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Das Abstimmungsverhalten der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer

Auslandschweizer stimmen progressiver, linker und gesellschaftsliberaler als Inlandschweizer. Das zeigt ein Vergleich des Abstimmungsverhaltens von Ausland- und Inlandschweizern zu mehr als 60 Vorlagen.

Der 24. September 2017 war kein Freudentag für die Regierung. Denn die Rentenreform wurde von einer knappen Mehrheit der Stimmenden abgelehnt. Hätten nur die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer abstimmen dürfen, so gäbe es für den Bundesrat weitaus mehr Grund zur Freude: Denn die «fünfte Schweiz» nahm die Reform mit einer komfortablen Zweidrittel-Mehrheit an. Die Differenz zwischen Ausland- und Inlandschweizern betrug bei der Rentenreform demnach happige 18 Prozentpunkte. Das ist viel. Denn die maximale Differenz zwischen den Kantonen betrug rund 21 Prozentpunkte (SZ: 35.7%; JU: 56.8%).

Ticken die Auslandschweizer grundsätzlich anders als Inlandschweizer? Oder war die Rentenreform bloss eine Ausnahme? Zur Beantwortung dieser Frage haben wir das Stimmverhalten von Auslandschweizern mit dem gesamtschweizerischen Ergebnis bei den letzten 62 Vorlagen (2011-2017) verglichen. Bei den nachfolgend präsentierten Werten für die Auslandschweizer handelt es sich um Hochrechnungen. Derzeit wird das Stimmergebnis der Auslandschweizer nur in 12 Kantonen ausgewiesen. Sie machen allerdings etwa 70 Prozent aller bei einer Schweizer Vertretung im Ausland registrierten (und demnach teilnahmeberechtigten) Auslandschweizer aus. Wir haben die Ergebnisse für diese 12 Kantone mit einem bestimmten Verfahren für alle Auslandschweizer hochgerechnet.[2] Wichtig ist zudem auch: Wir haben die Ergebnisse der Auslandschweizer mit dem Ergebnis der Gesamtschweiz verglichen und nicht etwa mit dem Ergebnis für die Inlandschweizer. Dies erfolgte aus praktischen Gründen. Die Unterscheidung zwischen Inlandschweizern und dem Gesamtergebnis ist nur bei sehr knappen Ergebnissen relevant. Denn bei einer durchschnittlichen Stimmbeteiligung der Auslandschweizer von rund 30 Prozent beträgt ihr Anteil an einem durchschnittlichen Stimmkörper bloss etwa zwei Prozent.

In einem ersten Schritt haben wir für alle Abstimmungen zwischen 2011 und 2017 die Unterschiede im Ja-Stimmenanteil herausgearbeitet. in Abbildung 1 sind nun jene Abstimmungen aufgelistet, bei denen der Ja-Stimmenanteil der Auslandschweizer tiefer lag als in der Gesamtschweiz. Besonders erwähnenswert ist hierbei die Masseneinwanderungsinitiative, die von der fünften Schweiz hochkant abgelehnt wurde, von den Inlandschweizern indessen angenommen wurde.

Abbildung 1: Stimmverhalten der Auslandschweizer im Vergleich zur Gesamtschweiz (2011-2017): Vorlagen mit tieferem Ja-Anteil für Auslandschweizer.

Viel öfter kam hingegen vor, dass der Ja-Stimmenanteil bei den Auslandschweizern höher lag als in der Gesamtschweiz. Besonders fällt hier der Familienartikel (2013) auf, der seinerzeit am Ständemehr scheiterte, von den Auslandschweizern aber mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Die Differenz zwischen Auslandschweizern und Gesamtschweiz war seinerzeit noch grösser als bei der Altersvorsorge 2020. Dies hat möglicherweise auch damit zu tun, dass die SVP damals in ihrer, an alle Schweizer (aber nicht: Auslandschweizer) Haushalte verschickten Gratiszeitung gegen den Verfassungsartikel warb.

Abbildung 2: Stimmverhalten der Auslandschweizer im Vergleich zur Gesamtschweiz (2011-2017): Vorlagen mit höherem Ja-Anteil für Auslandschweizer.

Nicht selten gibt es aber so gut wie keine Unterschiede zwischen der fünften Schweiz und der Gesamtschweiz. Diese Fälle sind unspektakulär und werden deshalb auch oftmals ignoriert. Aber sie sind gar nicht so selten.

Abbildung 3: Stimmverhalten der Auslandschweizer im Vergleich zur Gesamtschweiz (2011-2017): Vorlagen mit annähernd gleichem Ja-Anteil für Ausland- und Inlandschweizer.

Diese bisher präsentierten Befunde sind an sich noch nicht sonderlich aussagekräftig. Denn die Zustimmung bei einer Vorlage kann – je nach Vorlageninhalt – eine ganz andere inhaltliche Bedeutung haben. Bei der einen Vorlage kann das Ja beispielsweise eine Verschärfung des Asylrechts bedeuten, bei einer anderen Vorlage hingegen eine Lockerung des Asylrechts (oder irgendetwas vollkommen anderes). Um die inhaltliche Richtung des Abstimmungsverhaltens von Auslandschweizern bestimmen zu können, haben wir die einzelnen Sachfragen auf einer Konservativ-Progressiv-Achse lokalisiert. Nun sind die Begriffe «progressiv» und «konservativ» nicht selbsterklärend. Hinzu kommt, dass sie oft wertgeladen verwendet werden. Unsere rein operationale (und demnach wertneutrale) Definition lautet wie folgt: Wir haben die Empfehlungen der beiden grossen Polparteien, SVP und SP, zum Ausgangspunkt genommen und die Empfehlung der SVP als konservativ-rechten Pol definiert, während die Empfehlung der SP als progressiv-linker Pol definiert wurde. Vorlagen, bei denen zwischen SP und SVP Konsens herrschte, wurden in der Folge nicht berücksichtigt.

Abbildung 4 zeigt die inhaltliche Richtung des Abstimmungsverhaltens der Auslandschweizer. Wie ist diese Abbildung zu lesen? Die vertikale Null-Linie steht für den Entscheid der Gesamtschweiz. Die grauen Linien geben die Abweichung der Auslandschweizer vom Ergebnis der Gesamtschweiz an und zeigen zugleich auch an, in welche Richtung diese Abweichung erfolgte: In Richtung progressivem Pol oder in Richtung konservativem Pol.

Abbildung 4: Stimmverhalten der Auslandschweizer im Vergleich zur Gesamtschweiz (2011-2017) auf einer Konservativ-Progressiv-Achse.

Die Auswertung zeigt: Die Auslandschweizer stimmen in aller Regel progressiver und linker ab als die Gesamtschweiz. Es gab zwischen 2011 und 2017 im Prinzip nur zwei bedeutende Ausnahmen davon: Die Abstimmung über die zweite Gotthardröhre und jene über die Öffnungszeiten für Tankstellenshops. In beiden Fällen hing dies möglicherweise mit der spezifischen Lebenssituation der Auslandschweizer zusammen. Der Gotthardtunnel dürfte von Auslandschweizern, die ihren Lebensmittelpunkt in Südeuropa haben, öfters genutzt werden als von Inlandschweizern. Und die Liberalisierung von Ladenöffnungszeiten ist in vielen Staaten, in den Auslandschweizer schon seit Jahren leben, längst Tatsache.

Weiter haben wir uns gefragt, ob die Auslandschweizer allenfalls behördenfreundlicher abstimmen als die Inlandschweizer. Dazu haben wir eine Skala der Behördenlinientreue erstellt und die beiden Vergleichsgruppen darauf verortet.

In Abbildung 5 sind nun jene Abstimmungen aufgelistet, bei denen eine Mehrheit der Auslandschweizer dem Bundesrat folgte, während die Mehrheit der Gesamtschweiz der «Opposition» folgte. Im Zeitraum zwischen 2011 und 2017 waren dies gerade mal sechs Abstimmungen. Zu diesen sechs Vorlagen gehören auch die beiden jüngst abgelehnten Rentenvorlagen.

Abbildung 5: Behördenkonformes Stimmverhalten von Auslandschweizern im Vergleich zur Gesamtschweiz 2011-2017: Vorlagen mit ungleichen Mehrheiten.

Weiter wurden nun jene Abstimmungen aufgelistet, bei denen eine Mehrheit der Gesamtschweiz dem Bundesrat folgte, während die Mehrheit der Auslandschweizer der «Opposition» folgte. Dies kam bloss drei Mal vor.

Abbildung 6: Behördenkonformes Stimmverhalten von Auslandschweizern im Vergleich zur Gesamtschweiz 2011-2017: Vorlagen mit ungleichen Mehrheiten.

Zuletzt sind jene Abstimmungen aufgelistet, bei denen die Mehrheit der Auslandschweizer genau so abstimmte wie die Mehrheit der Gesamtschweiz. Dies ist der Normalfall. Ein einzelner, spektakulärer Fall ist hier allerdings hervorzuheben. Das RTVG. Das RTVG wurde seinerzeit (2015) mit einem äusserst knappen Ergebnis (50.1%) angenommen. Bei dieser Abstimmung – und nur bei dieser Abstimmung  – lag das (u.a.) am Stimmverhalten der Auslandschweizer. Diese haben das RTVG nämlich mit komfortabler Mehrheit angenommen. Dadurch ist das Gesamtresultat gekippt. Denn die Inlandschweizer selbst haben das RTVG ganz knapp abgelehnt. Im Nachgang zu dieser Abstimmung führte dieser Umstand zu einer gewissen Polemik: Entschieden worden sei die Abstimmung ausgerechnet von jenen, die gar keine Empfangsgebühren zahlen, lautete die Kritik. Dabei ist aber folgendes zu beachten: Bei einer derart knappen Abstimmung wie derjenigen über das RTVG lässt sich im Prinzip irgendeine beliebige Merkmalsgruppe für das Resultat verantwortlich machen. Vielleicht haben die Blonden die Dunkelhaarigen überstimmt, etc. «Schuldzuweisungen» sind bei Abstimmungen zudem ohnehin fehl am Platz: Wird eine Sachfrage vorgelegt, so haben Stimmberechtigte das Recht, sich entweder dafür oder dagegen auszusprechen.

Abbildung 7: Behördenkonformes Stimmverhalten von Auslandschweizern im Vergleich zur Gesamtschweiz 2011-2017: Vorlagen mit gleichen Mehrheiten.

Auslandschweizer stimmen in der Regel gesellschaftsliberaler, «linker» und ökologischer als Inlandschweizer. Sie sind zudem auch etwas behördenfreundlicher als Inlandschweizer. Die Unterschiede sind indessen nicht dramatisch. Nur selten divergieren die Mehrheiten zwischen Inland- und Auslandschweizern. Viel öfter ist man sich im Prinzip einig. Die durch den ausserschweizerischen Kontext bedingte Prägungen spielen ausserdem nur bei wenigen Sachfragen eine Rolle (zweite Gotthardröhre, Öffnungszeiten für Tankstellenshops). Viel eher sind bei Inland- und Auslandschweizern die gleichen Wahl- und Abstimmungstrends zu beobachten – ein Beleg dafür, dass Auslandschweizer über die politische «Grosswetterlage» in der Schweiz gut informiert sind.

Thomas Milic

[1] Foto: Felix Imobersteg

[2] Mehr zum Hochrechnungsverfahren: Milic, Thomas (2015). Analyse des Meinungsbildungsprozesses der AuslandschweizerInnen vor den Wahlen 2015. ZDA.

 

Der Atomausstieg – in (fast) allen Bezirken deutlich populärer als 2003

Die Ereignisse und Entwicklungen der letzten Jahre haben wesentlich dazu beigetragen, dass ein Ausstieg aus der Atomenergie seit  der Abstimmung zur ‘Strom-ohne-Atom’-Initiative’ von 2003 deutlich populärer geworden ist.  Damals lag die Zustimmung bei 33.7 Prozent. Für die Atomausstiegsinitiative lag eine Mehrheit hingegen fast schon in Reichweite. 

Seit 2003 die ‘Strom ohne Atom’-Initiative vom Volk deutlich verworfen wurde, ist in Sachen Umwelt und Energie einiges passiert. Nach Fukushima haben Japan und Deutschland der Kernenergie den Rücken zugekehrt und gezeigt, dass sie die Energieversorgung auch nach der Abschaltung ihrer Atommeiler aufrecht erhalten konnten. Der Anteil der erneuerbaren Energien am globalen Energiebedarf ist seit 2003 rasant angestiegen.

Trotz des günstigeren Kontexts ist es den Atomgegnern jedoch auch an diesem Abstimmungsonntag nicht gelungen, auf die Gewinnerseite zu wechseln (Ja Anteil: 45.8%). Nichtsdestotrotz kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Atomausstieg schweizweit an Zustimmung gewonnen hat. Auf Bezirksebene sind lediglich drei Tessiner Bezirke zu vermelden, welche im Vergleich zu 2003 weniger stark zustimmten (Riviera: 49 vs 53%)Diese gehörten 2003 noch zu den Bezirken mit der höchsten Zustimmung. Am deutlichsten an Sympathien zugelegt hat der Verzicht auf Atomstrom in den Unterwalliser Bezirken. IWasserschloss Wallis scheinen die Argumente der Befürworter, als WasserkraftKanton von der Energiewende zu profitieren, auf besonders offene Ohren gestossen zu seinIn den Bezirken Sion, Saint-Maurice, Martigny und Sierre verzeichnete die Vorlage gegenüber 2003 eine Zunahme der Zustimmung von über 20 Prozentpunkten und wurde von einer Mehrheit angenommen. Um ein solches Resultat zu erreichen, müssen die Initianten weit über die Links-Grüne Parteiwählerschaft hinaus Zustimmung gesammelt haben. Dies sollte die Befürworter zuversichtlich stimmen. Bei der AAI ging es schliesslich in erster Linie um den Zeitpunkt und eher weniger um die Grundsatzfrage des Ausstiegs. Bald wird sich das Stimmvolk erneut mit der Atomfrage auseinandersetzten müssen. Die SVP hat das Referendum gegen die Energiestrategie 2050 ergriffen. Diese sieht vor, die bestehenden Kernkraftwerke am Ende ihrer Betriebsdauer vom Netz zu nehmen und nicht mehr zu ersetzen. Zumal es sich bei der Energiestrategie 2050 um eine Behördenvorlage handelt, hat diese in Volksabstimmungen erfahrungsgemäss einen leichteren Stand. Der Zug ist für die Ausstiegsbefürworter somit noch nicht abgefahren. Den Expresszug haben sie aber verpasst.