
Statistisch gesehen leben in der Schweiz über drei Viertel aller Menschen in städtischen Räumen, ein Grossteil davon in den Gemeinden rund um die grossen städtischen Zentren. Begriffe wie «Zersiedelung», «Dichtestress» oder «Verdichtung» sind in aller Munde. Anhand von neun Fallstudien geht Lineo Devecchi der lokalpolitischen Steuerung der suburbanen Entwicklung detailliert auf den Grund. Er plädiert für kreative, integrative Planungsprozesse, Professionalisierung sowie für neue Anreizsysteme.
Schweizer Gemeinden verfügen über eine beträchtliche Autonomie. Trotzdem gleichen sich die Siedlungslandschaften der Umlandgemeinden stark. «Siedlungsbrei», «Zersiedelung» oder «Hüüslipest» nennen die einen die sich ausbreitenden suburbanen Landschaften, andere betiteln sie diplomatischer als «Zwischenstadt». Gleichzeitig gewannen suburbane Gemeinden wie Uster, Turgi oder Köniz den renommierten Wakker-Preis für ihre sorgfältige planerische Abstimmung von Neubauten und dem dörflich geprägten Altbaubestand. Daher stellt sich die Frage, ob nun die Schweizer Umlandgemeinden lokale planerische Spielräume wirklich ausnutzen können, oder ob sie schlicht Spielball überlokaler gesellschaftlicher Trends wie der steigenden Mobilität oder politischer Institutionen wie dem interkommunalen Steuerwettbewerb sind.

Drei Typen lokaler Raumordnung
Täglich gehen auf den Verwaltungen der Schweizer Gemeinden unzählige Baugesuche ein. Es wird jedoch nicht überall gleich mit ihnen verfahren. Passive Gemeinden zeichnen sich durch eine «Laisser faire»-Planung aus, entweder gewollt, oder weil ihnen die öffentlichen Ressourcen zum stärkeren Eingreifen fehlen. Planen Private gemäss den lokalen Bau- und Zonenordnungen, so werden ihre Projekte grossmehrheitlich ohne öffentliche Intervention bewilligt. Anders sieht es in reaktiven Gemeinden aus. Hier stehen private Projektideen öffentlich erarbeiteten räumlichen Strategien gegenüber, die von den Bewilligungsbehörden mittels unterschiedlicher raumplanerischen oder juristischen Instrumente verfolgt werden. Proaktive Gemeinden schliesslich gehen noch weiter. Die öffentliche Hand erwirbt hier strategisch wichtige Parzellen und entwickelt diese entweder selbstständig oder in enger Kooperation mit geeigneten privaten Partner_innen.
Lokale Autonomie spielt demzufolge eine wichtige Rolle in raumordnerischen Entscheidungsprozessen. Nur sind nicht alle Gemeinden gleich in der Lage, ihre Spielräume effektiv zu nutzen. Um reaktiv oder proaktiv handeln zu können, braucht es häufig Vollzeit-Gemeindepräsidien oder ausgebaute Orts-/Stadtplanungsstellen, die genügend Know-How, zeitliche Ressourcen und öffentliche Legitimität schaffen, um strategisch intervenieren zu können. Um proaktiv tätig zu sein hilft zudem ein ökonomischer Problemdruck: Häufig sind nur Gemeinden, die sich in Situationen befinden, in denen die Steuereinnahmen sinken, die Sozialausgaben steigen und moderate Bodenpreise herrschen, bereit und fähig (Stichwort tiefere Bodenpreise), proaktiv ins planerische Geschehen einzugreifen.
Lokale Raumordnung und Siedlungsqualität
Die drei Typen kommunaler Raumordnung wirken sich auch auf die Qualitäten der gebauten Siedlungslandschaften aus. Der Fokus auf die effiziente Bewilligung von einzelnen Projekten führt etwa in passiven Gemeinden nur selten dazu, dass öffentliche Räume gleichzeitig mitgestaltet werden. Die wenigen benutzten öffentlichen Räume liegen in solchen Gemeinden an Verkehrsachsen und bestehen aus mehr oder weniger gestalteten Gehwegen. Reaktive und proaktive Gemeinden versuchen hingegen, anhand der teils partizipativ erarbeiteten Zielen mittels konfliktiven Interventionen (reaktiv, z.B. über Gerichtsverfahren) oder langfristigen Kooperationen (proaktiv, z.B. zu Gunsten von höherer Ausnutzungsziffern), die privaten Bauherr_innen dazu zu bringen, öffentlich nutzbare Grünflächen, Platzsituationen oder bessere Langsamverkehrserschliessung auf privaten Grundstücke zu realisieren. Proaktive Gemeinden versuchen gleichzeitig, durch aktiv aufgewertete Strassenzüge die privaten Bauwilligen zur Neuentwicklung ihrer Parzellen zu bewegen oder in öffentlichen Bauprojekten mit best practice-Lösungen Vorbild zu sein. Diese Massnahmen führen allesamt zu höheren Qualitäten im öffentlichen Raum.
Soziale Entmischung als Folge des dominierenden Wachstumsstrebens?
Die Untersuchung der neun Gemeinden zeigt, dass viele der Umlandgemeinden vor allem ein politischen Ziel verfolgen: quantitatives pekuniäres Wachstum, am liebsten realisiert durch den Zuzug von finanziell gut situierten Steuerzahler_innen, angelockt durch teure und verkehrsgünstig gelegenen Zentrumsüberbauungen. Die naheliegende Annahme, dass Gemeinden in finanziell besseren Situationen vermehrt auch qualitativ wachsen wollen, beispielsweise in dem sie genossenschaftlichen oder öffentlichen Wohnraum fördern oder eine nachhaltige Verdichtung anstreben, muss anhand der neun Fallstudien zurückgewiesen werden.
Interessant ist, dass das quantitative Wachstumsmotiv kommunaler Planung in allen drei Planungstypen relevant ist. Vertreter_innen aus passiven Gemeinden argumentieren, dass eine effiziente «Laisser faire»-Politik marktfreundlich ist und demnach gute Steuerzahler_innen anzieht. Verantwortliche in reaktiven und proaktiven Gemeinden argumentieren zwar anders, aber das Ziel bleibt das gleiche: Die angestrebte und eingeforderte hohe Siedlungsqualität soll dazu dienen, in teuren Wohnneubauten die entsprechenden Bewohner_innen anzusiedeln.
Problematisch ist diesbezüglich, dass wohl nicht genug gute Steuerzahler_innen für alle Umlandgemeinden vorhanden sind. Denn die Verdrängung ärmerer Menschen aus den Kernstädten (Stichwort Gentrifizierung) führt vor allem in Gemeinden, die weder eine privilegierte Lage noch ein einigermassen tiefes Steuerniveau aufweisen, zu höheren Sozialkosten bei gleichzeitig stagnierenden oder gar sinkenden Steuereinnahmen. Und dieser Teufelskreis – angetrieben durch den interkommunalen Steuerwettbewerb und den kommunalen Wachstumszielen – führt mitunter zu einer immer stärkeren sozio-ökonomischen Entmischung der Umlandgemeinden.
Seid kreativ und professionalisiert euch!
Kleinere Gemeinden mit wenig professionalisierten Behörden, die einem Wachstumsdruck ausgesetzt sind, sind in den Schweizer Agglomerationsräumen in der Mehrheit. In diesen dürften sich die Baubewilligungsbehörden mehrheitlich passiv verhalten. Wird also nun von vielen Fachleuten die fehlende Qualität des suburbanen Raums angekreidet, so sollte statt einer theoretisch-architektonischen Diskussion vermehrt über den aktuellen und künftigen Professionalisierungsgrad der lokalen und regionalen Planungsbehörden und neue, kreative und integrative Planungsprozesse gesprochen werden, ohne die die eigentlich vorhandenen Autonomien gar nicht ausgeschöpft werden können. Denn die Herausforderungen für kleine Gemeinden werden mit den Verdichtungsvorgaben des neuen nationalen Raumplanungsgesetzes nicht kleiner.
Die «A-Stadt» – also die Stadt der Alten, Arbeitslosen, Armen, Ausländer_innen – ist wegen der Gentrifizierung zunehmend passé; heute droht vielmehr die «A-Agglomeration», zumindest in den Gemeinden, die bereits heute aufgrund hoher Sozialkosten hinsichtlich des Steuerniveaus nicht mehr mit ihren Nachbarn konkurrieren können. Kluge, professionell abgestützte und vorausschauende raumordnerische Entscheidungen wären hier für eine (noch) bessere Durchmischung in Neu- oder Umbauquartieren genauso notwendig, wie eine höhere Akzeptanz für regionale Planungszusammenhänge und -abläufe. Kommunale Alleingänge können sich bereits jetzt nur finanziell gut aufgestellte Gemeinden ab einer bestimmten Grösse leisten. Abhilfe schaffen könnten hier auch neu gesetzte Anreize in den interkommunalen Finanzausgleichssystemen.
Lineo Devecchi
Lineo Devecchi, Dr. phil. ist Post Doc und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich, und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ostschweizer Zentrum für Gemeinden der Fachhochschule St. Gallen (OZG-FHS). Das diesen Resultaten zugrunde liegende Forschungsprojekt fand im Rahmen des NFP 65 «Neue Urbane Qualität» statt.
[1] Foto: Flickr
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