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Keine Angst vor der Angst in der Politik

Man tut den Emotionen Unrecht, wenn man sie für alle missliebigen Volksentscheide verantwortlich macht, denn unter Umständen führen sie gar zu informierteren Entscheiden, schreibt Thomas Milic.

Nach aufwühlenden Abstimmungen ist oft von Gräben und Gegensätzen die Rede. Einer dieser Gegensätze wird in letzter Zeit besonders oft bemüht: Nein, nicht derjenige zwischen Stadt und Land und auch nicht derjenige zwischen Arbeit und Kapital. Nein, vielmehr handelt es sich um den Gegensatz zwischen Vernunft und Angst, der allenthalben beobachtet wird. Bei der Abstimmung über die DSI beispielsweise habe, so das deutsche Nachrichtenmagazin SPIEGEL, die Vernunft über die Angst triumphiert. Auch die ZEIT lobte die Schweizer (Nein-)Stimmenden dafür, «ohne Furcht in ihren Knochen» … «ihren Verstand benutzt» zu haben.[2] Solches Lob aus dem Ausland war jüngst rar geworden und wurde deshalb – zumindest von einem Teil der Schweizer Presse – mit umso mehr Stolz aufgenommen.

Die Vernunft ist stets auf der eigenen Seite

Aber sind Vernunft und Emotionen wirklich unvereinbar? Sind Entscheide, die mit «Furcht in den Knochen» gefällt werden, zwingend irrational und falsch? Und was, wenn auf beiden Seiten Sorgen und Ängste die Entscheidmotive beherrschten? Zuerst einmal besteht der Verdacht, dass der Zweck einer solch «manichäischen» Gegenüberstellung ohnehin nicht darin besteht, das Abstimmungsergebnis möglichst treffend zu charakterisieren, sondern die eigene Position zu überhöhen und den politischen Gegner gleichzeitig zu delegitimieren. Denn: Die Vernunft ist stets auf der eigenen Seite, während es immer die anderen sind, die einen unbedachten Bauchentscheid fällen. Mit anderen Worten: Hier die abwägende Vernunft, dort die dumpfen Emotionen. Aber selbst wenn es zutreffen sollte, dass die einen (hauptsächlich) mit dem Kopf und die anderen (vor allem) mit dem Bauch entscheiden, warum ist es da so selbstverständlich, dass die letzteren daneben lagen? Oder etwas grundsätzlicher gefragt: Weshalb haben Emotionen eigentlich einen derart schlechten Ruf in der Politik?

Emotionen – dazu zählen ja nicht nur Ängste, sondern (glücklicherweise) auch positive Affekte wie Mitgefühl und Euphorie – gehören zum Menschen. Man freut sich, man ängstigt sich, man macht sich Sorgen, man ist euphorisch und fühlt mit. Indes, wenn Bürger das Wahllokal betreten, sollen sie – so die vorherrschende Ansicht – das «Allzumenschliche» abstreifen und stattdessen das Gewand des vernunftgeleiteten, möglichst emotionslosen Musterbürgers überziehen. Affekte gehören aus der Politik verbannt. Doch damit tut man den Emotionen Unrecht. Sie sind nicht immer schlecht für die Politik. Im Gegenteil, zuweilen sind sie sogar für eine rationalere Auseinandersetzung mit politischen Inhalten förderlich, so widersprüchlich dies auf den ersten Blick klingen mag. Deshalb hier ein Versuch eines Plädoyers für Emotionen in der Politik.

Ein Plädoyer für Emotionen in der Politik

Zunächst ist mir kaum ein politisch engagierter Mensch bekannt, der nicht mit Emotionen bei der Sache ist, wenn es um Politik geht. Emotionen sind doch der Treibstoff, der den «politischen» Motor dieser Menschen antreibt. Wenn man sich etwa die überschäumende Freude der Abstimmungssieger (oder die Enttäuschung der Unterlegenen) nach Bekanntgabe der Ergebnisse anschaut, so wird rasch klar, dass hier enorme emotionale Energie vorhanden ist. Was soll daran apriori schlecht sein?

Die Mobilisierung bei der Durchsetzungsinitiative

Übrigens, wenn wir schon bei der Abstimmung über die DSI sind: Die sagenhafte Mobilisierung ist Gegnern wie Befürwortern doch nicht gelungen, weil sie während des Abstimmungskampfes an die «dürre Ratio» appellierten, sondern eben an Emotionen und ja, auch an Ängste – im Übrigen auf beiden Seiten. Hat es geschadet? Gewiss, der Abstimmungskampf verlief schrill und laut, manchmal gar krawallartig. Aber was ist gegen 63 Prozent Stimmbeteiligung einzuwenden? An der Beteiligung ist im Übrigen am deutlichsten ersichtlich, dass ein nüchtern abwägender Stimmbürger gar nicht immer wünschenswert ist. Denn wie würde der trocken kalkulierende Vernunftmensch entscheiden? Richtig, gar nicht.[3] Der homo oeconomicus weiss nämlich, dass seine Stimme mit Bestimmtheit nicht den Ausschlag geben wird. Sie geht im Ozean der Millionen anderen Stimmen unter. Deshalb bleibt der emotionslose Nutzenmaximierer am Abstimmungssonntag auch zuhause. Und er wird seine Stimmabstinenz auch nicht bereuen. Denn bei der Verkündigung des Ergebnisses wird sich abermals herausstellen: Auch dieses Mal wurde die Abstimmung nicht wegen einer einzigen – also seiner – Stimme entschieden. Dieses Problem ist in der Rational Choice-Literatur hinlänglich bekannt. Es wird als «paradox of voting» bezeichnet: Die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Stimme die ausschlaggebende sein könnte, ist unendlich gering. Wären die Stimmbürger demnach solch durchrationalisierte Geschöpfe wie manchmal gewünscht, es würde sich niemand beteiligen.[4] So ist es (glücklicherweise) nicht. Genau deshalb werden als Erklärung für die Beteiligung oftmals expressive Motive angeführt (Brennan und Lomasky 1993) – Emotionen, wenn man so will, die häufig mit der Unterstützung für ein Fussballteam verglichen werden, was in der Regel ja auch eine höchst emotionale Angelegenheit ist.[5] Aber Emotionen wirken sich nicht nur positiv auf die Beteiligung aus, sie nützen offenbar auch der (materiellen) Entscheidqualität. Die Correct-Voting-Forschung hat gezeigt, dass Bürger bei emotional aufwühlenden Abstimmungen keineswegs «falscher» entscheiden als bei konfliktarmen, meist technischen Vorlagen – im Gegenteil: Meist sind sie bei solchen Abstimmungen ausserordentlich gut informiert, weil sie – von Emotionen angetrieben – sich mit der Materie intensiv auseinanderzusetzen beginnen.

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Bei emotional aufgeladenen Vorlagen ist das Stimmvolk tendenziell besser informiert.
Die Vielzahl der Ängste

Manche mögen an dieser Stelle einwenden: Gut, positive Emotionen sind ja noch in Ordnung, aber Ängste gehören auf jeden Fall nicht in die Politik. Denn sie hindern uns daran, klar zu denken und vernunftgeleitet zu entscheiden. Diese Angst vor der Angst in der Politik hat vor allem damit zu tun, dass die allermeisten damit eine ganz bestimmte Angst assoziieren: Die «Überfremdungsangst». Aber es gibt noch eine Vielzahl anderer Ängste und Sorgen: Angst vor Sozialabbau, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor Nuklearkatastrophen wie in Fukushima, Angst davor, keine gesicherte Rente im Alter zu haben und vieles mehr. Und in diesem Zusammenhang sind nun empirische Befunde aus der politischen Kognitionsforschung höchst interessant, weil sie der landläufigen Auffassung diametral entgegengesetzt sind: Ängste (anxiety) motivieren Bürger, sich mit der betreffenden Sachfrage vertieft auseinanderzusetzen, weshalb sie – man höre und staune – oftmals besser informiert sind als «emotionslose Vernunftbürger».[6,7] Diese aufmerksamere Auseinandersetzung erhöht ausserdem die Bereitschaft, neue und vor allem parteiunabhängige Informationen zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: Man weicht in emotionsgeladenen Situationen viel eher vom Alltagstrott ab und ist offener für neue Lösungsansätze. Im amerikanischen Kontext bedeutet dies etwa, dass man die althergebrachten Bindungen überfragt und als Konsequenz davon auch eher bereit ist, neue Parteien zu wählen (d.h. die Demokraten statt den Republikanern oder umgekehrt). Gewiss, das kann unter Umständen gefährlich werden, keine Frage. Aber grundsätzlich ist eine undogmatische, flexible Annäherung an Sachfragen doch nicht apriori zu verurteilen.

Besorgte Bürger vs. nüchterne Bürger

Linda Isbell schreibt diesbezüglich in ihrer lesenswerten Zusammenfassung über die Rolle der Emotionen in der Politik: «… feelings of fear and anxiety tend to arouse the democratic ideal of the rational citizen who carefully considers issue positions and leadership qualities and who processes information in a thoughtful and relatively evenhanded manner.»[8] Der besorgte Bürger ist demnach unter Umständen gar der bessere Citoyen als der nüchterne Bürger.[9] Am Ende rührt die Angst der etablierten Parteien vor der Angst in der Politik vielleicht auch daher, dass die Bürger sich in solchen Situationen viel eher von ihrer «alten» Partei abwenden und eine neue wählen. Und welche alteingesessene Partei will das schon?

Besorgte Bürger vs. Wutbürger

Zugegeben, die vorliegende Darstellung der Emotionen in der Politik ist etwas einseitig geraten. Der «affect effect» ist differenzierter zu betrachten als in diesem kursorischen und bewusst zugespitzt formulierten Beitrag. Nur ein Beispiel: Emotionen wie Wut und Ärger (anger) sind im Gegensatz zur Angst (anxiety) kaum produktiv. Sie verringern beispielsweise die Bereitschaft, sich (über Neues) informieren zu wollen, erheblich und verstärken somit das Habituelle. Der besorgte Bürger und der Wutbürger sind somit nicht Zwillingsbrüder. Wut ist im Gegensatz zur Angst offenbar wirklich kein guter Ratgeber. Wer dazu eine differenzierte (aber auch technisch anspruchsvollere) Darstellung möchte, empfehle ich folgenden Beitrag. Wie gesagt, wurden an dieser Stelle den Gefahren, die sich aus einer Emotionalisierung der Politik ergeben, bewusst keine allzu grosse Beachtung geschenkt. Natürlich gibt es sie. Das bestreitet ja niemand. Deshalb wäre es auch falsch, sogleich in eine «Hymne auf die Emotionen» einzustimmen. Aber diese platte Gegenüberstellung von Vernunft und Angst, Kopf und Bauch, die immer wieder aufs Neue bemüht wird, ist genauso falsch und in der politischen Psychologie zudem längst widerlegt. Man tut also den Emotionen Unrecht, wenn man sie für alle missliebigen Volksentscheide verantwortlich macht. Deshalb: Nur keine Angst vor der Angst in der Politik.

Thomas Milic

[1] Foto Z33 Art centre | FLICKR.

[2] Lesen Sie den Artikel der Zeit hier.

[3] Schön ist diesbezüglich die Umschreibung von Dubner und Levitt (2005): «An economist would be embarassed to be seen at the voting booth».

[4] Eine schöne Veranschaulichung ist bei Goodin und Roberts (1975) zu finden: Sie raten dem nüchternen Nutzenmaximierer, am Wahltag zu Hause zu bleiben, um Schuhleder zu sparen.

[5] Zuweilen wird darauf hingewiesen, dass dies in eine Katastrophe münden würde, wenn alle so denken würden. Aber auch hier gilt: Der Vernunftmensch weiss, dass niemals alle so denken werden. Denn dieser Fall – es sind Wahlen und keiner geht hin – ist bekanntlich nie eingetreten.

[6] Hierzu gibt es eine Fülle an Literatur. Vor allem die Beiträge von George E. Marcus. Für einen Überblick empfehle ich folgenden Beitrag.

[7] Im Übrigen: Eine Textpassage aus einer Studie von Adrian Pantoja und Gary Segura (2003: 269f) zur Proposition 187, die (man achte auf die Gemeinsamkeiten zur DSI) eine Verschärfung der Migrantenrechte in Kalifornien forderte, klingt fast schon wie eine Beschreibung dessen, was im Vorfeld der DSI-Abstimmung vorgefallen ist. Die Autoren schreiben: «The presence of a candidate or policy deemed threatening to an individual will stimulate feelings of anxiety, waking them out of their habitual slumber and motivating them to pay closer attention to the political environment». Lesen Sie hier den ganzen Beitrag.

[8] http://www.psychologicalscience.org/index.php/publications/observer/2012/october-12/the-emotional-citizen.html

[9] Lesen Sie dazu auch den Beitrag mit dem Titel «Is a worried citizen a good citizen?»

So «korrekt» stimmt die Schweiz ab

Was mit einem «korrekten» Stimmentscheid gemeint ist und was einen solchen begünstigt, haben wir besprochen. In diesem Blogpost stellen wir diejenigen Themefelder vor, welche sich gemäss der im ersten Artikel zitierten Studie durch einen hohen beziehungsweise tiefen Anteil korrekter Stimmentscheide auszeichnen.

#last: Sozialpolitik Platz 13

Der letzte Platz wird von der Sozialpolitik (13) belegt. Im Durchschnitt stimmen bei diesem Themenfeld rund 73% in Einklang mit ihren Präferenzen ab. Jedoch muss sogleich angefügt werden, dass der Schluss des Rankings dicht besiedelt ist. Sehr ähnlich sind die Anteile bei den Themenfeldern Insitutionen (75%), Agrar– (75.81%) und der Gesundheitspolitik (76.31%). Im Mittelfeld finden sich die Thematiken der Finanzpolitik, der Asylpolitik, des Strafrechts, Vorlagen rund um die Energiepolitik und solche, die einer Restgruppe zugeordnet worden sind.

Die Erfassung der «wahren» Präferenz ist natürlich abhängig vom Vorgehen und den Kriterien, die man anwendet. Man kann dabei besonders streng sein oder auch weniger. Für die Themenfelder mit den durchschnittlich höchsten Anteilen an «korrekt» Abstimmenden berichten wir deshalb sowohl den höchsten und tiefsten geschätzen Wert pro Abstimmung.

Dritter Platz

Etwas überraschend belegen Vorlagen, die dem Thema «Kultur» zugehörig sind, den dritten Platz. Im Durchschnitt konnten bei den Vorlagen zur Heroinverschreibung, der Fristenregelung, der Mutter-Kind-Initiative, dem Partnerschaftsgesetz und der Hanf-Initiative ca. 80% der Schweizer Stimmbürger ihre Präferenzen «richtig» umsetzen.

«Anteil korrekter Stimmentscheide» bei Kultur- und Gesellschaftspolitischen Vorlagen.
«Anteil korrekter Stimmentscheide» bei Kultur- und Gesellschaftspolitischen Vorlagen.

Zur Grafik: Jede vertikale Linie repräsentiert eine Abstimmung. Die Nummern bezeichnen die Abstimmungsnummern des Bundesamtes für Statistik. Die untere Grenze zeigt den konservativ geschätzen Anteil richtiger Stimmentscheidungen. Die obere Grenze ergibt sich, wenn die Kriterien, welche für einen richtigen Stimmenentscheid erfüllt sein müssen, etwas weniger streng formuliert werden. Die rote Line markiert den Durchschnitt.

Zweiter Platz

Sind Vorlagen rund um das Thema der Armee betroffen, so scheint sich die Stimmbürgerschaft ihrer Präferenzen im Klaren: Das Level an Correct Voting beträgt ca. 83%.

«Correct Voting» bei Sachabstimmungen rund um die Schweizer Armee.
«Correct Voting» bei Sachabstimmungen rund um die Schweizer Armee (Lesehilfe siehe oben).

Erster Platz

Der erste Platz belegt das Thema der Aussenpolitik. Bei Abstimmungen rund um die UNO und die EU (sowie biometrische Pässe) sind sich die Schweizer ihrer Präferenzen und deren Umsetzung bewusst: Über 84% stimmen gemäss der angewendeten Definition von Correct Voting «richtig» ab.

«Correct Voting» in Bezug auf die Thematik der Aussenpolitik.
«Correct Voting» in Bezug auf die Thematik der Aussenpolitik (Lesehilfe siehe oben).


Rangliste

 Anzahl VorlagenLevel an «Correct Voting»
Thema: Aussenpolitik1184.53 %
Thema: Armee782.55 %
Thema: Kultur580.29 %
Thema: Energiepolitik679.27 %
Thema: Asylpolitk1578.88 %
Thema: Rest2678.62 %
Thema: Strafrecht277.55 %
Thema: Umweltpolitik 1477.32 %
Thema: Finanzpolitik1576.94 %
Thema: Gesundheitspolitik 876.31 %
Thema: Agrarpolitik575.81 %
Thema: Institutionen1175.60 %
Thema: Sozialpolitik3073.53 %

 

Hier geht es zum Post zu «Correct Voting»: Wann ist ein Stimmentscheid korrekt

Wann ist ein Stimmentscheid «richtig»?

Immer wieder wird darüber spekuliert, ob die Bürgerinnen und Bürger fähig sind, den anspruchsvollen Aufgaben einer Demokratie gerecht zu werden. Können die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen ihre Präferenzen in einen entsprechenden Stimmentscheid umsetzen? Ja, mehrheitlich schon. Was sind die Einflussfaktoren?

Die Politikwissenschaft hat sich bereits vor Jahrzehnten von der Idealvorstellung des vollständig informierten Bürgers verabschiedet. Diesen Modellbürger gibt es nicht. Es ist aber auch nicht notwendig, alles über ein Thema zu wissen oder die Inhalte einer Vorlage fehlerfrei rezitieren zu können, um «richtig» entscheiden zu können. Vielmehr kommt es darauf an, ob einem die Umsetzung der eigenen Präferenzen mittels mentaler Abkürzungen – auch Heuristiken genannt – gelingt. Schliesslich, so argumentieren die Verfechter dieser realistischen Sichtweise von Demokratie, muss man ja auch nicht alles über die Funktionsweise des Verbrennungsmotors wissen, um ein Auto unfallfrei von A nach B zu steuern. In der schweizerischen Abstimmungsdemokratie kommen dabei vor allem drei Heuristiken zur Anwendung: Die Status Quo-Heuristik, die Partei-Heuristik und die Regierungsvertrauens-Heuristik (siehe Box). Wer nicht genau über eine Vorlage Bescheid weiss, aber ein überzeugter Parteianhänger ist und deren Parole folgt, der wendet die Partei-Heuristik an. Auch wenn die Untersuchungen von Hanspeter Kriesi zeigen, dass «das Schweizer Elektorat [zwar] generell fähig ist, Heuristiken anzuwenden, um angemessene Entscheide an der Urne zu fällen» [1], so ist noch nicht gesagt, dass die Stimmenden ihre Präferenzen damit auch korrekt umzusetzen vermochten. Oder anders formuliert: Wir wissen nicht, ob die Stimmenden tatsächlich anders gestimmt hätten, wären sie bis ins letzte Detail informiert gewesen.

Drei Heuristiken
Die Status-Quo-Heuristik ist vor allem für die notorischen «Neinsager», jene also, die generell gegen Veränderungen sind, eine attraktive Option: Denn ein «Nein» auf dem Abstimmungszettel bedeutet, dass sich nichts verändert und der Status Quo beibehalten wird. Bei der Anwendung der Regierungsvertrauens-Heuristik wird der Empfehlung der Exekutive gefolgt, weil sie als vertrauenswürdig und im Interesse aller handelnd eingestuft wird. Auf der anderen Seite wird fast blind gegen die Regierungsempfehlung gestimmt, wenn man ihr misstraut. Eine dritte Informationsabkürzung ist die Partei-Heuristik. Jene Wählenden, die diese Strategie anwenden, folgen der Parole ihrer bevorzugten Partei.

Was beeinflusst einen korrekten Stimmentscheid?

Um das herauszufinden, scheint es angebracht, anstelle einer Ideologie, die zwischen «richtig» und «falsch» unterscheidet, die Präferenzen der Wähler in das Zentrum zu stellen. Ein Abstimmungsentscheid gilt dieser Definition gemäss als «korrekt» oder «richtig», wenn eine Person ihre vorlagenspezifischen Präferenzen «korrekt» umsetzt. Dies nennt sich Correct Voting. Zum Beispiel: Wer bei der Pauschalbesteuerungsinitiative vom November 2014 die Argumente der Befürworter bejahte (und gleichzeitig diejenigen der Gegner verwarf), aber ein «Nein» auf den Stimmzettel schrieb, hat nach dieser Definition «falsch» gestimmt. Auf der anderen Seite gilt: Wer mit den wichtigsten Argumenten zugunsten einer Abschaffung der Pauschalbesteuerung einverstanden war und «Ja» stimmte, hat seine Präferenzen «korrekt» umgesetzt. Für diesen Beitrag wurden die argumentbasierten Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger für 155 Vorlagen erhoben. Basis dafür sind die Vox-Befragungsdaten. Mit ihnen lassen sich mittels einer statistischen Analyse (lineare Regressionsanalyse) die Faktoren ausfindig machen, die einen korrekten Stimmentscheid begünstigen, respektive erschweren (siehe Box am Ende des Artikels). Correct Voting ist dann der Anteil jener, die bei einer bestimmten Vorlage «korrekt» stimmen. Die wichtigsten Ursachen sind nachfolgend aufgeführt.

Die Schwierigkeit…

Nicht ganz überraschend spielt die materielle Komplexität eines Themas eine wichtige Rolle. Je einfacher eine Sachfrage, desto höher der Anteil derer, die «korrekt» entscheiden. Anders gesagt, je einfacher, alltagsnäher oder vertrauter eine Thematik ist, desto einfacher gelingt uns die Umsetzung unserer Präferenzen. Die Schwierigkeit des Vorlageninhalts beeinflusst auch massgeblich, ob wir eine Heuristik anwenden. Die untenstehende Grafik zeigt die Korrelation zwischen der Schwierigkeit des Themas und jenen, die irgendeiner Abstimmungsempfehlung gefolgt sind.

    Je schwieriger der Inhalt einer Vorlage wahrgenommen wird, desto eher wird Empfehlungen gefolgt.
Je schwieriger der Inhalt einer Vorlage wahrgenommen wird, desto eher wird Empfehlungen gefolgt.

Neben der Schwierigkeit beeinflusst die Intensität des Abstimmungskampfes, wie «gut» wir unsere Präferenzen umsetzen. Auch das leuchtet ein: Je intensiver um die Gunst der Stimmenden gekämpft wird, d.h. je mehr politische Inserate geschaltet werden, desto mehr Möglichkeiten haben jene, die für sie relevante Heuristik zu finden und diese anzuwenden. Denn, wer zum Beispiel nicht weiss, was eine Partei zur Abstimmung empfiehlt, kann sich der Partei-Heuristik nicht bedienen.

… und auch die Rolle des Bundesrates

Zu guter Letzt hat die Parole des Bundesrates einen Einfluss auf die Korrektheit der Stimmen – wenn auch in einer eigentümlichen Form. Bekannt ist, dass die Bundesratsparole bei Initiativen üblicherweise «Nein» lautet (zum letzten Mal «Ja»: Volksinitiative zum UNO-Beitritt 2002). Interessanterweise zeigt sich in der Analyse, dass das Vertrauen in den Bundesrat zusammen mit der BR-Parolenbefolgung mit einem höheren Anteil «korrekter» Stimmen assoziiert ist. Da es sich auch hier um aggregierte Daten handelt, sind damit nur Spekulationen möglich, um nicht einem Fehlschluss zu erliegen. Deshalb wird es spannend, zu zeigen, wie «korrekt» das Elektorat bei einzelnen Sachvorlagen abstimmt und was die Motive auf Individualebene sind. Insbesondere die Masseneinwanderungsinitiative dürfte hier von gewissem Interesse sein, wird doch von den Abstimmungsverlierern behauptet, dass bei vollständiger Information anders abgestimmt worden wäre. Wir werden dies tun. Es sei vorweg genommen, dass das Schweizer Elektorat generell «korrekt» abstimmt, so zum Beispiel bei der Minarettinitiative: Der Anteil «korrekt» Stimmenden betrug rund 90%.

 von Thomas Willi

 

Berechnung von Correct Voting

Ein korrekter Stimmentscheid bezeichnet jenen Stimmentscheid, der mit «the respondent’s argument-based position» übereinstimmt. Diese Definition zeigt sogleich die Messung des Konzepts: In den Vox-Nachabstimmungsumfragen werden die Befragten mit Argumenten für und gegen die Vorlage konfrontiert und nach ihrem Grad der Zustimmung gefragt. Jemand, der den Pro-Argumenten stets voll zustimmt und die Contra-Argumente ablehnt, sollte entsprechend JA gestimmt haben. Die materielle Komplexität oder Schwierigkeit basiert auf der Antwort von Befragten, ob eine Vorlage als schwierig empfunden wurde.

 

[1] Kriesi, Hanspeter (2005). Direct Democratic. The Swiss Experience Choice. Lanham: Lexington.