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Beeinflussten Umfragen das Resultat der Wahlen 2019?

Nach jeder Wahl oder Abstimmung der gleiche Vorwurf: Die Politikerinnen, darunter auffallend viele Wahlverliererinnen, beklagen sich über die Umfragen. So auch nach den diesjährigen Nationalratswahlen. Sie beklagen sich dabei entweder darüber, dass die Umfragen nicht genau genug den Wahlausgang vorhergesagt haben (Albert Rösti, SVP) oder dass sie die Wahlen beeinflusst haben (Balthasar Glättli, Grüne). Oftmals auch beides gleichzeitig (Nadine Masshardt, SP), obwohl dies widersprüchlich ist.[2] Denn wie sollen Wahlumfragen genau den Wahlausgang vorhersagen, wenn sie selber den Wahlentscheid beeinflussen und damit selbst dafür sorgen, dass sich das Wahlresultat von den Umfragewerten wegbewegen?

Da es unmöglich ist, dass die Umfragen gleichzeitig eine genaue Vorhersage bilden und einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben, gibt es über den Zusammenhang zwischen der Präzision der Umfragen und deren Einfluss auf das Wahlverhalten nur drei Szenarien:

  1. Die Umfragen waren präzise und hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten
  2. Die Umfragen hatten keinen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise
  3. Die Umfragen hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise

Unten werde ich auf die Frage eingehen, für wie wahrscheinlich ich die drei Szenarien halte. Doch zunächst muss darüber Klarheit bestehen, was unter «unpräzise» zu verstehen ist. So gilt es festzuhalten, dass selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Wahlabsichten der Schweizerinnen seit den letzten Befragungen überhaupt nicht verändert haben, die Umfragen die Trends für alle Parteien richtig vorhergesagt haben.[3] Schaut man sich das Wahlbarometer der SRG genau an, so sieht man ausserdem, dass nur der Wähleranteil der Grünen klar ausserhalb des «Fehlerbereiches» lag. Schliesslich liegt der Prognosefehler auch weit unter dem internationalen Durchschnitt.[4] Wenn wir also von unpräzise sprechen, dann ist das sehr relativ und bezieht sich allenfalls darauf, dass die Umfragen eine geringere Wahlabsicht für die Grünen und eine etwas grössere für die SP und SVP ausgewiesen haben als am Wahltag eingetroffen ist.[5]

Doch jetzt zu unseren drei Szenarien über die Präzision der Umfragewerte und ihren Einfluss auf das Wahlverhalten:

Szenario 1: Die Umfragen waren präzise und hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten

Die Umfragen haben die Wahlabsichten zu ihrem Zeitpunkt sehr präzise gemessen, aber in den letzten 10 Tagen hat sich ein substantieller Anteil linker Wähler dazu entschieden, die Grünen zu wählen anstatt zuhause zu bleiben oder die SP zu wählen. Die Grünen haben gegenüber der letzten Umfrage 2 bis 3 Prozentpunkte gewonnen und die SP 1 bis 2 Prozentpunkte verloren. Die Umfragen haben dies teilweise beeinflusst, indem sie (korrekterweise) die Erwartungen an einen Wahlsieg der Grünen geschafft haben. Für diesen Zusammenhang zwischen den Umfragewerten und den Erwartungen spricht, dass der von mir durchgeführte Prognosemarkt sich stark an den Umfragen orientiert hat. Die auf dem Prognosemarkt gemessene Erwartung war also, dass die Umfragen präzise sind und den Wahlerfolg der Grünen vorwegnehmen. Diese Erwartungen haben durch einen «Trittbrettfahrer-Effekt» (bandwagon effect) unentschiedene Wähler aus dem linken Lager dazu bewogen, eher die Grünen zu wählen. Gründe für den Trittbrettfahrer-Effekt sind, dass es einem ein besseres Gefühl gibt zu den Siegern zu gehören, dass man das Gefühl hat etwas sozial Erwünschtes zu tun oder dass man wenig informiert ist und sich daher an den Entscheiden anderer im eigenen Umfeld orientiert.[6] Weil sich die SP und Grünen ideologisch so nahestehen und linke Wählerinnen für beide Parteien Sympathien haben, scheint mir dieser Trittbrettfahrer-Effekt plausibel. Auch gemäss diesem Szenario hat der Trittbrettfahrer-Effekt vor allem bei den Grünen und der SP gespielt, denn für die anderen Parteien lagen ja Umfragewerte und Wahlergebnis nahe beieinander. Für mich handelt es sich um das wahrscheinlichste Szenario.

Szenario 2: Die Umfragen hatten keinen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise

Es ist das Szenario, dass man in der Wissenschaft am ehesten beobachtet. Thomas De Rocchi hat in seinem Buch zu den eidgenössischen Wahlen 2011 mit hochwertigen Daten und Methodik nachgewiesen, dass die Umfragen keinen Effekt auf das Wahlresultat ausgeübt haben.[7] Trifft dies auch für 2019 zu, haben die Umfragen die Wahlabsichten für die Grünen, SP und SVP nicht präzise gemessen. Mögliche Gründe für Umfragefehler gibt es viele. Besonders schwierig dürfte es bei dieser Wahl gewesen sein, die Mobilisierung und Wahlabsichten der Neuwählerinnen richtig zu modellieren. Für mich ist dies die plausible Alternative zu Szenario 1.

Szenario 3: Die Umfragen hatten einen Einfluss auf das Wahlverhalten und waren unpräzise

Dies scheint die Intuition verschiedener Politikerinnen zu sein. Demnach stand zum Beispiel das Ausmass des Wahlerfolges der Grünen und die Verluste der SP schon mindestens 10 Tage vor der Wahl fest, die Umfragen haben es aber nicht präzise gemessen. Hätten die Wählerinnen über diese Wahlabsichten gewusst, wäre es in den letzten Tagen der SP leichter und den Grünen schwerer gefallen Wählerinnen zu mobilisieren. Die Intuition hinter dieser Hypothese ist, dass die Wählerinnen eher Parteien unterstützten, denen eine Niederlage droht. Das erste Problem mit dieser Hypothese ist: Wenn die Umfragen angeblich so unpräzise waren, weshalb waren sie dies nur bei Grünen, SP und SVP, nicht aber bei den anderen Parteien? Das zweite Problem mit der These ist, dass es in der Wissenschaft überhaupt keine Grundlage für diese Annahme gibt. Mir ist zumindest keine einzige Studie bekannt, welche nachweist, dass dieser «Aussenseiter-Effekt» (underdog effect) den oben beschriebenen «Trittbrettfahrer-Effekt» übertrifft. Dieses bei Politikerinnen beliebte Szenario ist also sehr unwahrscheinlich. Entsprechend drängt sich kein Umfrageverbot auf.

Oliver Strijbis

Hier geht es zum Originalbericht.

Hier finden Sie den Unterschied von Momentaufnahmen und Prognosen.

Hier finden Sie die Beschreibung einer Prognose (Abstimmungen).

Dieser Artikel wurde von 50plus1 zur Verfügung gestellt. 50plus1 ist ein wissenschaftlicher und politisch unabhängiger Blog von Laurent Bernhard (FORS), Maxime Walder und Oliver Strijbis (beide Universität Zürich).

[1] Foto: Felix Imobersteg | Flickr

[2] Echo der Zeit, 22.10.2019, 18:00 Uhr.

[3] Vergleiche dazu die letzten Umfragen von Sotomo, LeeWas und Gallup.

[4] Jennings, Will und Christopher Wlezien (2018): «Election polling errors across time and space»; Nature Human Behaviour 2, 276–283.

[5] Die NZZ schreibt: «Die Umfragen, die regelmässig im Vorfeld von Wahlen erscheinen, lagen zum Teil weit neben dem tatsächlichen Wahlergebnis.« Diese Kritik ist völlig überzogen. Hier geht es zum besagten Artikel.

[6] Schmitt-Beck, Rüdiger (2016): «Bandwagon effect»; S. 57-61 in Gianpietro Mazzoleni: The international encyclopedia of political communication. Wiley Blackwell, Chichester.

[7] De Rocchi, Thomas (2018): Wie Kampagnen die Entscheidung der Wähler beeinflussen; Zum kurzfristigen Wirkungspotential von Medienberichten und Wahlumfragen in der Schweiz. Springer VS, Wiesbaden.

Wie sich eine Personenwahl einer Parteiwahl annähert

Am 23. Oktober wählen die Aargauer und Aargauerinnen eine neue Regierung. Für die fünf Regierungssitze konkurrieren nicht weniger als vierzehn Kandidatinnen und Kandidaten. Die hohe Kandidatenzahl macht zum einen einen zweiten Wahlgang wahrscheinlich und fördert zum anderen partei- bzw. blockgebundenes Wählen – was dem Charakter einer Personenwahl widerspricht.

 

Bei Podien zu den diesjährigen Exekutivwahlen des Kantons Aargau dürfte der eine oder andere Kandidierende regelrechten «Dichtestress» erleiden: Denn heuer haben sich vierzehn Kandidierende für das Rennen um die fünf Aargauer Regierungssitze angemeldet.
Ein zweiter Wahlgang ist wahrscheinlich
Das ist ungewöhnlich viel, obschon 2008 auch schon 12 Kandidierende ins Wahlrennen stiegen. Eine solch hohe Zahl von Kandidierenden hat Auswirkungen auf den Wahlausgang. Zunächst ist ein zweiter Wahlgang wahrscheinlich. Zwar wird im Kanton Aargau zur Ermittlung des absoluten Mehrs nicht auf (gültige) Stimmzettel, sondern auf gültige Stimmen abgestellt.[2] Das verringert vorderhand die Wahrscheinlichkeit eines zweiten Wahlgangs, weil die Kandidierenden – anders als in Kantonen mit einem «strikten», auf Wahlzetteln bezogenen absoluten Mehr – nicht mehr auf jedem zweiten gültigen Wahlzettel aufgeführt sein müssen, um das absolute Mehr zu erzielen.[3] Aber bei einer hohen Anzahl von Kandidierenden schreiben die Wähler – ceteris paribus – auch mehr Namen von Kandidierenden auf den Wahlzettel. Denn sie haben mit wachsender Zahl von Kandidierenden auch eine grössere Auswahl. Für Wähler, die primär in ideologischen Blöcken denken (links vs. rechts), ist bei einer solch hohen Zahl von Kandidierenden beispielsweise gewährleistet, dass sie ihren Wahlzettel vollständig mit Kandidierenden aus dem eigenen Lager komplettieren können. Dadurch verringert sich aber die Zahl der leeren Stimmen, was wiederum die Hürde für das absolute Mehr erhöht. Kurz, mit wachsender Zahl Kandidierender erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines zweiten Wahlganges. Und tatsächlich war 2008 mit zwölf Bewerber um die Aargauer Exekutivsitze ein zweiter Wahlgang nötig.
Regierungsratswahlen sind Personenwahlen
Ein grosser Andrang auf das kantonale Regierungsamt wirkt sich aber auch auf das Ergebnis der einzelnen Kandidaten und Kandidatinnen aus. Kantonale Exekutivwahlen sind in 25 von 26 Kantonen Majorzwahlen und als solches in erster Linie Personenwahlen. Nicht Parteien bzw. die Parteizugehörigkeit des Kandidaten oder der Kandidatin soll bei Personenwahlen im Vordergrund stehen, sondern die Person und seine/ihre (ausserparteilichen) Eigenschaften. So mag es in der Theorie sein. Tatsächlich aber spielt die Parteizugehörigkeit eines Regierungsratskandidaten oder einer Regierungsratskandidatin für viele Wähler gleichwohl eine erhebliche Rolle. Sie ist zunächst einmal eine sehr effiziente Entscheidhilfe. Weiss man beispielsweise nicht viel über den Kandidierenden, so kennt man doch oftmals seine Parteizugehörigkeit. Und das genügt bestimmten Wählern und Wählerinnen bereits schon. Mehr wollen sie gar nicht wissen. Das widerspricht dem Charakter einer Personenwahl, wo Köpfe im Vordergrund stehen sollen und nicht Parteien. Aber Wahlkriterien lassen sich nicht vorschreiben. Unsere Vermutung ist nun diejenige, dass bei einer hohen Anzahl von Kandidierenden die Parteizugehörigkeit als Wahlkriterium immer wichtiger wird. Mit anderen Worten: Je höher die Anzahl Kandidierender, desto eher entspricht das Ergebnis eines Kandidaten oder einer Kandidatin in etwa dem, welches seine/ihre Partei bei den (oftmals) gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erzielt.
Breite des Kandidierendenfelds hat Einfluss auf die Parteigebundenheit des Entscheids
Dazu haben wir die Differenz zwischen dem Kandidatenergebnis und dem Ergebnis seiner jeweiligen Partei für alle kantonalen Regierungsratswahlen (mit kompetitiven Charakter) seit 2000 ermittelt. Sodann haben wir ein Multilevelmodell zur Erklärung dieser Differenz gerechnet. Unser Hauptaugenmerk galt dabei der Anzahl Kandidaten, aber natürlich spielen hierbei auch noch andere Faktoren eine Rolle. Auf der Individualebene ist das natürlich der Amtsinhaberstatus: Amtsinhaber und Amtsinhaberinnen erzielen ein Ergebnis, dass «ihr» Parteiergebnis in aller Regel weit übertrifft. [4] Mit anderen Worten: Sie erhalten nicht nur aus ihrem eigenen Lager Stimmen, sondern auch von anderen Parteianhängerschaften. Daneben enthält unser Modell auch noch weitere Bestimmungsgründe: Das Geschlecht, das Alter, die Parteizugehörigkeit (jeweils dichotom) und auf Kontextebene die Zahl der Regierungssitze, die Zahl der frei werdenden Regierungssitze und natürlich auch die Anzahl Kandidierender.
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Abgebildet ist die simulierte Differenz (in Prozentpunkten) zwischen dem Ergebnis der Kandidaten und dem Ergebnis seiner/ihrer Partei bei den gleichzeitig (bzw. zeitnah) stattfindenden Parlamentswahlen.
Die Breite des Kandidierendenfelds hat gemäss diesem Modell einen gehörigen Einfluss auf die Parteigebundenheit des Entscheids. Um das zu veranschaulichen, haben wir – aufbauend auf den oben genannten Modellschätzungen – kontrafaktische Wahlsituationen simuliert. Bei einer hypothetischen Aargauer Wahl mit bloss sechs Kandidierenden würde die Differenz zum Parteiergebnis im Schnitt rund 30 Prozent betragen. Das heisst, die einzelnen Kandidierenden würden durchschnittlich einen Stimmenanteil erzielen, der 30 Prozentpunkte über dem Parteiergebnis zu liegen käme. Bei einer Wahl mit vierzehn Kandidierenden beträgt diese Differenz nur noch 14 Prozentpunkte. Mit anderen Worten: Die Wähler und Wählerinnen halten sich bei einer hohen Anzahl Kandidierendr viel stärker an die parteieigenen bzw. blockeigenen Kandidaten und Kandidatinnen und «verschenken» ihre Stimmen nur ungern an Kandidierende aus anderen Parteien. Die Personenwahlen werden so zu Parteiwahlen bzw. sie nähern sich diesen an.
Proporz wider Willen
Im Übrigen, wenn wir davon ausgehen, dass das absolute Mehr bei rund 40 Prozent der gültigen Wahlzettel zu liegen kommt, würden unserem Modell gemäss vier Kandidierenden dieses absolute Mehr im ersten Wahlgang erreichen. Demnach wäre ein zweiter Wahlgang nötig und dort werden die Karten bekanntlich neu gemischt. Bei einer hypothetischen Wahl mit lediglich sechs Kandidierenden hätten es hingegen alle sechs Kandidierende im ersten Wahlgang geschafft (eine Person wäre demnach überzählig gewesen). Gewiss, dies ist bloss ein Gedankenspiel. Denn am 23. Oktober treten nicht sechs, sondern vierzehn Kandidaten und Kandidatinnen an. Aber das Gedankenspiel zeigt, wie sich eine Personenwahl bei einer hohen Anzahl Kandidierenden einer Parteiwahl annähert.

Thomas Milic und Thomas Willi

[1] Foto: Kanton Aargau | Twitter

[1] § 22 * des GPR: Ermittlung des Ergebnisses, absolutes Mehr: 1) Bei der Ermittlung des Ergebnisses einer Wahl oder Abstimmung fallen die leeren und ungültigen Stimmzettel beziehungsweise Stimmen ausser Betracht. 2) Das absolute Mehr berechnet sich wie folgt: Die Gesamtzahl der gülti­gen Stimmen wird durch die Anzahl der zu wählenden Behördenmitglieder geteilt und das Ergebnis halbiert. Die nächsthöhere ganze Zahl ist das absolute Mehr.
[2] Man nehme etwa das Beispiel des Kantons Schwyz. Im Kanton Schwyz galt bis 2005 der auf den Wahlzetteln beruhende Modus zur Berechnung des absoluten Mehrs. Bei den letzten, nach diesem Berechnungsverfahren durchgeführten Wahlen vom 28. März 2004 erreichte keiner der 9 Kandidierenden das erforderliche Mehr im ersten Wahlgang. Bei den Wahlen vom 16. März 2008 wurden erstmals nur noch die gültigen Kandidatenstimmen berücksichtigt. Da die Schwyzer Wählerschaft im Schnitt nur 4.03 Kandidatennamen auf die Wahlzettel schrieb, sank der Schwellenwert des absoluten Mehrs bei diesen Wahlen auf 28.7 Prozent aller gültigen Wahlzettel.Mit anderen Worten: Im Vergleich zur Wahl von 2004 war nur noch etwa die Hälfte der Stimmen notwendig, um das absolute Mehr zu erreichen. Dieses Mehr erreichten alle neun angetretenen Kandidaten. Ein zweiter Wahlgang war 2008 nicht mehr nötig.
[3] Lesen Sie dazu hier wie im Kanton Zug, der jüngst von Proporz- auf Majorzwahlen bei Exekutivämtern umstieg, dafür geworben wurde.
 

Schaffhausen – das Stimmwunder am Rheinfall?

Am 28. August 2016 wählen die Schaffhauser Stimmberechtigten eine neue Regierung. Der Wahltermin gerade nach den Sommerferien gäbe anderswo Anlass zur Sorge, dass die Beteiligung tief ausfallen könnte. Nicht so im Kanton Schaffhausen: Hier leben die Schweizer Musterbürger mit den konstant höchsten Beteiligungsraten. Das liege aber nicht an der Stimmpflicht, wird vielfach versichert, sondern daran, dass den Schaffhausern «das Abstimmen im Blut liege». Wirklich?

Wenn es um die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen geht, liegt der Kanton Schaffhausen zumeist vorne. Der Grund dafür liegt (vordergründig) an der sanktionierten Stimmpflicht, die es nur noch in diesem Kanton gibt. Die Sanktion für einen entgangenen Urnengang ist indes nicht allzu harsch: Neu müssen sechs Franken pro verpasstem Wahlgang bezahlt werden (zuvor waren es lange Zeit drei Franken). Hinzu kommt, dass man die unausgefüllten Stimmunterlagen innerhalb von drei Tagen nach der Abstimmung retournieren kann, was von den wohlwollenden Behörden gewissermassen als «begründetes Fernbleiben» bewilligt wird.[2] Deshalb habe die Busse eher symbolischen Charakter – so das Fazit in einem kürzlich erschienenen Beitrag.[3] Und die rege Beteiligung der Schaffhauser sei deshalb nicht von oben verordnet, sondern «liege im Blut».

Der homo oeconomicus Schaffhusiensis sollte leer einlegen, um der Busse für Stimmabstinenz zu entgehen.

Genau mit dieser Frage – ob der Schaffhauser ein pflichtbewusster Vorzeigedemokrat oder ein nüchterner Nutzenmaximierer sei – hat sich Eveline Schwegler in ihrer Lizentiatsarbeit 2009 auseinandergesetzt. Sie kam damals zu einem anderen Schluss als der oben erwähnte Bericht. Dabei machte sie sich folgende Überlegung: Wie würde  der homo oeconomicus in Schaffhausen wohl vorgehen, um einer Busse für Stimmabstinenz zu entgehen? Er würde am ehesten leer einlegen. Diese Form der Beteiligung bürdet dem Stimmenden nämlich keinerlei Informationskosten auf. Zwar ist auch bei einem Stimmbürger, der sich materiell beteiligt (d.h. ein Ja bzw. ein Nein auf den Stimmzettel schreibt), nicht garantiert, dass er sich mit dem Entscheidstoff auch wirklich auseinandergesetzt hat. Und wenn man sich gewisse Motivangaben anschaut, die bei der Vox-Nachbefragung gemacht werden, so kommen in der Tat Zweifel daran auf, ob dem betreffenden Entscheid ein individueller (kognitiver) Meinungsbildungsprozess vorausging, der diese Bezeichnung auch verdient. Aber in den meisten Fällen ist das so. Diesen Aufwand muss nun derjenige nicht leisten, der leer einlegt. Für am Urnengang desinteressierte Schaffhauser ist das Einlegen eines leeren Stimmzettels demnach eine ganz elegante Möglichkeit, der Busse von sechs Franken zu entkommen. Tun sie das auch?

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Anteil Leerstimmen am Total aller eingelegten Stimmzettel an eidg. Urnengängen 2010 bis 2015.

Ja, und wie. Der Anteil Leerstimmen am Total aller eingelegten Wahlzettel beträgt für die Periode zwischen 2010 und 2015 rund sechs Prozent (zwischen 1971 und 2007 waren es gar 7.1 Prozent), während er gesamtschweizerisch gerade mal bei 1.7 Prozent zu liegen kommt. Dabei ist zudem zu beachten, dass der Anteil Leerstimmen in der Deutschschweiz signifikant geringer ist als in der Romandie und dem Tessin. Betrachtet man nur die Deutschschweiz, so weist der Kanton Schaffhausen anteilsmässig fast drei Mal so viele Leerstimmen auf wie der «nächstbeste» Kanton, der Kanton Basel-Stadt. Diese Leerstimmen relativieren das Schaffhauser Stimmwunder ein wenig. Im Prinzip, so könnte man argumentieren, würde die materielle Stimmbeteiligung des Kantons Schaffhausen um sechs Prozent unter der offiziellen Stimmbeteiligung liegen (2011-2015: 64.3%) und der stattliche Beteiligungsvorsprung auf die anderen Kantone würde somit um einiges schrumpfen, wenn auch nicht gänzlich verschwinden.

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Anteil Leerstimmen am Total aller eingelegten Stimmzettel an eidg. Urnengängen 2010 bis 2015 im Kanton Schaffhausen.

Leer zu stimmen kann allerdings verschiedene Gründe haben. Das ist alleine schon daran ersichtlich, dass auch in anderen Kantonen leer eingelegt wird – wenn auch, wie gezeigt, deutlich seltener. In den Nicht-Stimmpflichtkantonen ist das vor allem bei Multipack-Abstimmungen der Fall, bei denen neben einer besonders stark mobilisierenden Vorlage gleichzeitig auch noch weitere, allerdings nur wenig elektrisierende Sachgeschäfte vorgelegt werden. Ein Beispiel: Bei der Abstimmung über die Minarettverbotsinitiative wurde gleichzeitig auch noch über die wenig mitreissende Vorlage zur Spezialfinanzierung des Flugverkehrs befunden. Wer erinnert sich noch an die letztgenannte Vorlage? Bei solchen Urnengängen legen die Bürger oft leer zu den sie wenig interessierenden Sachgeschäften ein. Die «Schaffhauser» Strategie ist deshalb bei einzeln vorgelegten, aber sehr konfliktarmen Sachfragen am ehesten erkennbar. So geschehen bei der Abstimmung vom 25.11.2012: National wurde damals nur über ein Geschäft befunden, die Revision des Tierseuchengesetzes.[4] Diese Sachfrage riss naturgemäss nur die wenigsten vom Hocker, die Beteiligung lag bei sehr tiefen 27.6 Prozent. In anderen Kantonen blieben die meisten Stimmbürger demnach zuhause – «straffrei», denn Abstinenz wird dort nicht gebüsst. Nur die regelmässigen Urnengänger und die wenigen direkt Betroffenen nahmen teil. Der Anteil Leerstimmen lag deshalb schweizweit bei durchschnittlichen 2.6 Prozent. Anders in Schaffhausen: Wehe dem, der «unentschuldigt» zu Hause blieb. Er musste mit einer Busse von (damals) 3 Franken rechnen. Also beteiligten sich wieder viele, die zum Tierseuchengesetz gar keine Meinung hatten: 13.2 Prozent legten nämlich leer ein – fünf Mal so viel wie im Rest der Schweiz.

Das Stimmwunder vom Rhein ist also gar nicht so mirakulös. Allerdings – und zum gleichen Schluss gelangt auch Schwegler in ihrer Arbeit – kann ein nicht unerheblicher Teil des Beteiligungsüberschusses in der Tat nicht mit nüchternen Nutzenkalkülen begründet werden. Es gibt sie also doch, die Vorzeigedemokraten, die das Stimmen und Wählen als Bürgerpflicht verinnerlicht haben, nur eben, so viele, wie zuweilen angenommen, sind es nicht. Trotzdem bleibt eine Frage offen, die in der besagten Lizentiatsarbeit von Eveline Schwegler auch schon gestellt wurde: Wenn diesen Schaffhausern das Abstimmen einfach im Blut liegt, wieso braucht es dann noch eine Stimmpflicht? Sie wäre doch unnötig.[5] Und wieso musste man die Busse unlängst auch noch auf sechs Franken erhöhen? Dem Stimmwunder muss eben doch etwas nachgeholfen werden.

Thomas Milic und Thomas Willi

[1] Foto Flickr | Wisi Greter

[2] Weiteres zum begründetetn Fernbleiben gibt es hier.

[3] Den zitierten Beitrag finden Sie hier.

[4] Im Kanton Schaffhausen wurde am 25.11.2012 allerdings gleichzeitig über eine kantonale Vorlage abgestimmt und zudem zwei weitere Mitglieder des Stadtrates gewählt. Siehe hier.

[5] Hier geht es zu einer Zusammenfassung der Lizentiatsarbeit von Eveline Schwegler.

Vom Einfluss nationaler Abstimmungen auf die Wahlen im Kanton St. Gallen

Am 28. Februar 2016 stehen im Kanton St. Gallen sowohl eidgenössische Abstimmungen wie auch kantonale Wahlen an. Fallen nationale und kantonale Wahltermine zusammen, wirkt sich das oftmals auf die Beteiligungsquote aus. Wem nützt das und wem schadet es?

Kantonale Wahlen elektrisieren die Massen nur selten. Im Kanton Zürich und im Kanton Luzern sank die Beteiligungsquote bei den letztjährigen kantonalen Parlaments- und Regierungswahlen auf einen selten tiefen Wert. Diese Malaise wird im Kanton St. Gallen – so unsere kühne Annahme – keine Fortsetzung finden. Nein, vielmehr ist davon auszugehen, dass die kantonalen St. Galler Wahlen gar eine selten hohe Beteiligungsquote aufweisen werden. Das liegt nicht an der aussergewöhnlich spannenden Ausgangslage, sondern daran, dass gleichzeitig eidgenössische Abstimmungen stattfinden. Eidgenössische Abstimmungen wirken sich oft belebend auf die Beteiligungshöhe bei gleichzeitig stattfindenden kantonalen Wahlen oder Vorlagen aus.

Dieses Phänomen ist einfach zu erklären. Nationale Vorlagen mobilisieren in der Regel stärker als kantonale Vorlagen. Denn für sie wird stärker geworben, sie sind in den Medien präsenter und sie haben generell ein höheres Konfliktpotential. Ihretwegen strömen die Massen an die Urnen. Das bleibt für die anderen, gleichzeitig vorgelegten Geschäfte nicht ohne Folgen. Denn: Wer sich dazu durchringt teilzunehmen, füllt häufig alle dem Stimmcouvert beigelegten Wahl- und Stimmzettel aus. Das ist daran erkennbar, dass sich die Beteiligungszahlen zwischen den Vorlagen, die am gleichen Tag zur Abstimmung standen, üblicherweise eher geringfügig unterscheiden. Der Kanton St. Gallen ist da keine Ausnahme. Nachfolgende Abbildung zeigt, dass die Beteiligung an den St. Galler Regierungsratswahlen massgeblich davon abhängig ist, ob am gleichen Tag auch eidgenössische Abstimmungen stattfanden und wie hoch die Beteiligung an diesen Abstimmungen war. 2000 und 2008 trat genau diese Situation in St. Gallen ein und beide Male kletterte die Beteiligungsquote auf über 40 Prozent. 2004 und 2008 hingegen wurden am kantonalen Wahltermin keine eidgenössischen Sachfragen vorgelegt und die Quote fiel auf unter 40 Prozent.

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Die Beteiligung an Parlamentswahlen hingegen ist weniger volatil. Mit anderen Worten: Ob nun gleichzeitig eine hochkonfliktive eidgenössische Abstimmung stattfindet oder nicht, wirkt sich auf die Beteiligung zu den Kantonsratswahlen geringer aus als auf die Beteiligung bei den Regierungsratswahlen.

Für den 28. Februar bedeutet dies folgendes: Die Durchsetzungsinitiative und sekundär die zweite Gotthardröhre werden die Lokomotivvorlagen sein. Sie werden aller Voraussicht nach für eine überdurchschnittlich hohe Beteiligung sorgen – national wie auch im Kanton St. Gallen. Im Sog der Durchsetzungsinitiative werden wohl auch die Beteiligungszahlen für die Regierungs- und – etwas geringer – für die Parlamentswahlen steigen. Wer profitiert davon? Und wer nimmt Schaden?

Bei den Parlamentswahlen: Es versteht sich von selbst, dass darauf keine eindeutige Antwort gegeben werden kann. Aber man kann sich der Antwort immerhin spekulativ annähern, indem man sich die zeitliche Nähe der Nationalratswahlen zu den St. Galler Kantonsratswahlen zunutze macht. Die beiden Wahlen finden in der Regel im Abstand von wenigen Monaten zueinander statt. Wir dürfen deshalb von einer gewissen Stabilität der Parteipräferenzen zwischen den beiden «Messzeitpunkten» ausgehen. Das wiederum bedeutet: Zu erwarten ist, dass sich die Parteistärken bei höherer Beteiligung dem bei den nationalen Wahlen erzielten Parteistärken annähern.

Nachfolgende Abbildung zeigt nun Überraschendes: Das ist nirgendwo der Fall. Auch bei der SVP nicht, bei der obiges am ehesten hätte erwartet werden können. Vielmehr ist es so, dass sich an den kantonalen St. Galler Wahlen in aller Regel der Trend der nationalen Wahlen fortsetzt.

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Der Übersichtlichkeit halber wurden die Nationalratswahlen und die kantonalen St. Galler Wahlen zeitlich gleichgesetzt.

Ein besonders gutes Beispiel ist die SP: Sie erzielt bei den kantonalen St. Galler Wahlen ein beinahe identisches Resultat wie bei den nationalen Wahlen. Bei der SVP und der FDP folgen die Trendlinien ebenfalls einander – allerdings mit einem Abstand von jeweils vier bis fünf Prozentpunkten. Die SVP schneidet bei kantonalen Wahlen regelmässig um etwa fünf Prozentpunkte schlechter ab als bei den kurz zuvor durchgeführten Nationalratswahlen, die FDP hingegen um vier Prozentpunkte besser – aber, wie gesagt, unabhängig von der Höhe der Wahlbeteiligung. Setzt sich dieser Trend im Übrigen auch 2016 fort, werden SVP und FDP zulegen, die CVP und SP verlieren.

Hier geht es zum Monitor der St. Galler Wahlen

Für die Regierungsratswahlen ist eine Analyse des Effekts höherer Wahlbeteiligung noch schwieriger als für die Parlamentswahlen. Denn wegen des Charakters der Regierungswahlen (Personenwahl) fehlen die Vergleichsmöglichkeiten, die man bei Parteiwahlen, bei denen es stets um die gleichen Parteien geht, hat. Sollte es jedoch stimmen, dass diese «Überschuss»-Wähler (d.h. solche, die sich an der Wahl nur deshalb beteiligen, weil gleichzeitig auch über eine sie viel stärker interessierende Vorlage abgestimmt wird) vergleichsweise schlecht informiert sind (ihr Interesse gilt ja nicht der Wahl der Regierung, sondern der Lokomotivvorlage), dann dürften am ehesten die Amtsinhaber davon profitieren. Ihre Namen sind den dürftig Informierten eher bekannt und zudem gilt auch: Im Zweifelsfalle für den Status Quo – und die Bisherigen stehen für den Status Quo.

Thomas Milic und Thomas Willi

Den ersten Artikel zu den St. Galler Wahlen 2016 lesen Sie hier.

Zu den Regierungsratswahlen im Kanton St. Gallen

Am 28. Februar 2016 wird im Kanton St. Gallen die Regierung neu gewählt. Für die sieben zu vergebenden Sitze kandidieren neun offiziell vorgeschlagene Kandidaten. Fünf davon sind Bisherige und ihnen gilt auch der nachfolgende Beitrag. Wie sicher ist ihre Wiederwahl?

Der Amtsinhaberbonus ist einer der am häufigsten erforschten Konzepte der amerikanischen Wahlforschung. In der Tat gehen incumbents (Amtsinhaber) in den USA mit einem stattlichen Vorsprung gegenüber ihren Herausforderern in die jeweiligen Wahl-Rennen und zwar unabhängig von allen anderen, den Wahlerfolg bestimmenden Faktoren. Auch in der Schweiz ist die Wiederwahlrate von Amtsinhabern enorm hoch: Für den Zeitraum von 2000 bis dato beträgt sie für kantonale Exekutivwahlen im Majorz 91 Prozent. Der Vorsprung in Prozentpunkten, den Amtsinhaber gewissermassen kraft ihres Amtes aufweisen, beträgt gegenüber Neukandidierenden rund 17 Prozent.[1] Die Gründe für diesen Amtsinhaberbonus sind vielfältig: Höherer Bekanntheitsgrad, Status-Quo-Bonus, höhere Medienpräsenz, aber nicht zuletzt auch diejenigen Eigenschaften, die Amtsinhaber schon bei der Erstwahl zum «Champion» machten und die bei jeder Wiederwahl zum erneuten Erfolg führen – ähnlich wie ein Boxweltmeister,[2] der sich jedes Mal aufs Neue gegen Herausforderer durchsetzt, weil er eben besser ist als der Rest.

Vorgedruckte Wahlzettel bei St. Galler Wahlen

Was für die Schweiz im Generellen gilt, muss jedoch nicht notwendigerweise auch für St. Gallen gelten. Das gilt insbesondere für den Bekanntheitsbonus: Amtsinhaber in vielen anderen (Deutschschweizer) Kantonen der Schweiz profitieren von ihrem hohen Bekanntheitsgrad, weil es bei Majorzwahlen darum geht, Namen von Kandidaten auf einen leeren Wahlzettel aufzuführen. Denn: Um einen Namen ohne beigelegte Wahlhilfe auf einen leeren Wahlzettel zu schreiben, muss man den jeweiligen Namen ja zunächst einmal kennen. Genau dies ist in St. Gallen jedoch nicht notwendig. Denn die St. Galler Wahlberechtigten erhalten einen mit den offiziell vorgeschlagenen Kandidaten vorgedruckten Wahlzettel.[3] Sie müssen ihre Wunschkandidaten demnach nur noch ankreuzen. Auch die Parteizugehörigkeit der einzelnen Kandidaten ist auf dem Wahlzettel angegeben.

Wurden Sie schon einmal mit politischen Botschaften in den sozialen Medien konfrontiert?

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Für disziplinierte Parteisoldaten ist diese Angabe Gold wert; sie benötigen wahrscheinlich gar keine weiterführenden Informationen zu den Kandidaten. Mit anderen Worten: Man kann einen parteieigenen Kandidaten ankreuzen, ohne ihn notwendigerweise kennen zu müssen. Allerdings gewährt man Amstinhabern auch im Kanton St. Gallen einen kleinen Bonus: Die Bisherigen werden nämlich auf dem Wahlzettel jeweils zuerst aufgeführt, demnach vor dem Feld der Herausforderer. Aus der amerikanischen Abstimmungsforschung weiss man, dass es Positionseffekte gibt: Erstgenannte (Vorlagen) haben ceteris paribus die höchsten Erfolgschancen («roll-off») [4]. Doch selbst wenn die Kandidatennamen «randomisiert» würden, so würden die St. Galler Amtsinhaber trotzdem noch von ihrem Bekanntheitsgrad profitieren: Bei ihren Namen ist nämlich der Wiedererkennungseffekt grösser als bei Namen von Neukandierenden («mere-exposure-effect»). Wiedererkennung bedeutet jedoch Vertrautheit, wovon Politiker oft – wenn auch nicht immer – profitieren.

Werden Amtsinhaber abgewählt?

So viel zur Theorie. Wie sieht es empirisch aus im Kanton St. Gallen? Dazu haben wir die Kandidatenergebnisse aller Gesamterneuerungswahlen seit 2000 (erste Wahlgänge) in Abhängigkeit von der Wählerstärke ihrer Partei überprüft. Letzteres, weil ja die Parteizugehörigkeit auf dem Wahlzettel angegeben wird und eine solche Abhängigkeit demnach wahrscheinlich ist.

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Für die Schätzung der Regressionsgerade der Amtsinhaber wurden die beiden «Ausreisser» (Roos und Grüninger) wegen ihrer starken Hebelwirkung (leverage) nicht berücksichtigt.

St. Galler Amtsinhaber werden in aller Regel problemlos wiedergewählt. Nur gerade zwei Amtsinhaber verpassten seit 2000 die Wiederwahl: Rita Roos (CVP) und Anton Grüninger (CVP). Beide standen zuvor jedoch massiv unter Druck: Rita Roos wegen einer Steueraffäre und Anton Grüninger wegen Spitalschliessungen.[5] Unter ähnlichem Druck geriet bislang keiner der aktuellen Amtsinhaber. Sie dürfen dem Wahltag deshalb gelassener entgegenblicken als die beiden zuvor genannten Protagonisten. Auffallend ist zudem, dass die Wählerstärke der Partei des Kandidaten bei Amtsinhabern so gut wie keine Rolle spielt. Gewiss, so überraschend ist dies nicht: Wer im ersten Wahlgang einer Personenwahl mehr als 50 Prozent auf sich vereinigen will, muss auch bei den anderen Parteianhängerschaften Stimmen holen. Den Amtsinhabern gelingt dies kraft ihres Amtes als Magistraten.

Hier geht es zum Monitor der St. Galler Wahlen

St. Gallen, ein Kanton von Parteisoldaten?

Hingegen spielt die Stärke der «Hausmacht» bei den Neukandidierenden eine Rolle: Je zahlreicher die eigene Stammwählerschaft, desto besser schneiden Neukandidierende in der Tendenz ab. Allerdings ist diese Abhängigkeit von der Parteistärke geringer als aufgrund des Wahlsystems (vorgedruckte Wahlzettel mit Angabe der Parteizugehörigkeit des Kandidaten) zu erwarten war. Die St. Galler Wähler sind eben keine Parteisoldaten, was sich zuletzt an den Ständeratswahlen 2015 gezeigt hat, bei welchen Paul Rechsteiner trotz deutlich geringerer Hausmacht (SP-Wähleranteil: 14.2%) sowohl im ersten wie auch im zweiten Wahlgang vor Thomas Müller (SVP-Wähleranteil: 35.8%) blieb.

Ist demnach eine wenig spektakuläre Normalwahl in St. Gallen zu erwarten? Nein, für Spannung dürfte die Wahlbeteiligung sorgen. Denn die kantonalen Wahlen fallen 2016 mit den eidgenössischen Abstimmungen zusammen und das wird sich gewiss auch auf die Wahlbeteiligung auswirken. Mit welchen möglichen Folgen wird in einem separatem Beitrag dargelegt.

Von Thomas Milic und Thomas Willi

[1] Mehr zum Amtsinhaberbonus finden Sie hier.

[2] John Zallers famoses Bild der Politiker als «prize fighters».

[3] Hier finden Sie ein Beispiel der Wahlen von 2012.

[4] Bowler; S. und T.A. Donovan (2000). Demanding Choices: Opinion, Voting, and Direct Democracy. Ann Arbor: University of Michigan Press.

[5] Hier geht es zur Steueraffäre und hier zu den Spitalschliessungen.