Eine Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten ist offen und ausländerfreundlich eingestellt. Dennoch werden an der Urne immer wieder Forderungen angenommen, welche die Rechte von Ausländern beschneiden und die Schweiz gegenüber dem Ausland abschotten. Dies kommt davon, weil viele Leute nicht so abstimmen, wie sie gemäss ihren Grundeinstellungen eigentlich sollten. Dieser Blogbeitrag zeigt auf, warum dies so ist und wer diese Leute sind.
Polarisierende Migrationspolitik
Die Migrationspolitik bewegt das Schweizer Stimmvolk so stark wie kein zweites Thema. Beinahe jährlich wird darüber abgestimmt. Einige Entscheide der jüngsten Vergangenheit fielen dabei äusserst knapp aus. Die Ausschaffungsinitiative wurde 2010 mit 52.9 Prozent JA-Stimmen angenommen. Noch knapper war die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 mit 50.3 Prozent. Beide SVP-Anliegen sind typische ausländer- und öffnungskritische Vorlagen. Wenn alle Personen nach ihren Grundeinstellungen gestimmt hätten, wären die Entscheide wohl noch knapper oder sogar gegenteilig ausgefallen.
Grundsätzlich offenes Schweizer Stimmvolk
Die Schweizer Stimmberechtigten sind mehrheitlich offen eingestellt und befürworten die Chancengleichheit zwischen In- und Ausländern (vgl. Infobox). Im Schnitt trifft dies auf sieben von zehn Stimmberechtigten zu. Dennoch stimmt die Mehrheit der Stimmbevölkerung häufig migrationspolitisch eher restriktiv. Das liegt unter anderem daran, weil zahlreiche Personen gemessen an ihren Wertehaltungen falsch abstimmen. Eine Forschungsarbeit von Lukas Lauener an der Universität Zürich untersucht Personen mit migrationspolitisch offenen Grundeinstellungen und identifiziert fünf Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit, entgegen den eigenen Überzeugungen zu stimmen, signifikant erhöhen.
Wer stimmt in der Migrationspolitik falsch ab?
- Anhänger der SVP, FDP, CVP und GLP: Personen, die mit der SVP, FDP oder CVP sympathisieren, weisen eine statistisch signifikant höhere Wahrscheinlichkeit auf, gegen aussenpolitische Öffnung und ausländerfreundliche Vorlagen zu stimmen. Thomas Milic, Politikwissenschaftler am Zentrum für Demokratie in Aarau und Blogger bei politan.ch, erklärt: «Die Abstimmungsforschung zeigt, dass die Standpunkte der Parteien eine ganz wesentliche Rolle spielen können.» Wenn die Parteiposition und die eigene Ansicht auseinanderdriften, würden sich die meisten Stimmbürger letztlich für die Parteilinie entscheiden.
Nicht so bei der GLP: Im Parlament und bei eidgenössischen Abstimmungen positioniert sich die Parteispitze klar gesellschaftsliberal. Ihre Anhängerschaft denkt aber offenbar anders, denn die Wahrscheinlichkeit, restriktiv abzustimmen nimmt zu, wenn sich jemand der GLP verbunden fühlt.
Im Vergleich zu Nicht-Sympathisanten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines restriktiven Stimmentscheids für Sympathisanten der erwähnten Parteien. Unter den migrationspolitisch offenen Stimmbürgern liegt sie aber nur bei SVP-Anhängern über 50 Prozent. D.h. mehr als die Hälfte der SVP-Anhänger stimmt in der Migrationspolitik falsch ab, also entgegen ihren Einstellungen. Am kleinsten ist die Wahrscheinlichkeit eines falschen Votums unter Personen, die sich am ehesten mit den Grünen identifizieren.

- Schlecht Informierte: Dieser Faktor ist politisch brisant: Wäre ein migrationspolitisch offener Stimmbürger besser über die Vorlage informiert, würde er eher gemäss seiner Grundhaltung stimmen und restriktive Forderungen ablehnen. In der mehrheitlich offenen Schweizer Stimmbevölkerung würde daher eine Masseneinwanderungs- oder Ausschaffungsinitiative bei besserer Informationslage der Stimmbevölkerung auf weniger Anklang stossen. Dies allerdings nur dann, wenn wir von einer ähnlich hohen Beteiligung ausgehen.
- Dem Bundesrat Misstrauende: Die Unterschiede zwischen Personen, die dem Bundesrat misstrauen, und denjenigen, die ihm vertrauen, sind massiv: Erstere haben eine 10 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit falsch abzustimmen. Sie unterstützen also migrationspolitisch restriktive Forderungen stärker, obwohl sie prinzipiell offen eingestellt sind. Dies deutet auf ein klassisches Protestvotum hin: Man möchte seinen Unmut gegenüber der Regierung in Bern äussern, ist aber nicht wirklich von der restriktiven Forderung überzeugt.
- Männer: Männer unterstützen migrationspolitisch restriktive Vorlagen stärker als Frauen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Vorlage auf Zuspruch stösst, ist bei Männern durchschnittlich vier Prozent höher als bei Frauen. Da Männer immer noch häufiger an Abstimmungen teilnehmen als Frauen, verhelfen sie migrationspolitisch restriktiven Forderungen oft zum Durchbruch.
- Schlecht Gebildete: Je tiefer der Bildungsabschluss einer Person ist, desto stärker unterstützt sie restriktive Forderungen. Personen, die nur die obligatorische Schulzeit, aber keine Lehre absolviert haben, weisen verglichen mit Uni-Absolventen eine um elf Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf restriktiv zu stimmen. Diese Unterschiede zwischen den Bildungsstufen treten trotz der migrationspolitisch offenen Grundhaltungen der untersuchten Personen auf.

«Falschstimmer» – ein Problem?
Auf das Paradox der offenen Grundeinstellungen aber restriktiven Stimmentscheide angesprochen meint Claude Longchamp, Politikwissenschaftler am gfs.bern: «Sofern im Stimmvolk Meinungsänderungen aufgrund sachlich fundierter Meinungsbildung erfolgen, ist nichts dagegen einzuwenden.» Probleme könnten aber da auftauchen, wo es sich um kurzfristige Meinungsänderungen im Sinne einer emotionalisierten Stimmungsabgabe handelt. Ursache von emotionalisierten Entscheiden können beispielsweise irreführende Kampagnen sein, welche einzelne Stimmbürger kurzfristig umstimmen und sie zu einer falschen Stimmabgabe verleiten.
[1] Foto: Christine und Hagen Graf|Flickr
Untersuchungseinheit
Untersucht wurden sämtliche Personen, die gemäss ihren Wertehaltungen als «migrationspolitisch offen» bezeichnet werden können. Für diese Einteilung wurden zwei Fragen aus den VOX‐Analysen verwendet:
- Möchten Sie eine Schweiz mit gleichen Chancen für Ausländer und Ausländerinnen, oder eine Schweiz mit besseren Chancen für Schweizer und Schweizerinnen?
- Möchten Sie eine Schweiz, die sich vermehrt nach aussen öffnet, oder eine Schweiz, die sich vermehrt verschliesst?
Es wurden nur Personen berücksichtigt, die sich klar für eine Chancengleichheit zwischen Ausländern und Schweizern sowie gleichzeitig für eine aussenpolitische Öffnung der Schweiz aussprachen. Dies waren insgesamt 1932 Personen.
Fallauswahl
Damit auch Aussagen über BDP‐ und GLP‐Anhänger möglich waren, wurde der Untersuchungszeitraum auf 2008 bis 2014 festgesetzt. Während dieser sieben Jahre hatte das Stimmvolk über die folgenden sieben Migrationsvorlagen zu befinden:
Datum | Abstimmung | Ja-Anteil |
---|---|---|
08.02.2009 | Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien | 59.6% |
29.11.2009 | Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» | 57.5% |
28.11.2010 | Volksinitiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)» | 52.9% |
28.11.2010 | Gegenentwurf zur Volksinitiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)» | 45.8% |
09.06.2013 | Asylgesetz (AsylG) (Dringliche Änderungen des Asylgesetzes) | 78.4% |
09.02.2014 | Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» | 50.3% |
30.11.2014 | Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» | 25.9% |
Um die Zusammenhänge statistisch zu überprüfen, wurde ein logistisches Regressionsmodell mit einer binären abhängigen Variable gerechnet. Die abhängige Variable war der Stimmentscheid der Befragten, der entweder migrationspolitisch offen oder restriktiv war.