorlagen. Grün steht für gut informierte, gelb für mittel informierte und rot für schlecht informierte Personen. Einerseits fällt auf, dass eine grosse Mehrheit gut informiert war (grün), andererseits ist klar zu erkennen, dass mit einer zunehmenden Anzahl Vorlagen pro Abstimmungstermin die Wahrscheinlichkeit in die Kategorie gut informiert zu fallen abnimmt, während umgekehrt die Wahrscheinlichkeit in die mittlere Kategorie (gelb) oder in die schlecht informierte Kategorie (rot) zu fallen, steigt. So waren bei der Milchkuh-Initiative am 5. Juni 2016, als über fünf nationale Vorlagen abgestimmt wurde, lediglich 58.6% der Personen aus der Vox Stichprobe gut informiert und 13.9% schlecht informiert. Bei der Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» über die am 13. Februar 2011 als einzige Vorlage abgestimmt wurde, waren 89.1% gut informiert und nur 0.5% schlecht informiert. Zusätzlich fällt auf, dass die Informiertheit bei fakultativen Referenden am grössten ist und bei obligatorischen Referenden am tiefsten. Wenn also von Gesetzes wegen abgestimmt wird, wissen Stimmende wenig über den Inhalt der Vorlage. Fakultative Referenden sind häufig konfliktiver, da ein Akteur es aktiv verlangen muss, was mit hohen Kosten verbunden ist. Deshalb werden fakultative Referenden nur ergriffen, wenn der Akteur sich realistische Chancen auf Erfolg ausrechnet. Da die Abstimmung als knapp antizipiert wird, wird die Kampagne auf beiden Seiten intensiviert, was die höhere Informiertheit erklärt. Um zur Ausgangsfrage zurückzugehen: Die Abstimmenden sind insofern mit dem Inhalt der Vorlagen überfordert, dass ihr vorlagen-spezifisches Wissen mit einer zunehmenden Anzahl an Vorlagen abnimmt.

Die zweite Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeit für jede Ausprägung der Informiertheit auf den Stimmentscheid für die drei Vorlagentypen. Personen mit schlechter Informiertheit weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich für ein Nein zu entscheiden, als Personen, die gut informiert waren. Die Zustimmung für Initiativen ist in zweiten Grafik viel tiefer als für obligatorische Referenden, was auf darauf zurückzuführen ist, dass Initiativen oft von politischen Aussenseitern kommen, und deshalb selten angenommen werden. In obligatorischen Referenden hingegen ist die Zustimmung relativ gross, da es oft konfliktarme Vorlagen sind, die häufig angenommen werden. Dies deutet darauf hin, dass selbst schlecht informierte Personen nach Vorlagenart unterscheiden können, und so die einheitlichen Elitensignale bei obligatorischen Referenden erkennen und entsprechend stimmen.

Die Anzahl Vorlagen pro Abstimmungssonntag hat einen direkten Einfluss auf die Informiertheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, wobei diese wiederum einen Einfluss auf die Annahme bzw. Ablehnung einer Vorlage hat. Wir können also festhalten, dass eine gewisse Überforderung festzustellen ist und sich diese negativ auf den Stimmentscheid auswirkt.

Thomas Reiss

Thomas Reiss studiert Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

[1] Parolen für eidgenössische Urnengänge werden in der Regel von den Delegiertenversammlung gefasst. Zuweilen formulieren aber auch andere Organe Empfehlungen (z.B. Zentralvorstand bei der SVP, etc.).

[2] Die NZZ zur Überforderung.

[3] Christin, Thomas, Simon Hug, and Pascal Sciarini. 2002. Interests and information in referendum voting: An analysis of Swiss voters. European journal of political research 41: 759–776.

[4] Kriesi, Hanspeter. 2005. Direct democratic choice: The Swiss experience. Political Science. Lanham, Md: Lexington Books.

[5] Foto | Flickr

 

 

Die Chancen der Chancenlosen

Kaum eine Initiative hat so wenig parlamentarischen Support erhalten wie die Service Public-Initiative. Im Stimmvolk scheint sie derzeit jedoch deutlich besser anzukommen. Wir haben dies zum Anlass genommen, der Frage nachzugehen, wie gut man von der Schlussabstimmung im Parlament auf das nachfolgende Abstimmungsergebnis schliessen kann. Dabei zeigt sich: Die Stimmabsichten des Volkes nähern sich während des Abstimmungskampfes oft dem Parlamentsergebnis an.

Am 5. Juni 2016 gelangen zwei Initiativen zur Abstimmung, die bei den entsprechenden Schlussabstimmungen im National- und Ständerat chancenlos waren: Zum einen die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen, die im Nationalrat 19 und im Ständerat gerade mal eine Stimme auf sich vereinigen konnte. Zum anderen die Service Public-Initiative, welche bei den Schlussabstimmungen gar gänzlich leer ausging. Geradezu sensationell muten deshalb die vorläufigen Stimmabsichten zur Service Public-Initiative an: Sowohl die Tamedia-Umfrage wie auch die SRF-Trendumfrage weisen eine aktuelle Zustimmung von 58 Prozent aus. Bahnt sich hier ein epischer Eliten-Basis-Konflikt an? Oder noch etwas genereller formuliert: Wie gut taugen die Parlamentsabstimmungen dazu, Abstimmungsergebnisse zu prognostizieren und was folgert daraus für den kommenden Urnengang vom 5. Juni?

Widerspiegeln Parlamentsentscheide den «Willen» des Stimmvolkes?

Der Gedanke, das Ergebnis der Schlussabstimmung im Parlament als Prädiktor für das Abstimmungsergebnis zu verwenden, ist keineswegs abwegig. Denn das Parlament, in erster Linie der im Proporz gewählte Nationalrat, repräsentiert das Elektorat und somit auch dessen politische Präferenzen. Nicht umsonst heisst es ja, das Parlament sei das Forum der Nation, weshalb sich in einem Parlamentsentscheid auch der «Volkswille» widerspiegeln sollte. Wenn es also zutrifft, dass das Parlament eine Art «Miniatur» der politischen (Gesamt-)Schweiz ist, so müsste doch die parlamentarische Schlussabstimmung zu einer Vorlage ein «Vorbote» der nachfolgenden Volksabstimmung sein – wenn man so will, eine Art «Vorab-Simulation» des Abstimmungsergebnis. Stimmt das? Dazu haben wir den Zusammenhang zwischen dem Ergebnis in der Schlussabstimmung im Nationalrat und dem Abstimmungsergebnis für alle Vorlagen seit der EWR-Abstimmung untersucht.

schlussabst_ergebnis

Die Schlussabstimmung im Parlament ist kein überragender, aber durchaus brauchbarer Prädiktor für das Abstimmungsergebnis. Das entsprechende Regressionsmodell weist einen R-Quadrat-Wert von .48 auf.  Das reicht natürlich bei Weitem nicht aus, um Nate Silvers Prognosen Konkurrenz zu machen, ist aber beachtlich. Aber nochmals: Vom Parlamentsergebnis (alleine) lässt sich zwar oft, aber bei Weitem nicht immer auf das Abstimmungsergebnis schliessen.

Wenn wir nun gleichsam mit einer Lupe diejenigen Vorlagen näher betrachten, die – wie die Service Public-Initiative – nur sehr geringe Unterstützung im Parlament fanden (die grün eingefärbten Punkte in der obigen Abbildung, bei denen die Parlamentsunterstützung unter 20% betrug), so stellen wir fest, dass all diese Vorlagen seit 1992 nachfolgend auch an der Urne scheiterten – mit einer Ausnahme: Die Unverjährbarkeitsinitiative. Sie erreichte trotz sehr geringer parlamentarischer Unterstützung am Ende das Volksmehr. Alle anderen Vorlagen aber scheiterten und dies zumeist klar. Häufiger trat im Übrigen der umgekehrte Fall ein: Eine Vorlage mit komfortabler parlamentarischer Unterstützung scheiterte letztlich am Volksmehr.

Aufschlussreich ist es, die Entwicklung der Stimmabsichten, wie sie bei den SRG-Trendumfragen ausgewiesen werden, mit zu berücksichtigen. Genau dies wurde bei der nachfolgenden Abbildung getan. Die beiden grünen Linien stehen dabei für die durchschnittliche Entwicklung einer Vorlage aus der Gruppe der «Chancenlosen»: Die obere steht für den Meinungsbildungsverlauf in der Stimmbevölkerung gemäss SRG-Trendumfragen, während die untere Linie eine Verbindungslinie zwischen Parlamentsabstimmung und dem Volksentscheid an der Urne herstellt. Und hier zeigt sich nun folgendes Muster: Obwohl im Parlament chancenlos, beginnen die meisten dieser Initiativen mit passablen Unterstützungswerten (in der Umfrage). Danach verlieren die Begehren – teils gar erheblich – an Zustimmung und nähern sich dem Parlamentsergebnis an.

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Dafür gibt es verschiedene mögliche Erklärungen. Eine hat den Meinungsbildungsverlauf von Parlamentariern und Bürgern im Fokus: Die Schlussabstimmungen in den eidgenössischen Räten markieren gewissermassen den Schlusspunkt des Entscheidungsfindungsprozesses der Parlamentsmitglieder. Der Abstimmung gingen teils zeitraubende Diskussionen und Beratungen voraus. Es ist also davon auszugehen, dass sich die Volksvertreter in dieser Zeit mit dem Entscheidstoff befasst haben und ihr Votum das Resultat dieses Deliberationsprozesses ist.

Das Stimmvolk hingegen hat sich zum Zeitpunkt einer frühen Befragung wohl noch nicht allzu viele Gedanken zu den Abstimmungsthemen gemacht. Bei konfliktarmen Vorlagen ist gar davon auszugehen, dass viele Befragten so gut wie nichts über die Vorlagen wissen. Sie besitzen deshalb auch keine stabilen Stimmabsichten dazu und geben bei Umfragen vornehmlich an, wie attraktiv der Initiativtitel für sie klingt.[2] Und diese Titel klingen ja meist vielversprechend. Wer ist beispielsweise schon gegen den Service Public, gegen eine Abschaffung der Heiratsstrafe oder gegen sechs Wochen Ferien?

Meinungsbildung während des abstimmungskampfes

Erst etwa einen Monat vor der Abstimmung setzt der Abstimmungskampf so richtig ein. Dann werden Kampagnen lanciert, die Medien intensivieren ihre Berichterstattung und in den sozialen Medien laufen die Drähte heiss. Zu diesem Zeitpunkt beginnt auch der (eine oder andere) Stimmbürger damit, sich mit den Vorlagen auseinanderzusetzen. Gewiss, dieser Meinungsbildungsprozess setzt bei den einen viel früher, bei den anderen viel später und bei nochmals anderen vielleicht gar nie ein. Und ausserdem ist der Kristallisationsgrad der Meinungen auch vom Stimmthema abhängig.  Aber im Schnitt setzt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Stimmthemen  – notabene bei Vorlagen, die gewissermassen «unter dem Radar» fliegen – erst in der heissen Phase des Abstimmungskampfes ein.

Annäherung über die Zeit

Am Abstimmungssonntag aber, nachdem das Stimmvolk ebenso wie das Parlament vor seiner Schlussabstimmung am Schlusspunkt des Meinungsbildungsprozesses angelangt ist, fallen die Resultate zwischen Elite und Basis nicht mehr so weit auseinander wie zu Beginn des Deliberationsprozesses. Differenzen gibt es auch dann noch und zum Teil – die Unverjährbarkeitsinitiative ist ein Beleg dafür – können die Positionen von Stimmvolk und Parlament nach wie vor sehr weit auseinanderliegen. Aber im Normalfall nähern sie sich an. Gewiss, das liegt auch daran, dass der Meinungsbildungsprozess der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen nicht autark abläuft, sondern gewissermassen unter dem «Tutorat» der Parteien erfolgt. Aber es gibt für die Stimmbürger keine Verpflichtung irgendwelcher Art, sich an die jeweiligen Parteilinien zu halten.

Auch für den 5. Juni ist eine solche Annäherung der Haltungen zwischen Parlament und Stimmvolk zu erwarten. Sollte es überraschenderweise nicht geschehen, würde die Service Public-Initiative die bisherige Rekordhalterin was «Aufholjagden» nach Parlamentsabstimmungen betrifft – die Unverjährbarkeitsinitiative – ablösen. Letztere schaffte das Volksmehr, obwohl nur rund 10 Prozent der Nationalräte dafür stimmten.

Thomas Milic

[1] Foto: Stephan Borer|Flickr

[2] Lesen Sie hier den Beitrag zum Thema des Meinungswandels.

Vom «Ja» zur Masseneinwanderung zum Ecopop-Nein: Wo sind all die Stimmbürger hin?

Die beiden viel beachteten Zuwanderungsabstimmungen des Jahres 2014, Masseneinwanderungs- und Ecopop-Entscheid, mobilisierten teils unterschiedliche Gruppen. Am stärksten davon profitierte die Gegnerschaft des Ecopop-Begehrens. Ihr gelang es, die Unterstützer der Bilateralen an die Urne zu treiben, während zuwanderungskritische Stimmbürger dem Ecopop-Votum eher fernblieben. Die Wanderungsbilanz zwischen dem MEI-Ja und dem Ecopop-Nein deutet zudem darauf hin, dass die grundsätzlichen Haltungen zur Zuwanderungs- und EU-Frage zwischen den beiden Urnengängen relativ stabil blieb.    

Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (kurz: MEI) sandte seinerzeit regelrechte Schockwellen durchs Land und beschäftigt die Schweizer Politik seither. Denn ihre wortgetreue Umsetzung hätte mit grösster Wahrscheinlichkeit ein Zerwürfnis mit der EU zur Folge. Diese Umsetzung muss jedoch bald erfolgen, spätestens bis Anfangs 2017, so schreiben es die Übergangsbestimmungen des angenommenen Verfassungsartikels 121a vor. Vor diesem Hintergrund wird deshalb immer noch über die Motive spekuliert, welche die Bürger damals, an diesem schicksalsträchtigen 9. Februar 2014, antrieben. War es ein Votum gegen überfüllte Züge, gegen Lohndumping, gegen die «Überfremdung» oder – horribile dictu – gar gegen die EU? Obwohl der Wortlaut der Sachfragen, die dem Schweizer Stimmvolk vorgelegt werden, in aller Regel klarer formuliert sind als diejenige, über welche das griechische Elektorat kürzlich befand,[2] lassen auch helvetische Stimmentscheide unterschiedliche Interpretationen zu. Ein gutes Bild von diesen Deutungskämpfen vermitteln die jeweiligen «Elefantenrunden» im Nachgang zu eidgenössischen Urnengängen,[3] bei denen darüber gestritten wird, was das Stimmvolk denn eigentlich mit seinem Votum meinte. Die Auslegung des MEI-Entscheids wurde durch das darauf folgende Votum zur Ecopop-Vorlage noch zusätzlich erschwert. Denn dieses Begehren wurde nun – zur Überraschung vieler – überaus deutlich verworfen. Wie sind diese beiden, auf den ersten Blick widersprüchlichen Abstimmungsergebnisse zu deuten? Haben die Schweizer Stimmbürger es sich im Laufe des Jahres anders überlegt und sich Ende 2014 zu den Bilateralen bekannt? Oder haben sie die Vorlagen von vornherein als zwei unterschiedliche Sachfragen behandelt?

Wir wollen in diesem Beitrag (vorerst) nicht spekulieren, sondern lediglich aufzeigen, wie sich MEI-Befürworter und MEI-Gegner aus den einzelnen Parteianhängerschaften bei der wenige Monate später vorgelegten Ecopop-Frage verhielten. Dabei wollen wir nicht nur diejenigen berücksichtigen, die sich an beiden Urnengängen beteiligten (wie das etwa in der Vox-Analyse zu den Abstimmungen vom 30.11.2014 getan wurde), sondern auch die Nicht-Teilnehmenden. Dies ist angesichts der unterschiedlich hohen Partizipationsraten (rund 7 Prozent Differenz zwischen MEI und Ecopop) gar einer der interessantesten Fragen. Denn offenbar muss sich ja eine beträchtliche Zahl derer, die bei der MEI-Abstimmung noch teilnahmen, beim Ecopop-Entscheid der Stimme enthalten haben. Wer waren diese Bürger und Bürgerinnen? Kamen sie mehrheitlich aus dem Lager der MEI-Befürworter oder demjenigen der MEI-Gegner? Und was bedeutet das? Richtig, hier muss dann wieder spekuliert werden, aber immerhin auf einer (etwas) informierteren Basis. Klicken Sie hier, um die Grafik auf ihrem Mobilgerät zu sehen.

In der Abbildung oben sind die Resultate für alle Stimmoptionen (mit Ausnahme der leeren und ungültigen Stimmen) und für alle Stimmberechtigten ausgewiesen. Zunächst aber: Wie sind wir vorgegangen und woher stammen die Informationen darüber, wer bei beiden Vorlagen wie abgestimmt hat? Wir schildern die Vorgehensweise hier in aller Kürze und verweisen all diejenigen, die mehr dazu wissen wollen, auf die Methodenbox am Ende des Beitrags. Die hauptsächliche Datengrundlage bildete die 20 Minuten-Vorwahlumfrage vom 16/17.6.2015, in welcher auch die Entscheide zur MEI und zu Ecopop abgefragt wurden. Mit anderen Worten: Rund 24’000 Befragte haben angegeben, wie sie einerseits zur MEI und andererseits zum Ecopop-Begehren stimmten bzw. ob sie teilnahmen. Wir haben diese Ergebnisse sodann mit den entsprechenden Vox-Daten verglichen, um ihre Reliabilität zu prüfen. Dieser Vergleich zeigt, dass die Ergebnisse beider Umfragen nur geringfügig voneinander abweichen (siehe Methodenbox). Zuletzt wurden die Umfragewerte auch noch nach den St. Galler Registerdaten gewichtet, in erster Linie, um verlässlichere Resultate für die Nichtteilnehmenden zu erhalten (vgl. Methodenbox).

Die Abstimmungen über die Masseneinwanderung und Ecopop mobilisierten teils unterschiedliche Gruppen

Zu den Ergebnissen: Zuerst ist festzuhalten, dass die Fluktuation zwischen Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden grösser war als viele (möglicherweise) vermutet haben. In der Stadt St. Gallen beispielsweise blieb jeder fünfte MEI-Teilnehmende (20.6%) der Ecopop-Abstimmung fern, während beim Urnengang vom 30.11. rund 17 Prozent teilnahmen, die zuvor, also im Februar, noch nicht partizipiert hatten. Kurz, es war demnach nicht zwei Mal dasselbe Elektorat (minus 7 Prozent), welches sich an den beiden Urnengängen beteiligte, sondern offenbar haben die beiden Vorlagen zum Teil unterschiedliche Gruppen mobilisiert bzw. demobilisiert.

MEI-Befürworter blieben dem Ecopop-Entscheid eher fern, während die von der Ecopop-Initiative neu Mobilisierten meist ein Nein einlegten

Wer wurde bei der Ecopop-Abstimmung demobilisiert? Es waren die MEI-Befürworter, die sich etwas stärker ins Lager der Abstinenten verabschiedeten als die seinerzeit Nein-Stimmenden. Über diesen «Demobilisierungseffekt» der MEI-Befürworter wurde bereits kurz nach der Abstimmung vom November 2014 spekuliert, im Übrigen auch (und zeitlich zuerst) in diesem Blog. Und in der Tat war dem so (andernfalls hätten wir diesen Umstand «geflissentlich übersehen»). Aber das war nicht der Hauptgrund für das im Vergleich zum MEI-Erfolg (50.3 % Ja) nur etwa halb so gute Abschneiden der Ecopop-Initiative (25.9%). Zwei andere Gründe waren noch wichtiger: Erstens, den Gegnern der Ecopop-Initiative gelang es viel besser, ihre Anhängerschaft unter den unregelmässigen Urnengängern zu mobilisieren als den Ecopop-Befürwortern. Denn die allermeisten derer, die noch im Februar der Urne fernblieben, aber im November partizipierten, stimmten Nein zu Ecopop. Der zweite Grund war: Viele, die zur MEI noch ein «Ja» einlegten, stimmten Nein zu Ecopop. Hingegen gab es kaum jemanden, der die MEI ablehnte, aber dem Ecopop-Begehren zustimmte.

Grüne lehnten beide Vorlagen deutlich ab, die SVP-Anhängerschaft blieb der November-Abstimmung eher fern

Wer waren die Demobilisierten, wer die Mobilisierten und zuletzt: wer waren die «Wechselwähler»? Darüber informiert nachfolgende Grafik, die aufzeigt, wie die verschiedenen Parteianhängerschaften stimmten. Die «Heatmap» zeigt auf den ersten Blick, wie der grössere Teil der jeweiligen Parteianhängerschaft gestimmt hat. Dabei darf eines nicht vergessen werden: Angesichts der Partizipationsraten (nur etwa die Hälfte nahm an den jeweiligen Urnengängen teil) ist das Feld derer, die an beiden Abstimmungen fernblieben, bei den meisten Parteianhängerschaften dasjenige mit den meisten Fällen. Klicken Sie hier, um die Grafik auf ihrem Mobilgerät zu sehen.

Die an Urnengängen teilnehmenden SVP-Anhänger haben die MEI fast einstimmig angenommen, sind dann aber zu etwa gleichen Teilen ins Lager der Ecopop-Befürworter (38%), -Gegner (33%) und Nichtteilnehmenden (30%) geströmt. Die Demobilisierung war bei den SVP-Anhängern dabei besonders stark: Fast jeder dritte MEI-Befürworter aus ihren Reihen enthielt sich bei Ecopop der Stimme.[4] Diese Demobilisierung war nur noch bei den Lega-Anhängern stärker, die sich – wie übrigens das ganze Tessin – am 30. November unterdurchschnittlich beteiligten. Mit anderen Worten: Die (glücklichen, weil knappen) Sieger vom 9. Februar blieben der Urne am 30. November überdurchschnittlich häufig fern. Hinzu kommt, dass viele das «Lager wechselten»: Am 9. Februar hatten die SVP-Wähler noch Ja gestimmt, nun legte ein erheblicher Teil von ihnen ein Nein in die Urnen. Allerdings hatte dies wohl wenig mit Meinungsänderung zu tun. Die Parole der SVP zu Ecopop lautete ja ebenfalls Nein, ohne dass sich zwischenzeitlich etwas an der Haltung der Parteispitze zur selbst vorgeschlagenen Zuwanderungsbegrenzung (MEI) geändert hätte. Das «Doppel-Nein» wurde von den Grünen am häufigsten in die Urnen gelegt. Mit Ausnahme der Nichtbeteiligung an beiden Urnengängen kam keine andere Stimmkombination bei den Grünen auch nur im entferntesten an diesen Wert heran. Dies ist einerseits wenig überraschend, aber andererseits auch nicht trivial. Immerhin stammte die Ecopop-Initiative teilweise aus ihren Reihen.

Eine nicht unerhebliche Zahl der FDP-Anhänger nahm erst bei der Ecopop-Abstimmung teil und legte fast einstimmig ein Nein in die Urnen

Bei der FDP und der CVP wiederum ist der Anteil derer, die vom Lager der MEI-Befürworter ins Lager der Ecopop-Gegner wechselten, vergleichsweise hoch, wenn auch nicht so hoch wie bei der SVP. Immerhin aber lässt sich festhalten, dass der zuvor genannte zweite Hauptgrund für das deutlich schlechtere Abschneiden der Ecopop-Initiative – viele «Wechselwähler» vom MEI-Ja zum Ecopop-Nein – hauptsächlich auf das Konto der SVP und der beiden Mitte-Parteien geht. Der erstgenannte Grund (Neumobilisierte stimmten grossmehrheitlich Nein) wiederum hatte vor allem mit der FDP-Wählerschaft zu tun: 24 Prozent, die dem MEI-Votum noch fernblieben, legten ein Nein zu Ecopop in die Urne, während nur gerade zwei Prozent ein Ja einwarfen (der Rest derer, die am 9. Februar nicht teilnahmen, beteiligte sich auch am 30. November nicht). Kurz, bei keiner anderen Wählerschaft war die Neu-Mobilisierung von Ecopop-Gegnern derart stark wie bei der FDP-Wählerschaft.[5]

Stabile Haltungen, aber teils unausgeschöpfte Mobilisierungspotenziale

Was bedeuten diese Zahlen für die anhaltende Diskussion über die «wahren» Motive und Haltungen der Stimmbürger zu Zuwanderung, Personenfreizügigkeit und Bilaterale? Es ist klar, sie sagen nach wie vor nichts genaues darüber aus, was in den Köpfen der Stimmenden vorging, als sie entweder «Ja» oder «Nein» auf den Stimmzettel schrieben, sofern sie überhaupt etwas darauf schrieben. Es ist aber wenig realistisch, davon auszugehen, dass etwa ein Drittel der SVP-Anhängerschaft seine Meinung zu Zuwanderung und Europa geändert hätte. Die Aussage, dass das Elektorat zwischen den beiden Urnengängen seine Haltung geändert hat, wäre ohnehin nur dann zulässig, wenn beide Male über dasselbe abgestimmt worden würde. Das war aber offenkundig nicht der Fall. Die Ecopop-Initiative ging weiter als die MEI, was auch daran erkennbar ist, dass ihre Unterstützung im Parlament deutlich geringer war als diejenige der MEI. Kurz, das Gros der SVP-Wähler (und weiterer MEI-Befürworter) hat ihre Haltung zur Zuwanderungsproblematik wohl kaum geändert, sondern das Ecopop-Begehren abgelehnt, weil es zum einen radikaler als die MEI war und zum anderen von ihrer bevorzugten Partei zur Ablehnung empfohlen worden war. Vieles spricht demnach dafür, dass die grundsätzlichen Haltungen zu Europa und der Zuwanderung mehr oder weniger stabil geblieben sind. Allerdings zeigt die starke zusätzliche Mobilisierung der Bilateralen-Anhänger bei der Ecopop-Abstimmung, dass dieses Lager im Vergleich zum MEI-Votum durchaus noch Luft nach oben hat. Zugegegeben, dies ist ein Stück weit Spekulation, denn wir wissen nicht genau, was diejenigen motivierte, die der MEI-Abstimmung noch fernblieben, dann aber mit überwältigender Mehrheit die Ecopop-Initiative verwarfen. Aber ganz abwegig erscheint der Gedanke nicht, dass sie dies zur Bewahrung der Bilateralen taten, die sie durch die MEI und erst recht durch Ecopop gefährdet sahen.

Thomas Milic und Basil Schläpfer

[1] Foto: Flickr|Jan Zuppinger

[2] Auf Deutsch übersetzt, lautete die Abstimmungsfrage: «Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25.06.2015 eingereicht wurde und aus zwei Teilen besteht, die in einem einzigen Vorschlag zusammengefasst sind?»

[3] Hier geht es zum Beitrag auf SRF.

[4] Lesen hierzu auch die Auswertung von Peter Moser.

[5] Auch hier empfehlen wir wieder Peter Mosers Auswertung der Zürcher Gemeindedaten – er gelangte zu ganz ähnlichen Schlüssen.

Methodik: Die Datengrundlage bildeten die 20 Minuten-Vorwahlumfragen vom 16/17. Juni 2015 mit rund 24’000 Teilnehmern. Diese Daten wurden nach soziodemographischen und politischen Kriterien gewichtet. Die MEI wurde im ungewichteten 20 Minuten-Sample im Übrigen mit 54.6 Prozent angenommen (+4.3% Differenz zum effektiven Resultat), Ecopop mit 74.8 % (+0.7% Differenz) abgelehnt. Wenn wir die entsprechenden Vox- und 20 Minuten-Daten vergleichen, so stellen wir fest, dass es beruhigenderweise nur geringfügige Unterschiede gibt: Die grösste Differenz besteht bei denjenigen, die bei der MEI-Abstimmung der Urne fernblieben, die Ecopop-Initiative sodann ablehnten. Im 20 Minuten-Sample liegt der entsprechende Wert 6 Prozentpunkte über dem Wert, der in der Vox ermittelt wurde. Darüber zu spekulieren, welcher Wert näher am “wahren” Wert in der Grundgesamtheit liegt, ist müssig. Denn es lässt sich ohnehin nicht überprüfen. Letztlich haben wir uns für die 20 Minuten-Daten entschieden, weil sie ihrer hohen Fallzahl wegen eine Analyse auf der Ebene der einzelnen Parteianhängerschaften ermöglicht: So lagen im 20 Minuten-Sample für die Lega dei Ticinesi beispielsweise 209 Fälle vor, während sich in der entsprechenden Vox-Stichprobe nur gerade 9 Befragte zur Lega bekannten.

Hinsichtlich der Teilnahme liegen jedoch beide Datensätze nachweislich daneben. In beiden Umfragen gaben deutlich mehr Befragte an, teilgenommen zu haben, als dies effektiv der Fall war. Dies ist ein allseits bekanntes Phänomen bei Umfragen: Politisch Involvierte nehmen viel eher an politischen Umfragen teil als solche, die sich nicht für Politik interessieren. Deshalb haben wir die «Wanderungsbilanzen» zwischen Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden nach den St. Galler Registerdaten gewichtet. Diese ermöglichen – zumindest für die Stadt St. Gallen – die Rekonstruktion der Wechselströme zwischen Teilnahme und Nichtteilnahme. Nimmt man die St. Galler Registerdaten als Referenz, liegen die gewichteten 20 Minuten-Daten jedoch gar nicht derart weit daneben. Die Wanderungsbilanz zwischen Nicht-Teilnehmenden und Teilnehmenden wird im ungewichteten Datensatz (wahrscheinlich) um lediglich rund 5 Prozent überschätzt. Allerdings – und darauf deutet das zuvor in Klammern gesetzte «wahrscheinlich» hin – ist die Frage erlaubt, ob denn die Stadt St. Gallen (bzw. deren Wanderungsbilanz) auch tatsächlich repräsentativ für die Gesamtschweiz steht. Wir wissen es nicht, aber ein Vergleich zwischen den Ergebnissen in der Stadt St. Gallen und dem nationalen Ergebnis lässt vermuten, dass dem annäherungsweise so ist: Die Beteiligungshöhe in der Stadt St. Gallen betrug bei der MEI-Abstimmung 55.4 (schweizweit: 56.6%), bei der Ecopop-Abstimmung 51.0 Prozent (schweizweit: 50.0). Die St.Galler Werte liegen demnach sehr nahe bei den nationalen Werten. Übrigens haben wir für die Gewichtung nur diejenigen St. Galler und St. Gallerinnen berücksichtigt, die an beiden Urnengängen in der Stadt St. Gallen als Stimmberechtigte registriert waren. Daraus entsteht eine – allerdings wohl ziemlich geringe – Differenz zum schweizweiten Ergebnis, weil Stimmbürger ja sterblich sind, Erstwähler und Eingebürgerte hinzukommen, etc..
Zuletzt wird sich manch einer möglicherweise die Frage stellen: Warum wurden nicht einfach die St. Galler Registerdaten verwendet? Warum die komplexe Gewichtung von Umfragedaten, wenn doch offizielle, prozessgenerierte (aber selbstredend anonymisierte!) Daten vorliegen? Die ganz einfache Antwort darauf lautet: Es gilt das Stimmgeheimnis. Und deshalb wissen wir nicht, wie die St. Galler und St. Gallerinnen gestimmt haben (und welche Parteipräferenz sie haben), sondern lediglich, ob sie gestimmt haben.

So erfolgreich sind Volksinitiativen

Ein Thema, das Journalisten, Politiker und Politikwissenschaftler seit einigen Jahren gleichermassen beschäftigt, ist die steigende Erfolgsquote von Initiativen. Häufig ist aber nur generell von einer höheren Erfolgsrate der Initiativen die Rede, ohne dass dabei ein konkreter Erfolgswert ausgewiesen wird. Einen solchen, aktuellen Erfolgswert von Initiativen stellen wir im folgenden Beitrag vor.

Dass Initiativen immer häufiger Erfolg haben, ist im Prinzip unbestritten. Allerdings fehlen oft genauere Angaben dazu, wie erfolgreich Initiativen momentan sind. Häufig ist bloss davon die Rede, dass «seit gut 20 Jahren immer mehr Initiativen an der Urne erfolgreich sind» oder dass es «immer häufiger» vorkommt, dass «eine Volksinitiative angenommen» wird.[1] Werden konkrete (Prozent-)Zahlen angegeben, dann handelt es sich so gut wie immer um die Annahmerate von Initiativen pro Dekade. Zum Beispiel betrug die Annahmerate der Initiativen in den Jahren zwischen 2004 und 2013 27 Prozent. Zehn Jahre sind allerdings eine lange Zeitperiode. Insbesondere dann, wenn man die aktuelle Erfolgsrate von Initiativen angeben möchte und dabei den Schnitt der letzten zehn Jahre ausweist, scheint es etwas fragwürdig, von der «momentanen» oder «aktuellen» Erfolgsrate von Volksinitiativen zu sprechen. Denn dieser «aktuelle» Wert schliesst den Erfolg bzw. Misserfolg von Volksbegehren ein, deren Entscheid zum Teil zehn Jahre zurückliegt.

10-Jahres-Durchschnitte dieser Art haben einen weiteren Nachteil: Angaben, die sich auf die laufende Dekade beziehen, sind naturgemäss nur als vorläufige Zwischenbilanz zu betrachten. Vergleiche zwischen vorläufigen und endgültigen Durchschnittswerten (zum Beispiel ein Vergleich der Erfolgsquote von Initiativen zwischen 2001 bis 2010 und 2011 bis dato) sind demnach wenig aussagekräftig. Denn der vorläufige Durchschnittswert kann sich ja nach oben, aber auch nach unten ändern. Im Prinzip ist es so, als würde man bereits Mitte Juni die Durchschnittstemperatur des Sommers 2016 angeben wollen.

Aus diesem Grund schlagen wir einen gleitenden Durchschnittswert vor, der wie jede Kennzahl Vor- und Nachteile hat, bei welchem aber – so glauben wir zumindest – die Vorteile die Nachteile überwiegen. Gleitende Mittelwerte sind nichts Neues und werden beispielsweise in der Wirtschaft (zum Beispiel: 38-Tage-Durchschnittswert von Börsenkursen) angewandt. Auch in die Politikwissenschaft haben sie längst Eingang gefunden.[2] In unserem Fall bilden jedoch nicht Zeiteinheiten, sondern die Vorlagen selbst die jeweilige Untermenge. Konkret: Ausgewiesen wird der Mittelwert der jeweils letzten zehn Initiativen. Der Vorteil dieser Messvariante liegt vor allem darin, dass in der Tat von einer aktuellen Erfolgsquote der Initiativen gesprochen werden kann.

«Der Vorteil dieser Messvariante liegt vor allem darin, dass in der Tat von einer aktuellen Erfolgsquote
der Initiativen gesprochen werden kann.»

Allerdings bleibt eine Frage offen: Was genau soll ausgewiesen werden? In der Regel wird die Annahmerate von Initiativen pro Dekade ausgewiesen. Das heisst, man interessiert sich nicht dafür, wie knapp oder wie deutlich die Initiativabstimmung ausging, sondern lediglich, ob die Vorlage angenommen oder verworfen wurde. Man könnte nun argumentieren, dass für die Politikgestaltung ohnehin nur zählt, ob ein Begehren eine Mehrheit findet oder nicht. Angenommene Initiativen müssen (oder inzwischen wohl eher: sollten) umgesetzt werden, abgelehnte Initiativen nicht. Abgesehen davon, dass dies bei weitem nicht zutrifft – auch abgelehnte Volksinitiativen entfalten nachweislich eine Wirkung auf die Rechtsetzung («indirekte Wirkung»; siehe dazu etwa das Buch von Gabriela Rohner) – werden auf diese Weise Abstimmungen mit sehr ähnlichem Ausgang diametral anders bewertet. Dazu ein Beispiel:

Die SVP-Asylinitiative, über die 2002 abgestimmt wurde, verpasste das Volksmehr um lediglich rund 4’000 Stimmen. Die Masseneinwanderungsinitiative hingegen wurde mit knapp 20’000 Stimmen Vorsprung auf das Nein-Lager vom Volk gutgeheissen. Diese Differenz ist angesichts der rund drei Millionen abgegebenen Stimmen (bei der Abstimmung vom 9. Februar 2014) verschwindend gering.

Mit anderen Worten: Zwei Abstimmungen, die im Prinzip gleich ausgingen, werden – es geht ja um die Berechnung der Erfolgsquote von Initiativen – statistisch ganz unterschiedlich bewertet. Dies ist nicht bloss von rein akademischem Interesse: Eine der brennendsten politischen Fragen ist derzeit diejenige, weshalb Initiativen immer häufiger angenommen werden. Wie aber müsste die Antwort auf diese Frage im gezeigten Beispiel der Asyl- und Masseneinwanderungsinitiative lauten? Die Antwort wäre (wohl am ehesten), dass der Zufall alleine entschieden hat. Anders formuliert: Dass die Asylinitiative (hauchdünn) abgelehnt, die MEI jedoch (hauchdünn) angenommen wurde, war Zufall. Im Nachgang zur MEI war deshalb auch häufig von einer «Zufallsmehrheit» die Rede. Um keine methodisch bedingten Datenartefakte zu bilden, bietet es sich deshalb an, sowohl die Annahmerate wie auch die durchschnittliche prozentuale Zustimmung für Initiativen auszuweisen. Das haben wir in der Folge auch getan.

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Gleitende 10-Vorlagen-Annahmerate für Initiativen (1982-2015).

Die erste Abbildung zeigt die durchschnittliche Annahmerate der jeweils letzten zehn Initiativen. Wenig überraschend wird uns hier kein völlig neues Bild des Initiativerfolgs geboten. Die durchschnittliche Erfolgsrate der Volksbegehren ist seit 2004 erheblich angestiegen und beträgt aktuell 20 Prozent. Mit anderen Worten: Zwei der letzten zehn Initiativen wurden angenommen. Dabei wird gleichzeitig auch eine Schwäche des hier angewendeten gleitenden Mittelwerts deutlich: Die Erfolgsrate kann aufgrund der Festlegung auf zehn Vorlagen als jeweilige Untergruppe immer nur 10-Prozent-Sprünge machen.

 

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Durchschnittlicher Ja-Stimmenanteil bei Initiativen, gleitender 10-Vorlagen-Durchschnitt (1982-2015).

Die zweite Abbildung enthält mehr Informationen als die erste Abbildung. Und sie relativiert den bisherigen «Glaubenssatz», wonach Initiativen immer mehr Zuspruch im Volk finden, ein wenig. Denn der durchschnittliche Ja-Stimmenanteil hat seit 2004 zwar unverkennbar zugenommen, ist aber in etwa gleich hoch wie zwischen 1990 und 1996 (siehe Abbildung 4, welche eine weitere Form der Glättung (loess) vornimmt). Das korrespondiert – wie oben gesehen – nicht mit der Annahmerate, die seit 2004 meist höher ist als in den Neunziger Jahren. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon hat wohl damit zu tun, dass bis 2004 knappe Abstimmungen zu Initiativen in der Regel mit einer Niederlage für die Initianten endeten. Danach aber wendete sich das Blatt. Um das zu verdeutlichen, haben wir alle Initiativen seit 1982, deren Abstimmungsergebnis zwischen 47.5 und 52.5 Prozent fiel, nachfolgend aufgelistet:

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Auffallend ist, dass zwischen 1984 und 2004 nur eine einzige dieser wahrhaft knappen Initiativabstimmungen zugunsten der Initianten ausging (Alpenschutzinitiative), während seit 2005 alle knappen Abstimmungen mit einem Sieg der Befürworter endeten. Dieses Phänomen, wonach knappe Abstimmungen seit Kurzem zugunsten des Ja-Lagers ausgehen, erklärt die jüngsten Initiativerfolge natürlich nicht vollumfänglich. Dafür gibt es gewiss noch weitere Gründe. Die Suche nach den Gründen für den Erfolg von Initiativen in letzter Zeit darf deshalb getrost weitergehen. Aber der gleitende Mittelwert relativiert die Aufregung um den «Siegeszug» der Initiativen zumindest ein wenig.

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LOESS-Anpassungslinie zu den Ja-Stimmenanteilen bei Initiativen 1982-2015.

 

 

Hier geht es zu einer Übersicht aller angenommenen Volksinitiativen.

Hier finden Sie ein Beispiel zur Annahmerate von Volksinitiativen.

[1] Hier finden Sie einen NZZ-Artikel zum Thema und hier einen weiteren Artikel, der sich mit dem Erfolg von Initiativen auseinandersetzt.

[2] Hier finden Sie ein Beispiel eines gleitenden 7-Tage-Durchschnitts der Stimmabsichten zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2012.

Der CVP-Initiative fehlten wohl die SVP-Stimmen

Das schlechte Abschneiden der CVP-Familieninitiative hat überrascht. Vor allem auch deshalb, weil mit der SVP die grösste Partei an der Delegiertenversammlung die Ja-Parole beschlossen hat. Unsere Analyse der Abstimmungsergebnisse auf Bezirksebene legt jedoch nahe, dass die Parteianhängerschaft der SVP das CVP-Anliegen nicht unterstützt haben.

Als die nationale Delegiertenversammlung der SVP Ende Januar 2015 eine Ja-Parole zur CVP-Initiative beschloss, kam dies etwas überraschend. Denn bei der entsprechenden Schlussabstimmung im Nationalrat (Ende September 2014) stimmte eine klare Mehrheit der SVP-Vertreter noch dagegen. Der Entscheid der SVP-Delegiertenversammlung änderte – so glaubte man damals – die Ausgangslage des CVP-Begehrens: Ihre Chancen stiegen plötzlich – jetzt, da die (Parolen-)Unterstützung der wählerstärksten Partei der Schweiz «gesichert» war. Doch offenbar zog die SVP-Basis nicht mit. Die untenstehende Grafik, welche den Ja-Stimmenanteil der CVP-Initiative unter anderem dem SVP-Wähleranteil gegenüberstellt, zeigt, dass sich die Zustimmung zur Initiative verringert, je höher der Anteil der SVP-Wähler im Bezirk ist. Gewiss, bei den vorliegenden Daten handelt es sich um Aggregatdaten und bei diesen besteht stets die Gefahr des ökologischen Fehlschlusses. Aber der negative Zusammenhang zwischen SVP-Anteil und dem Anteil Ja zur CVP-Initiative ist ziemlich ausgeprägt und deshalb ein ernst zu nehmendes Indiz dafür, dass sich die SVP-Basis nur bedingt an die Empfehlung ihrer Partei hielt.

Anders bei der CVP: Ihr Wähleranteil in den Bezirken korreliert positiv (wenn auch nicht sonderlich stark) mit der Zustimmungsrate zur Initiative. Das ist zugegebenermassen wenig überraschend. Es ist ja auch zu erwarten, dass die CVP-Wählerschaft die eigene Initiative unterstützt. Es kontrastiert jedoch augenscheinlich zum Muster des SVP-Wähleranteils.

Romandie unterscheidet nicht

Der Vergleich mit der SVP-Familieninitiative wiederum fördert vor allem eine interessante Erkenntnis zu Tage: Während die beiden Familieninitiativen in der Deutschschweiz doch recht unterschiedlich bewertet wurden, stimmten die französischsprachigen Bezirke bei beiden Vorlagen in der Tendenz ähnlich. Woran dies liegt, ist aufgrund der Aggregatdaten nicht zu beantworten. Denkbar ist, dass vergleichbare individuelle Beweggründe für eine Zustimmung gefunden werden können. Möglicherweise spielte die Urheberschaft der Initiative in der Romandie eine unwichtigere Rolle oder die beiden Vorlagen wurden – ganz einfach – ähnlich wahrgenommen.

Steuerentlastungen für Familien haben es schwer

Erneut wurde am Wochenende eine Vorlage zur steuerlichen Entlastung von Familien an der Urne verworfen. Auf der Hand liegt der Vergleich mit einer ähnlich gelagerten Initiative der SVP, worüber im November 2013 abgestimmt wurde. 

Im Gegensatz zum Volksbegehren der SVP vermochte der CVP-Vorschlag vom Sonntag in keinem einzigen Bezirk eine Mehrheit der Stimmbevölkerung zu überzeugen. Den höchsten Zuspruch erhielt die CVP-Initiative im Bezirk Porrentruy des Kantons Jura mit 46.6% JA-Stimmen. Demgegenüber konnte die Schweizerische Volkspartei 2013 wenigstens 29 von 148 Bezirken für ihr Anliegen gewinnen, wobei als Spitzenreiter der Bezirk Entlebuch zu fast 60% dafür votierte. Natürlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass die beiden Volksinitiativen unterschiedliche Mechanismen zur Entlastung der Familien forderten: Während die SVP einen Steuerabzug für Eltern, die ihre Kinder selber betreuen, wünschte, wollte die CVP Kinder- und Ausbildungszulagen von der Steuerpflicht befreien. Nichtsdestotrotz hätte bei beiden Vorlagen eine steuerliche Entlastung für (insbesondere mittelständische) Familien resultiert. Betrug der JA-Stimmenanteil zur SVP-Initiative im Kanton Glarus immerhin 42%, wies derselbe Kanton – der zugleich einen Bezirk darstellt – mit lediglich 16.6% den schweizweit geringsten JA-Stimmenanteil zur CVP-Familieninitiative aus.

Von der Steuerentlastung betroffen

Der Anteil Kinder und Jugendliche in einem Bezirk kann als Indikator für die Betroffenheit von der Steuerentlastung gewertet werden. Da sowohl Kinder- als auch Ausbildungszulagen steuerfrei geworden wären, hätten «kinderreiche» Bezirke, also solche, in denen tendenziell mehr Familien ihren Wohnsitz haben, stärker profitiert. Tatsächlich zeigen unsere Analysen, dass Bezirke mit einem höheren Anteil unter 19-Jähriger der CVP-Initiative mehr Unterstützung zusprachen. Je mehr Kinder und Jugendliche in einem Bezirk wohnhaft sind, desto grösser war der JA-Anteil zur CVP-Familieninitiative. Interessant fällt diese Betroffenheits-Analyse im Vergleich zur SVP-Vorlage aus. Damals spielte die Betroffenheit scheinbar keine Rolle: Ein steigender Anteil Kinder und Jugendliche bedeutete 2013 nicht, dass die SVP-Familieninitiative auf grösseren Zuspruch stiess. Die Regressionslinie zeigt keinen positiven Zusammenhang wie in ersterer Grafik. Dies könnte darauf hindeuten, dass bei der SVP-Initiative eher ideologische Beweggründe als Betroffenheitsfaktoren ausschlaggebend für die Stimmabgabe waren.

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CVP-Familieninitiative 2015.
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SVP-Familieninitiative 2013.

 

Wie historisch war die Abstimmungsniederlage der GLP?

Von einer historischen Schlappe für die GLP war am Abstimmungssonntag die Rede. Und die Frage, welche die politische Schweiz am stärksten herumtrieb, war diejenige, ob sich das Abstimmungsdebakel auf die Wahlchancen der GLP auswirken könnte. Wenn man das Abstimmungsresultat im Verhältnis zur Wählerstärke der tragenden Partei setzt, war das gestrige Resultat jedoch keine historische Niederlage.

92 Prozent der Teilnehmenden lehnten die erste GLP-Initiative der Geschichte ab. Um auf einen ähnlich hohen Nein-Stimmenanteil zu einer Initiative zu stossen, muss man in den Annalen der Schweizer Abstimmungsdemokratie lange zurückblättern: 1923 wurde die Schutzhaft-Initiative mit 89 Prozent verworfen. Historisch ist die GLP-Abstimmungsschlappe demnach schon. Aber die GLP ist – verglichen mit den «grossen» Bundesratsparteien – auch eine Kleinpartei mit einem nationalen Wähleranteil von 5.4 Prozent (Wahlen 2011). Wenn man die Wahlchancen im Blick hat, so sollte man sich nicht alleine am Abstimmungsresultat orientieren, sondern auch daran, wie gross die Wählerschaft der Urheberpartei ist. Bildet nun die aktuelle Wählerstärke den Referenzpunkt, so vermochte die GLP am Abstimmungssonntag jenen Wert um immerhin 2.6 Prozent zu übertreffen. Das ist wenig. Und damit liegt die GLP-Initiative natürlich weit entfernt von den Spitzenwerten, die wir unten ausgewiesen haben. Aber sie ist nicht das Schlusslicht einer Rangliste der «Over-» und «Underachiever» unter den Volksbegehren. Die nachfolgende Grafik zeigt, wie die Initiativen der laufenden Legislaturperiode gemessen an der Wählerstärke ihrer Urheberpartei abgeschnitten haben.

Als Urheber einer Partei wurde entweder diejenige Partei identifiziert, welche das Begehren einreichte oder mit der Vorlage stark assoziiert wurde. Zudem haben wir – um einen FDP-Fall ausweisen zu können – die Verbandsbeschwerderechtinitiative der vergangenen Legislaturperiode hinzugezogen.

Am besten schnitt die SVP bei der Masseneinwanderungsinitiative ab. Sie vermochte weit über ihre Stammwählerschaft zu punkten und übertraf ihren Wähleranteil um mehr als 20 Prozent. Die SP folgt mit ihrer Initiative zur Einheitskrankenkasse auf Platz Zwei. Zwar scheiterte das Volksbegehren, aber es stimmten anteilsmässig mehr als doppelt so viele Stimmbürger für das Begehren als die SP Wähler zählt. Doch die beiden Flügelparteien sorgten auch für die ernüchterndsten Ergebnisse in der laufenden Legislaturperiode. Die Volkswahl des Bundesrates und die Staatsvertragsinitiative der SVP bzw. AUNS erzielten geringere Zustimmungsanteile als die SVP Wähler zählt. Der «Saldo» beträgt -2.9 beziehungsweise -1.9 Prozent. Die SP erlitt mit der Mindestlohninitiative eine ähnliche Schlappe: Das Begehren konnte gerade mal 5 Prozent mehr Stimmen auf sich vereinigen als die SP bei den Wahlen 2011 erzielte.

Die Abbildung ermöglicht auch einen Vergleich zwischen der SVP- und CVP-Familieninitiative. Die erstere wurde bloss von der SVP (und der EVP) zur Annahme empfohlen, während die letztere von der nationalen CVP- und SVP-Delegiertenversammlung (und anderen Kleinparteien) eine Ja-Parole erhielt. Würden sich die Parteianhängerschaften an die Empfehlung ihrer Partei halten, so hätte die CVP-Familieninitiative nicht nur in absoluten Werten, sondern auch relativ zu ihrer Wählerstärke klar besser abschneiden müssen als das SVP-Begehren von 2013. Das war aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Die SVP-Familieninitiative erzielte bei der CVP (oder den anderen Parteien bzw. Parteiungebundenen) offenbar mehr Stimmenanteile als die CVP-Initiative bei der SVP-Anhängerschaft – und dies, obwohl ihr die Parolenunterstützung der CVP seinerzeit fehlte.

Die Frage, welche Auswirkungen ein Abstimmungsergebnis auf die Wahlchancen einer Partei hat, ist mit dem vorliegenden Vergleich natürlich nicht zu beantworten. Aber die Beispiele der SVP und SP, die in der laufenden Legislaturperiode sowohl hervorragende wie auch schlechte Ergebnisse bei Abstimmungen erzielten, zeigen, dass solche Schlüsse auf der Basis von Abstimmungsergebnissen keineswegs so einfach zu ziehen sind. Denn: Aufgrund welcher Abstimmung soll man im Falle dieser beiden Parteien auf die entsprechenden Wahlchancen schliessen? Ist beispielsweise bei der SP das Ergebnis bei der Einheitskasse oder bei der Mindestlohninitiative das entsprechenden «Menetekel»? Am wahrscheinlichsten ist, dass sich Abstimmungsergebnisse generell schlecht dazu eignen, auf die Wahlchancen der tragenden Partei zu schliessen. Abstimmungen und Wahlen sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe.

  Hier finden Sie die Informationen zur Eidgenössische Volksinitiative «Schutzhaft».
Hier finden Sie die Informationen zur Volksinitiative «Volkswahl des Bundesrates». Hier finden Sie die Informationen zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)».

Die Abstimmungen auf Twitter

Wie die Abstimmungszahlen heute verdeutlichen, waren die Familieninitiative und die Energiesteuerinitiative nicht wirklich umstritten. Auch auf Twitter fanden die beiden Vorlagen keine grosse Resonanz. Die erste Grafik zeigt, dass in den letzten Tagen vor der Abstimmung sehr wenig zu den geläufigsten Hashtags (#Familieninitiative und #InitiativeFamille bzw. #viESM und #TEcontreTV) getweetet wurde. Und auf die Abstimmung hin nahmen die Tweets sogar ab. Wie tief die Zahlen vor der Abstimmung sind, verdeutlicht der Vergleich mit dem Abstimmungstag, an dem die Twitternutzung in die Höhe schnellte (die Zahlen in der Grafik zeigen die Anzahl Tweets bis ca. 14:30). Vor allem die ungewöhnlich hohe Ablehnung der GLP-Initiative scheint heute zu Reaktionen bei den Twitter-Nutzern geführt zu haben. Wie bei anderen Initiativen (z.B. bei der Masseinwanderungsinitiative oder beim Gripen) scheint es so, als ob Twitter auch bei den aktuellen Vorlagen nicht wirklich als Mittel im Abstimmungskampf genutzt wurde, sondern nun mehr für Reaktionen auf die Ergebnisse dient.

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Anzahl Tweets pro Tag mit den geläufigsten Hashtags zur Familien- bzw. Energiesteuerinitiative. Eigene Darstellung.

Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass die Initianten selbst nicht sehr aktiv waren. Dies zeigt die zweite Grafik. Von den Tweets zur Familieninitiative stammen nur rund ein Drittel von CVP-Politikern. Die Initiative wurde auf Twitter also nicht einmal im eigenen Partei-Lager gross unterstützt. Mitglieder der GLP sorgten immerhin für etwa 40 Prozent der Tweets zur Energiesteuerinitiative. Politiker aus der grünen Partei, welche die Initiative immerhin offiziell unterstützte, waren auf Twitter praktisch abwesend.

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Wie viele Tweets zu den Initiativen stammen aus dem Lager der Initianten? Eigene Darstellung.

Natürlich wurden mit den oben gewählten Hashtags nicht alle Tweets zu den Abstimmungen erfasst. Einige Twitterer nutzten sicher auch andere bzw. keine Hashtags. Die Nutzung der allgemeinen und bereits länger bestehenden Hashtags #abst15 und #CHvote liefert allerdings ein sehr ähnliches Bild.

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Anzahl Tweets pro Tag zu den allgemeinen Abstimmungs-Hashtags. Eigene Darstellung.

 

 

So «korrekt» stimmt die Schweiz ab

Was mit einem «korrekten» Stimmentscheid gemeint ist und was einen solchen begünstigt, haben wir besprochen. In diesem Blogpost stellen wir diejenigen Themefelder vor, welche sich gemäss der im ersten Artikel zitierten Studie durch einen hohen beziehungsweise tiefen Anteil korrekter Stimmentscheide auszeichnen.

#last: Sozialpolitik Platz 13

Der letzte Platz wird von der Sozialpolitik (13) belegt. Im Durchschnitt stimmen bei diesem Themenfeld rund 73% in Einklang mit ihren Präferenzen ab. Jedoch muss sogleich angefügt werden, dass der Schluss des Rankings dicht besiedelt ist. Sehr ähnlich sind die Anteile bei den Themenfeldern Insitutionen (75%), Agrar– (75.81%) und der Gesundheitspolitik (76.31%). Im Mittelfeld finden sich die Thematiken der Finanzpolitik, der Asylpolitik, des Strafrechts, Vorlagen rund um die Energiepolitik und solche, die einer Restgruppe zugeordnet worden sind.

Die Erfassung der «wahren» Präferenz ist natürlich abhängig vom Vorgehen und den Kriterien, die man anwendet. Man kann dabei besonders streng sein oder auch weniger. Für die Themenfelder mit den durchschnittlich höchsten Anteilen an «korrekt» Abstimmenden berichten wir deshalb sowohl den höchsten und tiefsten geschätzen Wert pro Abstimmung.

Dritter Platz

Etwas überraschend belegen Vorlagen, die dem Thema «Kultur» zugehörig sind, den dritten Platz. Im Durchschnitt konnten bei den Vorlagen zur Heroinverschreibung, der Fristenregelung, der Mutter-Kind-Initiative, dem Partnerschaftsgesetz und der Hanf-Initiative ca. 80% der Schweizer Stimmbürger ihre Präferenzen «richtig» umsetzen.

«Anteil korrekter Stimmentscheide» bei Kultur- und Gesellschaftspolitischen Vorlagen.
«Anteil korrekter Stimmentscheide» bei Kultur- und Gesellschaftspolitischen Vorlagen.

Zur Grafik: Jede vertikale Linie repräsentiert eine Abstimmung. Die Nummern bezeichnen die Abstimmungsnummern des Bundesamtes für Statistik. Die untere Grenze zeigt den konservativ geschätzen Anteil richtiger Stimmentscheidungen. Die obere Grenze ergibt sich, wenn die Kriterien, welche für einen richtigen Stimmenentscheid erfüllt sein müssen, etwas weniger streng formuliert werden. Die rote Line markiert den Durchschnitt.

Zweiter Platz

Sind Vorlagen rund um das Thema der Armee betroffen, so scheint sich die Stimmbürgerschaft ihrer Präferenzen im Klaren: Das Level an Correct Voting beträgt ca. 83%.

«Correct Voting» bei Sachabstimmungen rund um die Schweizer Armee.
«Correct Voting» bei Sachabstimmungen rund um die Schweizer Armee (Lesehilfe siehe oben).

Erster Platz

Der erste Platz belegt das Thema der Aussenpolitik. Bei Abstimmungen rund um die UNO und die EU (sowie biometrische Pässe) sind sich die Schweizer ihrer Präferenzen und deren Umsetzung bewusst: Über 84% stimmen gemäss der angewendeten Definition von Correct Voting «richtig» ab.

«Correct Voting» in Bezug auf die Thematik der Aussenpolitik.
«Correct Voting» in Bezug auf die Thematik der Aussenpolitik (Lesehilfe siehe oben).


Rangliste

 Anzahl VorlagenLevel an «Correct Voting»
Thema: Aussenpolitik1184.53 %
Thema: Armee782.55 %
Thema: Kultur580.29 %
Thema: Energiepolitik679.27 %
Thema: Asylpolitk1578.88 %
Thema: Rest2678.62 %
Thema: Strafrecht277.55 %
Thema: Umweltpolitik 1477.32 %
Thema: Finanzpolitik1576.94 %
Thema: Gesundheitspolitik 876.31 %
Thema: Agrarpolitik575.81 %
Thema: Institutionen1175.60 %
Thema: Sozialpolitik3073.53 %

 

Hier geht es zum Post zu «Correct Voting»: Wann ist ein Stimmentscheid korrekt