Grosses Aufatmen bei der Befürworterschaft des Energiegesetzes am 4. März 2017: Die Delegiertenversammlung der FDP stimmte dem Gesetz zwar mit Ach und Krach (175 zu 163 Stimmen), aber letztlich mehrheitlich zu. Ist die Volksabstimmung nun, da klar ist, dass die SVP (fast) alleine gegen das Gesetz ankämpfen wird, schon entschieden?
Zunächst: Warum sollte das Ergebnis einer Delegiertenversammlung überhaupt einen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Bürgerinnen und Bürger haben?[1] Die Stimmbürger sind doch mündige Citoyens und können selbständig entscheiden – ohne Rücksicht darauf, was ihre bevorzugte Partei empfiehlt. Das stimmt prinzipiell.[2] Die meisten Schweizer Bürgerinnen und Bürger sind keine Parteisoldaten, die Parolen in blindem Gehorsam umsetzen. Vielmehr setzen sich die meisten von ihnen mit dem Vorlageninhalt auseinander und sei es manchmal auch nur dadurch, dass sie das Bundesbüchlein kurz überfliegen.
PARTEIELITEN UND PARTEIBASIS SIND SICH OFT EINIG
Und trotzdem stimmen viele Parteianhänger am Ende genauso ab, wie es ihre bevorzugte Partei empfiehlt. Natürlich längst nicht immer: Bei der USR III-Abstimmung wichen beispielsweise die bürgerlichen Wählerschaften stark von der Parole ihrer jeweiligen Identifikationspartei ab. Aber für gewöhnlich ist die Übereinstimmung zwischen Parole und dem Urnenentscheid der entsprechenden Parteianhängerschaft (auch «Parolenkonformität» genannt) verblüffend hoch. So beträgt die durchschnittliche Abweichung des Stimmentscheids der vier Bundesratsparteien von ihrer jeweiligen Parteilinie bloss etwa 25-30 Prozent (schwarze Linie innerhalb der Box).

Das liegt zum einen daran, dass Parteieliten und Parteibasis häufig dieselben Wertehaltungen teilen. Diese Übereinstimmung von Werten und Interessen (beide gehen oftmals miteinander einher und sind deshalb schwer auseinanderzuhalten) zwischen Partei und Parteianhänger ist wohl auch einer der Hauptgründe, weshalb man sich zu einer bestimmten Partei hingezogen fühlt. Mit anderen Worten: Beide – Parteieliten und Parteibasis – kommen bei einer Abstimmungsfrage unabhängig voneinander zu denselben Schlüssen. Zum anderen orientieren sich Parteisympathisanten aber durchaus an der Linie ihrer bevorzugten Partei. Gerade bei komplexen Sachfragen oder solchen, die so, aber auch anders beurteilt werden können, ist der verunsicherte Stimmbürger auf einen verlässlichen Orientierungspunkt angewiesen – und diese Referenz ist oftmals die Linie der eigenen Partei. Dabei werden – wie oben gesagt – Parolen nicht einfach blind umgesetzt. Schliesslich gehören zur Parteilinie nicht bloss die hochoffiziellen Parolen, die den Stimmenden ohnehin selten bekannt sind.[4] Zur Parteilinie gehört auch das Argumentarium einer Partei, welche die Stimmenden oftmals – und sei es nur, um einen Bauchentscheid nachträglich zu rationalisieren – bereitwillig übernehmen («It feels as if we are thinking«). Tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen der Parteilinie und dem Stimmverhalten stark ausgeprägt. Die nachfolgende Grafik zeigt den Zusammenhang zwischen dem Wähleranteil der Parteien des Pro-Lagers und dem Ja-Stimmenanteil bei der entsprechenden Volksabstimmung.[5]

Dieser Zusammenhang ist erstaunlich stark, stärker als beispielsweise jener zwischen der Schlussabstimmung im Nationalrat und der entsprechenden Volksabstimmung. Klar, längst nicht alle Parteianhänger folgen der Empfehlung ihrer Identifikationspartei, zumal es auch noch viele gibt, die sich mit keiner Partei identifizieren können. Aber das Modell irrt sich im Schnitt bloss um rund acht Prozentpunkte.
WENN BLOSS DER NOTORISCHE SEKTIONALISMUS DES SCHWEIZER PARTEIENSYSTEMS NICHT WÄRE …
Damit dürfte die Abstimmung zum Energiegesetz doch gelaufen sein, denn von den nationalen Mutterparteien der grösseren Parteien widersetzt sich bloss die SVP der Energiestrategie.[6] Ganz so einfach ist es nicht. Denn die FDP ist im Dossier Energiepolitik innerlich tief gespalten. Das hauchdünne Resultat der Delegiertenversammlung zugunsten des Energiegesetzes [7] ist ein starker Indikator dafür, dass bei dieser Frage nicht nur die Parteielite der FDP, sondern auch ihre Parteibasis uneins ist. Dieser Zusammenhang zwischen Eliten- und Basiskonflikt lässt sich zudem empirisch belegen. Zu diesem Zweck haben wir zum einen die Anzahl kantonal abweichender Abstimmungsparolen für alle vier Bundesratsparteien ermittelt und diese der Abweichung im Stimmverhalten der jeweiligen Parteianhängerschaften bei der entsprechenden Volksabstimmung gegenübergestellt.
Auch hier ist ein starker Zusammenhang zu erkennen. Je mehr kantonale Parteien von der Parole der nationalen Delegiertenversammlung abweichen, desto stärker weichen in der Folge auch die Parteianhängerschaften bei der Volksabstimmung von der nationalen Parole ab. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Wir wollen in diesem Beitrag nicht weiter darauf eingehen. Auf jeden Fall aber ist es nicht unerheblich, wie geschlossen die jeweiligen Parteien im Abstimmungskampf auftreten. Ist sich eine Partei nicht einig, scheren demnach kantonale Parteien (oder auch einflussreiche Exponenten) zuhauf aus, dann ist selbiges auch von ihrer Anhängerschaft zu erwarten. Qualis rex, talis grex.
KOMFORTABLES JA ODER SPANNUNG – DIE FDP-ANHÄNGERSCHAFT UND DIE PARTEIUNGEBUNDENEN ENTSCHEIDEN DARÜBER
Was bedeutet das für das Energiegesetz? Sollten sich einzig die SVP und die EDU gegen das Energiegesetz wenden und stellen sich dabei keine kantonalen Sektionen quer, so ist gemäss Modellschätzung mit einem vergleichsweise komfortablen Ja zu rechnen (rund 57% +/- 8.5 Prozentpunkte Prognosefehler). Spannender dürfte es dann werden, wenn viele FDP-Kantonalparteien ins gegnerische Lager wechseln. Das Nein-Lager weist auf seiner Internetseite bereits sechs ausscherende FDP-Kantonalparteien aus.[8] Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist nicht so, dass die Parole einer Kantonalpartei am Ende den Ausschlag gibt. Viele FDP-Wähler dürften die Parole ihrer kantonalen Partei gar nicht erst kennen. Aber diese Abweichungen stehen stellvertretend für einen parteiinternen Konflikt, der sowohl in der Elite wie auch in der Basis vorhanden ist. Und ein solcher Konflikt verringert gemäss Modellschätzung den Ja-Anteil im vorliegenden Fall signifikant, wenn auch nicht unter die 50-Prozent-Marke. Solche Modell-Punktschätzungen sind immer mit Vorsicht zu geniessen. Alleine der durchschnittliche Prognosefehler von 8.5 Prozentpunkte zeigt, dass das Modell nicht derart ausgereift ist wie etwa Modelle zu (kurzfristigen) Wetterprognosen. Immerhin zeigt die Modellschätzung aber deutlich, dass sich Uneinigkeit in der FDP-Parteielite in ein ähnlich gespaltenes Stimmverhalten bei der FDP-Parteianhängerschaft niederschlägt. Ausschlaggebend dafür, wie spannend der Abstimmungssonntag verlaufen wird, wird demnach das Votum der FDP-Anhängerschaft und natürlich auch der zahlreichen Parteiungebundenen sein.
Thomas Milic und Thomas Willi
[1] Parolen für eidgenössische Urnengänge werden in der Regel von den Delegiertenversammlung gefasst. Zuweilen formulieren aber auch andere Organe Empfehlungen (z.B. Zentralvorstand bei der SVP, etc.).
[2] Zur Parolenkonformität im Stimmverhalten siehe: Milic, Rousselot und Vatter (2014): Handbuch der Abstimmungsforschung, NZZ Libro, Zürich, Seiten 332-349.
[3] Die Abweichung des Stimmverhaltens der vier Parteianhängerschaften wurde anhand der VOX- bzw. VOTO-Daten erhoben. Die ausgewiesenen Punktschätzungen unterliegen jeweils einem Zufallsfehler, der – je nach Grösse des Subsamples – sechs bis vierzehn Prozentpunkte betragen kann.
[4] Siehe hierzu: Kriesi, Hanspeter. 1994. Akteure-Medien-Publikum. Die Herausforderung direkter Demokratie durch die Transformation der Öffentlichkeit, S. 234-260 in Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, hrsg. von Friedhelm Neidhardt. Opladen: Westdeutscher Verlag.
[5] Die Parteilinie wird in dieser Abbildung durch den Wähleranteil jener Parteien gemessen, deren nationale Delegiertenversammlung eine Ja-Parole fasste. Die Überlegung dahinter ist die folgende: Sollten sich die Parteianhängerschaften ausnahmslos an die Parole halten, so gibt der addierte Wähleranteil des Pro-Lagers das Ja-Potenzial bei einer Abstimmung an. Natürlich halten sich niemals alle Parteianhänger an die Empfehlung ihrer Partei. Der Indikator ist in diesem Sinne eher als regulative Idee zu verstehen. Die Auswertung zeigt aber, dass dieses Potenzial ein guter Prädiktor für das Abstimmungsergebnis ist. Kein anderer einzelner theoretischer Prädiktor hat eine höhere Erklärungskraft.
[6] Die EDU fasste ebenfalls eine Nein-Parole.
[7] Hier finden Sie den Artikel in der NZZ.
[8] Hier geht es zu den Parolen.