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Category: 28.02.2016

Wie viel Wandel steckt im Meinungswandel?

Im Zusammenhang mit direktdemokratischen Entscheiden ist immer wieder von Meinungswandel die Rede. So auch im Zusammenhang mit den Vorlagen, über die am 28. Februar entschieden wurde. Zuweilen wird dieser Meinungswandel gar in Prozentpunkten genau beziffert. Doch wie verlässlich sind eigentlich solche Zahlen? Und woher wissen wir, dass Stimmende ihre Meinung änderten? 

Die Geschichte klingt fast schon zu gut, um wahr zu sein. Noch im November 2015 galt die Annahme der Durchsetzungsinitiative als so gut wie sicher. Nur noch ein Wunder könne ein Volksja zur Durchsetzungsinitiative (DSI) verhindern, hiess es damals.[2] Und dann ereignete sich just dieses Stimmwunder vor unseren Augen: Die DSI wurde abgelehnt und das auch noch (vergleichsweise) klar. Ein dramatischer Meinungsumsturz in weniger als drei Monaten und ausserdem zu einer Sachfrage, zu welcher die Bürger ansonsten höchst stabile Haltungen haben. Das ist Stoff, den die Medien lieben: Ein Aussenseiter, der in letzter Sekunde das Blatt noch sensationell wendet. Die DSI war im Übrigen nicht die einzige Initiative, bei der die «Stimmung» auf fast schon wundersame Art und Weise gekippt ist: Auch die Heiratsstrafe und die Gotthardröhre verloren erheblich an Zustimmung. Was ist los im Lande der sonst so gefestigten Schweizer und Schweizerinnen? Ihre Meinungen scheinen höchst volatil zu sein; sie ändern sich – so ein erster, vordergründiger Eindruck – offenbar über Nacht.

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Doch woher wissen wir denn eigentlich, dass ein Meinungswandel – und mit «Meinungswandel» ist landläufig gemeint, dass Bürger ihre Meinungen ändern – stattfand? Ganz einfach: Man nehme das Ergebnis der (SRG-)Vorbefragungen und vergleiche es mit dem Endergebnis: Die Differenz ist Meinungswandel. Ist das wirklich so einfach? Nein, denn es müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein, damit wir tatsächlich von (individuellem) Meinungswandel sprechen können.

ERSTE VORAUSSETZUNG: DIE BÜRGER HABEN BEREITS FRÜH EINE HALTUNG ZUR SACHFRAGE 

Damit Meinungen (oder Stimmabsichten) ändern können, müssen sie zunächst vorhanden sein. Sind sie nicht vorhanden, können sie sich selbstredend auch nicht ändern. Vielmehr bilden sich in solchen Fällen Meinungen erst im Laufe des Abstimmungskampfes. Gewiss, der Prozess der Meinungsbildung ist ebenfalls ein höchst interessantes Phänomen: Auch sie kann durch Kampagnen beeinflusst werden mit dem Resultat, dass sich das «Stimmungsbild» zu einer Vorlage ändert. Aber nichtsdestotrotz sind Meinungsänderung und Meinungsbildung zwei unterschiedliche Dinge. Es ist beileibe nicht dasselbe, ob sich jemand vom entschiedenen Ausschaffungsbefürworter zum glühenden DSI-Gegner wandelt – also gewissermassen vom «Saulus zum Paulus» – oder ausgehend von einer weitestgehend indifferenten Position (“keine Meinung”) zum Stimmentscheid gelangt.

Ob nun eine halbwegs stabile Grundorientierung, die wir auch mit gutem Gewissen als «Stimmabsicht»[3] bezeichnen können, schon sechs bis sieben Wochen vor dem Abstimmungstermin (erste SRG-Umfragewelle) vorliegt, hängt primär von der Vertrautheit der jeweiligen Sachfrage ab. Bei der medial dauerpräsenten Durchsetzungsinitiative war dies sicherlich eher der Fall als etwa bei der Nahrungsmittelspekulation oder der Heiratsstrafe. Um das Argument zu verstehen, lohnt es sich, die ganz konkrete Befragungssituation vor Augen zu führen.

Wie kommen Antworten in Interviews zustande?

Die Sichtweise, wonach Befragte bei einem Interview sozusagen auf Knopfdruck ihre «wahren» Haltungen offenbaren, ist unrealistisch. Vielmehr ist die Artikulation einer Antwort zu einer Interviewfrage ein komplexer mentaler Prozess.[4] Was geschieht also, wenn die Befragten rund sechs Wochen vor dem Abstimmungstermin danach gefragt werden, ob sie eine bestimmte Vorlage derzeit annehmen oder ablehnen würden? Wie reagieren vor allem Befragte, die von der Vorlage bis zum Zeitpunkt der Befragung vielleicht noch nie was gehört haben, darauf? Einige von ihnen werden allenfalls mit «Weiss nicht» antworten. Sie zählen dann als «Unentschiedene». Andere wiederum werden wohl kurzerhand den Titel der Vorlage bewerten. Denn: Was sonst sollen sie bewerten? Der Titel, der vorgängig genannt wird, ist (wahrscheinlich) alles, was sie von der Vorlage wissen. Initiativtitel klingen aber meist höchst verheissungsvoll. Nicht nur, aber sicher auch deshalb starten Initiativen meist mit einem Umfragevorsprung in den Abstimmungskampf. Aber diese ad-hoc-Bewertung des Initiativtitels ist keine eigentliche Stimmabsicht im Sinne einer persönlichen Disposition, sondern eine unverbindliche Kurzbewertung des Initiativtitels. Philip Converse, der sich in den 60er Jahren mit den (in Umfragen) erhobenen politischen Haltungen der Amerikaner auseinandersetzte, war gar der Ansicht, dass solche Äusserungen oftmals ein «bedeutungsloses Zufallsprodukt ohne gedankliche Grundlage» seien.[5] So weit will ich nicht gehen. Aber ein – zugegebenermassen extremes – Schweizer Beispiel, nämlich die Vorlage zur medizinischen Grundversorgung (18. Mai 2014), zeigt, dass ähnliche Phänomene auch bei Sachfragen in der Schweiz auftreten: Denn selbst bei der Nachbefragung zur besagten Abstimmung konnten fast 40 Prozent der Stimmenden (!) immer noch nicht angeben, worum es inhaltlich eigentlich ging. Wenn man nach der Abstimmung nicht weiss, wovon eine Vorlage handelte, (bei der man allerdings teilgenommen hat!), wie soll man vor der Abstimmung eine Stimmtendenz dazu gehabt haben, die diese Bezeichnung auch verdient?[6] Wo aber keine Stimmabsicht vorliegt, kann auch nicht von Meinungswandel gesprochen werden.

Nochmals: die Stabilität solcher Angaben ist selbstverständlich nicht überall in Zweifel zu ziehen. Bei europa- oder ausländerpolitischen Abstimmungen dürften in der Tat bereits zu einem frühen Zeitpunkt relativ stark auskristallisierte Haltungen vorliegen – die sich in der Folge aber genau deshalb auch kaum ändern. Indes, bei wenig diskutierten, konfliktarmen Vorlagen, die oft im Schatten von Zugpferdvorlagen stehen, ist es mitunter etwas fragwürdig, von einer Stimmabsicht und folgerichtig von Meinungswandel zu sprechen.

ZWEITE VORAUSSETZUNG: EXAKTE MESSUNG DER STIMMABSICHTEN IM VORFELD DER ABSTIMMUNG

Um Meinungswandel in Prozentpunkten zu beziffern, muss die Messung der Stimmabsichten und des Stimmentscheids korrekt erfolgen.[7] Das effektive Stimmergebnis dürfte wohl in den allermeisten Fällen korrekt ausgezählt worden sein. Die Stimmabsichten sind jedoch Umfragewerte. Als solche weisen sie immer eine Unschärfe auf. Selbst bei einer «echten» Zufallsstichprobe mit 100-prozentiger Ausschöpfung ist eine Abweichung möglich – man bezeichnet dies auch als Zufallsfehler.[8] Immerhin, dieser Zufallsfehler lässt sich berechnen. Aber selbstverständlich müsste er auch dann, wenn der Meinungswandel in Prozentpunkten berechnet wird, berücksichtigt werden. Getan wird dies meines Wissens nicht. Hinzu kommt: Lehrbuchmässige Zufallsauswahlen gibt es kaum. Dazu bräuchte es nämlich eine (so gut wie) vollständige Liste aller Stimmberechtigten. Das sind Telefonverzeichnisse schon seit langem nicht mehr. Umfrageergebnisse, die auf solchen Telefonlisten beruhen, haben deshalb wohl auch eine breitere Fehlermarge als im 95%-Konfidenzintervall angegeben.[9]

Ein Beispiel: Bei der Abstimmung über das Minarettverbot wies die Vorbefragung rund zwei Wochen vor dem Urnengang 37 Prozent Zustimmung aus. Das Begehren wurde am Ende jedoch mit 57.5 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Betrug der «Meinungswandel» satte 20 Prozent – noch dazu zu einem Zeitpunkt, zu welchem viele Stimmbürger schon brieflich abgestimmt haben? Kaum vorstellbar. Vielmehr war es wohl so, dass die Vorbefragung daneben lag. Höchst aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die VOX-Nachbefragung zur gleichen Abstimmung, die vom gleichen Befragungsinstitut mit gleicher Methode erhoben wird, das ungewichtete Ergebnis der Minarettverbot-Initiative wieder um rund 9 Prozent unterschätzte. Zumindest bei dieser Vorlage (und vermutlich auch bei anderen) müssen wir also von einer Verzerrung von unbekanntem Ausmass bei der Messung der Stimmabsichten ausgehen, was eine genaue Bezifferung des Meinungswandels verunmöglicht.[10]

DRITTE VORAUSSETZUNG: PANELDATEN

Zuletzt: Will man individuellen Meinungswandel nachweisen, benötigt man Paneldaten. Mit anderen Worten: Man befragt dieselben Individuen zu mindestens zwei verschiedenen Zeitpunkten.[11] Im Falle von Abstimmungen liegen jedoch keine solchen Paneldaten vor. Aus diesem Grund kann auch nicht gesagt werden, ob es nun individueller Meinungswandel war oder asymmetrische (De-)Mobilisierung, die dazu führte, dass das Gesamtergebnis kippte. Zum besseren Verständnis dieses Arguments: Ein Ergebnis kann theoretisch auch dann ändern, wenn sich niemand umentscheidet. Dann nämlich, wenn die Beteiligungsbereitschaft im einen Lager ab- und im anderen Lager zunimmt, eben asymmetrische Mobilisierung. Mit Trenddaten lassen sich diese beiden Effekte nicht sauber voneinander unterscheiden. Nur mit Paneldaten geht das. Weil diese nicht vorliegen, kann auch nur schwer abgeschätzt werden, ob das, was wir auf Aggregatebene als «Stimmungswandel» wahrnehmen, auf individuelle Meinungsänderungen oder auf Mobilisierungseffekte zurückzuführen ist – oder, was am wahrscheinlichsten ist, auf beides.

Zeitpunkt

DSI-STIMMABSICHTEN WAREN STABILER ALS BEI DEN ANDEREN VORLAGEN 

Es geht keineswegs darum, einen Meinungswandel bei den Vorlagen vom 28. Februar in Abrede zu stellen. Im Gegenteil: Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es einen solchen – notabene bei allen vier Vorlagen und nicht bloss bei der DSI. Aber – und das ist der Punkt: In welchem Ausmass ist nur schwer zu sagen. Die Tamedia-Umfrage deutet im Übrigen darauf hin, dass just bei der DSI die Haltungen am gefestigsten waren. Rund 80 Prozent gaben an, sie seien sich von Anfang sicher gewesen, wie sie abstimmen würden. Nur sieben Prozent gaben an, ihre Meinung während des Abstimmungskampfes geändert zu haben, während weitere sieben Prozent offenbar hin und her gerissen waren zwischen einem Ja und einem Nein. Vergleicht man die DSI-Werte mit den entsprechenden Anteilen für die anderen Vorlagen, so stellt man fest: Der Anteil von Beginn weg Überzeugten war bei der DSI am höchsten und derjenige der Umentscheider am tiefsten. Der Kontrastpunkt zur DSI bildet die Initiative zur Nahrungsmittelspekulation: 21 Prozent gaben an, sie hätten sich erst kurz vor dem Abstimmungstermin überhaupt damit auseinandergesetzt. Zum Vergleich: Bei der DSI betrug dieser Anteil gerade einmal drei Prozent. Im Übrigen: Das ist alles nicht überraschend. Bei Europa- und Ausländerabstimmungen sind die Schweizer Stimmbürger überdurchschnittlich gut informiert, entscheiden sich früh und weisen fest verwurzelte Haltungen auf.

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Nochmals: Offenbar gab es individuelle Meinungsänderungen bei allen vier Vorlagen. Die Daten weisen auch darauf hin. Aber der «Umschwung» wird nicht alleine darauf zurückzuführen sein, dass sich Bürger plötzlich umentschieden. Ein weiterer Grund wird gewesen sein: Viele ansonsten «Stimmfaule» liessen sich mitreissen und nahmen teil. Sie haben ihre Haltung aber nicht notwendigerweise geändert, geändert hat sich bloss ihre Beteiligungsbereitschaft. Und bei den drei «Nicht-DSI-Vorlagen» gab es offensichtlich viele, die primär der DSI wegen teilnahmen, aber sich nun auch gleich noch zu den anderen Vorlagen der Multipack-Abstimmung äusserten. Bei diesen Stimmbürgern apriori von Meinungswandel zu sprechen, führt in die Irre.

Thomas Milic

[1] Foto: richoz|Flickr

[2] Den dazugehörigen Text in der NZZ lesen Sie hier.

[3] Was versteht man eigentlich unter Stimmabsicht? Von einer Stimmabsicht erwarten wir eine gewisse Stabilität. In der Kognitionspsychologie ist deshalb auch von Dispositionen die Rede, also von einer Tendenz, denselben Bewertungsgegenstand immer wieder in einer ähnlichen Art und Weise zu bewerten. Damit ist nicht gemeint, dass Haltungen ein für alle Mal in Granit gemeisselt sind. Aber sollte sich eine «Stimmabsicht» beinahe stündlich ändern und schon durch kleinste Veränderungen in der Frageformulierung umgestossen werden, dann ist das keine verinnerlichte Orientierungstendenz (Stimmabsicht) mehr, sondern – Zitat Converse (1964: 243) – «meaningless opinions that vary randomly in direction during repeated trials over time».

[4] Es gibt mittlerweile einen riesigen Fundus an Literatur zu Theorien des Antwortverhaltens. Besonders empfehlenswert ist meiner Ansicht nach John Zallers und Stanley Feldmans (1992) «A Simple Theory of the Survey Response: Answering Questions Versus Revealing Preferences». Dabei gehen Zaller und Feldman nicht von einem «Converschen Vakuum» aus. Aber sie gehen ebenso wenig von der Ansicht aus, Bürger hätten zu allen Sachfragen eine einigermassen stabile Meinung, die sie bei Befragungen «auf Abruf» präsentieren können.

[5] Lesen Sie dazu: Schmitt-Beck 2000. Der Zufallsfehler einer verzerrten Stichprobe ist logischerweise ebenfalls verzerrt.

[6] Der Anteil Unentschiedener betrug bei der zweiten Vorbefragungswelle 19 Prozent, demnach weit weniger als die rund 40 Prozent, die keine substanzielle Inhaltsangabe bei der Nachbefragung machen konnten.

[7] Den dazugehörigen Artikel finden Sie unter Fussnote 2.

[8] Wodurch zeichnet sich eine Zufallsstichprobe aus? Dadurch, dass alle Elemente der Grundgesamtheit dieselbe bzw. eine berechenbare Chance aufweisen, Element der Stichprobe zu werden. Diese Inklusionschance muss zudem höher als Null betragen. Im Telefonverzeichnis nicht registrierte Stimmbürger haben eine Inklusionschance von Null, sofern die Telefonliste die Auswahlgesamtheit darstellt.

[9] Eine «Trefferquote» lässt sich bei Vorbefragungen bekanntermassen nicht ermitteln, aber bei Nachbefragungen. Die Vox ist eine solche Nachbefragung. Die Befragungen finden jeweils innerhalb zweier Wochen nach der Abstimmung statt. Der Einwand, wonach sich in den letzten Wochen die Meinung eben noch geändert habe, gilt für eine Nachbefragung somit nicht. Man kann also den Schätzfehler genau ermitteln. Die Differenz zwischen dem im Vox-Sample ermitteltem und dem effektiven Ergebnis beträgt zwischen 1998 und heute rund 5 Prozentpunkte (absolut). Überträgt man diese Trefferquote auf die Vorbefragungen, so könnte der in Prozentpunkten gemessene Meinungswandel unter Umständen 5 Prozentpunkte mehr oder 5 Prozentpunkte weniger betragen.

[10] Zu den Gründen für diese Verzerrung wurde seinerzeit viel diskutiert. Für die Ermittlung des Meinungswandels in Prozentpunkten spielt dies indes keine Rolle.

[11] Lesen Sie hierzu den Artikel von Nicolet und Sciarini.

 

Vier Gründe weshalb die Initiative gegen Spekulation mit Nahrungsmitteln erfolgreich war

Die JUSO schnitt mit ihrer Initiative gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln an der Urne etwa gleich erfolgreich ab wie die SVP mit der Durchsetzungsinitiative. Wie ist das zu erklären? Wir nennen mögliche Gründe.

Die im Abstimmungskampf am wenigsten beachtete Vorlage erzielte an der Urne einen Achtungserfolg. 40.1% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern sprachen sich dafür aus, dass mit Nahrungsmitteln nicht mehr spekuliert werden darf. Für ein dezidiert linkes Anliegen ist dies ein ziemlicher Erfolg. Seit 2010 schnitt von den Vorlagen aus dem linken Lager nur die Volksinitiative «Schluss mit den Steuerprivilegien für Millionäre (Abschaffung der Pauschalbesteuerung)» an der Urne leicht besser ab.[2]

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Wie kann der hohe Ja-Stimmenanteil zur Spekulationsstopp-Vorlage erklärt werden? Wir nennen vier mögliche Gründe:

1. Zustimmung im linken Lager

SP, Grüne und andere im linken Spektrum angesiedelte Parteien sind sich bei Volksinitiativen meistens einig. So auch diesmal. Alle Linksparteien gaben die Ja-Parole heraus. Wie erste Analysen zeigen, legten Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern, die sich als politisch links stehend einstufen, auch grossmehrheitlich ein Ja in die Urne.[3] Die Parteiwählerschaften der AL, der Grünen und der SP votieren ebenfalls alle mit grosser Mehrheit für ein Ja.

Eine Auswertung der Resultate auf Bezirksebene zeigt zudem, dass der Ja-Anteil zur Spekulationsstopp-Initiative dort umso höher ausfiel, wo SP und Grüne einen grösseren Wähleranteil haben

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2. Sympathien im rechten und konservativen Lager
Genauso wie die Linke den Ja-Parolen ihrer Parteien folgte, tat dies die politische Mitte und legte mehrheitlich ein Nein ein. Die SVP gab zwar ebenfalls die Nein-Parole heraus, doch der Bauernverband beispielsweise beschloss Stimmfreigabe. Gemäss einer ersten Nachanalyse votierten gut ein Viertel der SVP-Wähler für ein Ja. Ganz allgemein stiess die Volksinitiative bei eher rechts positionierten Stimmbürgern auf grössere Zustimmung als dies bei einer JUSO-Vorlage zu erwarten wäre.
Die Wählerschaft der EVP folgte ebenfalls der Parteiparole und legte mehrheitlich ein Ja ein.[4]
3. Engagement der Initianten auf Sozialen Medien
Auch die Spekulationsstopp-Initiative wurde in den sozialen Medien stark diskutiert. Die Facebook-Seiten der Befürworter der Initiative generierten allerdings rund fünf Mal so viele Interaktionen wie die Seiten der Gegner.
 
Von zehn Befürwortern der Spekulationsstopp-Initiative auf Facebook haben sechs mit einer Parteiseite interagiert, bei den Gegnern sind es sogar acht von zehn Personen. Auf den Seiten der Befürworter war man aber praktisch unter sich, vier von fünf Usern interagierten auch mit einer linken Partei. Auf den Facebook-Seiten der Gegner machten die FDP-Anhänger mit gut einem Viertel aller User den grössten Anteil aus. 15 Prozent der Kommentare und Likes stammten von SVP-Anhängern. Doch jeder dritte Kommentar oder Like stammte von jemanden, der auch mit einer Partei des linken Spektrums interagierte.
4. Überdurchschnittliche Mobilisierung
Sechs von zehn Stimmberechtigten haben sich an die Urne bemüht (60.6%). Die Stimmbeteiligung am letzten Wochenende war eine der höchsten seit 1971.
Es darf dahingehend spekuliert werden, dass mehrere der zur Abstimmung gestandenen Vorlagen zu einer starken Mobilisierung des linken Lagers führten, was wiederum auch viele Ja-Stimmen für die Spekulationsstopp-Initiative brachte. Allerdings hatte auch das rechte Lager Grund, an die Urne zu gehen. Da über ein Viertel der Wählerschaft rechter Parteien ebenfalls ein Ja zur JUSO-Vorlage einlegte, hat die Mobilisierung dieser beider Lager wohl letztendlich zum unerwartet hohen Anteil der Ja-Stimmen geführt.

Sarah Bütikofer und Thomas Willi

Sarah Bütikofer ist Politikwissenschaftlerin und Redaktorin der Online-Plattform DeFacto.

[1] Foto: Nelo Mijangos|Flickr

[2] Hier finden Sie die vorläufigen amtlichen Ergebnisse.

[3] Die Resultate der ersten grossangelegten Nachanalyse lesen Sie hier.

[4] Wir verweisen Sie gleich noch einmal auf die Resultate der Nachanalyse.

Der Röstigraben bei der Stimmbeteiligung

Differenz zwischen der DSI-Stimmbeteilung und der durchschnittlichen Stimmbeteiligung.

Die aktuellen Abstimmungen zeichneten sich durch eine deutlich überdurchschnittliche Beteiligung aus. Vor allem die Durchsetzungsinitiative führte zu einer aussergewöhnlichen Mobilisierung der Stimmbürger. Trotzdem gab es deutliche Unterschiede zwischen den Regionen.

Bereits im Voraus der heutigen Abstimmungen wurde viel über die Mobilisierung geschrieben. Besonders in Bezug auf die Durchsetzungsinitiative erwarteten Experten eine überdurchschnittliche Beteiligung: Zeitweise wurde über Spitzenwerte von bis zu 70 Prozent spekuliert (auch von uns). Ganz so hoch fiel die Beteiligung dann doch nicht aus. Trotzdem: mit 63.1 Prozent (Initiative gegen die Heiratsstrafe: 61.8%, Initiative gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln: 60.6%, Sanierung Gotthard-Strassentunnel: 62.3%) weist die Durchsetzungsinitiative (DSI) landesweit die fünfthöchste Stimmbeteiligung seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 auf.

In der Stadt Zürich zeichnete sich die hohe Stimmbeteiligung bereits in den letzten zwei bis drei Wochen ab. Mit 64.6 Prozent lag die Stimmbeteiligung zur DSI hier 18 Prozentpunkte über dem Durchschnitt. Anders sieht es in der Stadt Genf aus, wo die Entwicklung vor allem zu Beginn sehr stark dem gewohnten Muster folgte. In den letzten zehn Tagen vor der Abstimmung sah es sogar nach einer unterdurchschnittlichen Partizipation aus. Danke einem starken Schlussspurt am Abstimmungssonntag fiel die Beteiligung in Genf schliesslich doch noch überdurchschnittlich aus. Sie erreichte allerdings nicht die hohe Stimmbeteiligung zur Masseneinwanderungsinitiative vom Februar 2013.

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Stimmbeteiligung in der Gotthardregion bis zu 25 Prozentpunkte höher

Nicht nur in den Städten gingen die Wahlberechtigten fleissiger an die Urne als sonst. Die Beteiligung zur DSI lag in jedem Bezirk der Schweiz über dem Durchschnitt [1]. Allerdings nicht im gleichen Ausmass, wie die untenstehende Grafik zeigt. Der Unterschied zwischen den Städten Zürich und Genf scheint repräsentativ zu sein für eine Art Röstigraben in der Stimmbeteiligung. Während die Beteiligung in der Deutschschweiz in den meisten Bezirken mehr als 15 Prozentpunkte über dem Durchschnitt lag, ist die Differenz in den Westschweizer Bezirken deutlich kleiner.

Differenz zwischen der DSI-Stimmbeteilung und der durchschnittlichen Stimmbeteiligung.

Auffällig ist zudem, dass die deutlich höchste Stimmbeteiligung in Uri sowie im Tessin erreicht wurden. Hier lag die Beteiligung mehr als 25 Prozentpunkte über dem Durchschnitt des jeweiligen Bezirks. Die unmittelbare Nähe dieser Bezirke zum Gotthard ist wohl kaum reiner Zufall. Dies weist darauf hin, dass – entgegen der Annahme vieler Kommentare – nicht nur die DSI sondern auch die zweite Gotthardröhre stark mobilisierte.

Mobilisierungseffekte nicht eindeutig

Wie sich die überdurchschnittliche Stimmbeteiligung auf das Resultat auswirkte, ist denn auch nicht eindeutig zu eruieren anhand der Bezirksdaten. Berechnungen der Zusammenhänge zwischen der Beteiligung und der Ja-Stimmenanteile führen zu widersprüchlichen Ergebnissen. So sind die Ja-Stimmenanteile zur DSI im Vergleich zur Masseneinwanderungsinitiative 2015 tiefer, umso höher die Differenz in der Stimmbeteiligung.

Dies würde der zurzeit allgegenwärtigen Interpretation entsprechen, dass die Gegner der SVP dieses Mal besonders gut mobilisierten. Im Vergleich zur Ausschaffungsinitiative ist der Zusammenhang jedoch genau gegenteilig (wenn auch nicht ganz eindeutig): Je höher die Stimmbeteiligung zur DSI im Vergleich zur Ausschaffungsinitiative, umso höher die Ja-Stimmenanteile. Dies würde bedeuten, dass die Befürworter ebenfalls sehr stark mobilisierten. Um eindeutig feststellen zu können, welche Seite wie gut mobilisierte, muss wohl die Nachbefragung abgewartet werden.

Die hohen Korrelationen der Ja-Anteile zwischen der DSI und der anderen beiden SVP-Initiativen zeigen allerdings, dass das Abstimmungsmuster bei den drei Vorlagen auffallend ähnlich war. Nur lagen die Ja-Stimmenanteile dieses Mal zehn bis fünfzehn Prozentpunkte tiefer. Eine mögliche Interpretation ist, dass nicht nur die Mobilisierung entscheidend war, sondern, dass ein Teil der Stimmbürger, die bei der Ausschaffungsinitiative und der Masseneinwanderungsinitiative noch Ja stimmten, dieses Mal ein Nein in die Urne legte.

[1] Diesen Abstimmungssonntag fehlen bei den ausgewiesenen Abstimmungsresultaten auf Bezirksebene die Angaben zur Anzahl der Stimmberechtigten. Die Stimmbeteiligung wurde deshalb approximiert, indem die Anzahl der gültigen Stimmen durch die Anzahl der Stimmberechtigten im Juni 2015 dividiert wurde.

 

Arbeitsbericht: Wo die Initiative «gegen die Heiratsstrafe» punktete

Die Initiative gegen die Heiratsstrafe verpasst knapp das Volksmehr. Bezirke mit Merkmalen der Urbanität verwarfen die Vorlage eher und das Stimmverhalten gleicht Vorlagen, bei denen es um traditionelle Familienbilder und Lebensentwürfe ging.

Bereits 2015 wollte die CVP mit ihrer Volksinitiative «Familien stärken! Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen» mithilfe steuerbefreiter Kinder- und Ausbildungszulagen der postulierten reduzierten Kaufkraft von Familien entgegenwirken. Damals führten die Gegner der Initiative von links bis rechts die zu erwartenden Steuerausfälle als Gegenargument ins Feld. Das Parlament empfahlen die Ablehnung der Volksinitiative. Tatsächlich korrelieren die Ja-Stimmenanteile der beiden Vorlagen in den Bezirken (r ≈ 0.61).

Ein Jahr später wird am 28. Februar 2016 auch die Initiative «gegen die Heiratsstrafe» der CVP vom Volk (nicht aber von den Ständen) abgelehnt – wenn auch äusserst knapp. Auch diese Initiative enthält steuerliche Aspekte, nämlich dass die Ehe – vor allem bei den Steuern und den Sozialversicherungen – gegenüber anderen Lebensformen nicht benachteiligt wird. Das Ehepaar, nach angestrebter Definition nur möglich für heterosexuelle Paare, hätte in steuerlicher Hinsicht eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden sollen.

weniger Zustimmung in urbanen Räumen

Eine erste Analyse zeigt, dass auf der Bezirksebene hauptsächlich Urbanitätsmerkmale (wie zum Beispiel die Bevölkerungsdichte oder Anzahl Beschäftigter im 3. Sektor) mit einem Nein zu dieser Initiative korrelieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass Bezirke, deren Haushaltstruktur auf Familienhaushalte (z.B. Vier-Personen-Haushalte) hinweist, eher Ja sagten. Hier zeigt sich also eine Divergenz zwischen urbanen Räumen (nicht gleichzustellen mit Städten) und sub- und periurbanen sowie ländlichen Gebieten. Es bietet sich an, hier auf traditionelle Familienwerte als ausschlaggebende Heuristik für den Stimmentscheid zurückzugreifen, da entlang einer kulturellen Dimension gerade diese Gebiete Unterschiede aufweisen. Dies deckt sich auch mit früheren Vorlagen, die thematisch mit der Initiative gegen die Heiratsstrafe verwandt sind.

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Zusammenhang mit anderen Familieninitiativen

Ebenfalls eine nennenswerte Korrelation des Stimmverhaltens in den Bezirken findet sich mit der «Familieninitiative: Steuerabzüge auch für Eltern, die ihre Kinder selber betreuen» (r ≈ 0.64). Diese Volksinitiative der SVP forderte eine steuerliche Entlastung für Familien, jedoch nicht unabhängig von deren Lebens- oder Erwerbsmodell: Die Gegnerschaft der Initiative argumentierte sodann, dass nur traditionell organisierte Familien durch den Eigenbetreuungsabzug steuerlich begünstig würden. Die Annahme liegt nahe, dass dieses Familienverständnis stark jenem der gegenwärtigen Vorlage entspricht, welche die Ehe als Bündnis zwischen Mann und Frau definieren wollte. Dieser gesellschaftspolitische Aspekt dominierte 2012 die Debatte und war insbesondere im Nein-Lager für den Stimmentscheid ausschlaggebend (Das wichtigste Ablehnungsmotiv war gemäss den Nachbefragungen jedoch die Angst vor Steuerausfällen). Ein eher traditionelles Familienverständnis, das sich nun im Februar 2016 auch in der Initiative gegen die Heiratsstrafe niederschlug. Ob Betroffenheit oder die Definition heuer stärker gewichtet wurde, ist offen. Erste Anzeichen, dass sich ein ähnliches Stimmverhalten zwischen diesen Vorlagen finden lässt, sind aber vorhanden.

Zu den Regierungsratswahlen im Kanton St. Gallen

Am 28. Februar 2016 wird im Kanton St. Gallen die Regierung neu gewählt. Für die sieben zu vergebenden Sitze kandidieren neun offiziell vorgeschlagene Kandidaten. Fünf davon sind Bisherige und ihnen gilt auch der nachfolgende Beitrag. Wie sicher ist ihre Wiederwahl?

Der Amtsinhaberbonus ist einer der am häufigsten erforschten Konzepte der amerikanischen Wahlforschung. In der Tat gehen incumbents (Amtsinhaber) in den USA mit einem stattlichen Vorsprung gegenüber ihren Herausforderern in die jeweiligen Wahl-Rennen und zwar unabhängig von allen anderen, den Wahlerfolg bestimmenden Faktoren. Auch in der Schweiz ist die Wiederwahlrate von Amtsinhabern enorm hoch: Für den Zeitraum von 2000 bis dato beträgt sie für kantonale Exekutivwahlen im Majorz 91 Prozent. Der Vorsprung in Prozentpunkten, den Amtsinhaber gewissermassen kraft ihres Amtes aufweisen, beträgt gegenüber Neukandidierenden rund 17 Prozent.[1] Die Gründe für diesen Amtsinhaberbonus sind vielfältig: Höherer Bekanntheitsgrad, Status-Quo-Bonus, höhere Medienpräsenz, aber nicht zuletzt auch diejenigen Eigenschaften, die Amtsinhaber schon bei der Erstwahl zum «Champion» machten und die bei jeder Wiederwahl zum erneuten Erfolg führen – ähnlich wie ein Boxweltmeister,[2] der sich jedes Mal aufs Neue gegen Herausforderer durchsetzt, weil er eben besser ist als der Rest.

Vorgedruckte Wahlzettel bei St. Galler Wahlen

Was für die Schweiz im Generellen gilt, muss jedoch nicht notwendigerweise auch für St. Gallen gelten. Das gilt insbesondere für den Bekanntheitsbonus: Amtsinhaber in vielen anderen (Deutschschweizer) Kantonen der Schweiz profitieren von ihrem hohen Bekanntheitsgrad, weil es bei Majorzwahlen darum geht, Namen von Kandidaten auf einen leeren Wahlzettel aufzuführen. Denn: Um einen Namen ohne beigelegte Wahlhilfe auf einen leeren Wahlzettel zu schreiben, muss man den jeweiligen Namen ja zunächst einmal kennen. Genau dies ist in St. Gallen jedoch nicht notwendig. Denn die St. Galler Wahlberechtigten erhalten einen mit den offiziell vorgeschlagenen Kandidaten vorgedruckten Wahlzettel.[3] Sie müssen ihre Wunschkandidaten demnach nur noch ankreuzen. Auch die Parteizugehörigkeit der einzelnen Kandidaten ist auf dem Wahlzettel angegeben.

Wurden Sie schon einmal mit politischen Botschaften in den sozialen Medien konfrontiert?

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Für disziplinierte Parteisoldaten ist diese Angabe Gold wert; sie benötigen wahrscheinlich gar keine weiterführenden Informationen zu den Kandidaten. Mit anderen Worten: Man kann einen parteieigenen Kandidaten ankreuzen, ohne ihn notwendigerweise kennen zu müssen. Allerdings gewährt man Amstinhabern auch im Kanton St. Gallen einen kleinen Bonus: Die Bisherigen werden nämlich auf dem Wahlzettel jeweils zuerst aufgeführt, demnach vor dem Feld der Herausforderer. Aus der amerikanischen Abstimmungsforschung weiss man, dass es Positionseffekte gibt: Erstgenannte (Vorlagen) haben ceteris paribus die höchsten Erfolgschancen («roll-off») [4]. Doch selbst wenn die Kandidatennamen «randomisiert» würden, so würden die St. Galler Amtsinhaber trotzdem noch von ihrem Bekanntheitsgrad profitieren: Bei ihren Namen ist nämlich der Wiedererkennungseffekt grösser als bei Namen von Neukandierenden («mere-exposure-effect»). Wiedererkennung bedeutet jedoch Vertrautheit, wovon Politiker oft – wenn auch nicht immer – profitieren.

Werden Amtsinhaber abgewählt?

So viel zur Theorie. Wie sieht es empirisch aus im Kanton St. Gallen? Dazu haben wir die Kandidatenergebnisse aller Gesamterneuerungswahlen seit 2000 (erste Wahlgänge) in Abhängigkeit von der Wählerstärke ihrer Partei überprüft. Letzteres, weil ja die Parteizugehörigkeit auf dem Wahlzettel angegeben wird und eine solche Abhängigkeit demnach wahrscheinlich ist.

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Für die Schätzung der Regressionsgerade der Amtsinhaber wurden die beiden «Ausreisser» (Roos und Grüninger) wegen ihrer starken Hebelwirkung (leverage) nicht berücksichtigt.

St. Galler Amtsinhaber werden in aller Regel problemlos wiedergewählt. Nur gerade zwei Amtsinhaber verpassten seit 2000 die Wiederwahl: Rita Roos (CVP) und Anton Grüninger (CVP). Beide standen zuvor jedoch massiv unter Druck: Rita Roos wegen einer Steueraffäre und Anton Grüninger wegen Spitalschliessungen.[5] Unter ähnlichem Druck geriet bislang keiner der aktuellen Amtsinhaber. Sie dürfen dem Wahltag deshalb gelassener entgegenblicken als die beiden zuvor genannten Protagonisten. Auffallend ist zudem, dass die Wählerstärke der Partei des Kandidaten bei Amtsinhabern so gut wie keine Rolle spielt. Gewiss, so überraschend ist dies nicht: Wer im ersten Wahlgang einer Personenwahl mehr als 50 Prozent auf sich vereinigen will, muss auch bei den anderen Parteianhängerschaften Stimmen holen. Den Amtsinhabern gelingt dies kraft ihres Amtes als Magistraten.

Hier geht es zum Monitor der St. Galler Wahlen

St. Gallen, ein Kanton von Parteisoldaten?

Hingegen spielt die Stärke der «Hausmacht» bei den Neukandidierenden eine Rolle: Je zahlreicher die eigene Stammwählerschaft, desto besser schneiden Neukandidierende in der Tendenz ab. Allerdings ist diese Abhängigkeit von der Parteistärke geringer als aufgrund des Wahlsystems (vorgedruckte Wahlzettel mit Angabe der Parteizugehörigkeit des Kandidaten) zu erwarten war. Die St. Galler Wähler sind eben keine Parteisoldaten, was sich zuletzt an den Ständeratswahlen 2015 gezeigt hat, bei welchen Paul Rechsteiner trotz deutlich geringerer Hausmacht (SP-Wähleranteil: 14.2%) sowohl im ersten wie auch im zweiten Wahlgang vor Thomas Müller (SVP-Wähleranteil: 35.8%) blieb.

Ist demnach eine wenig spektakuläre Normalwahl in St. Gallen zu erwarten? Nein, für Spannung dürfte die Wahlbeteiligung sorgen. Denn die kantonalen Wahlen fallen 2016 mit den eidgenössischen Abstimmungen zusammen und das wird sich gewiss auch auf die Wahlbeteiligung auswirken. Mit welchen möglichen Folgen wird in einem separatem Beitrag dargelegt.

Von Thomas Milic und Thomas Willi

[1] Mehr zum Amtsinhaberbonus finden Sie hier.

[2] John Zallers famoses Bild der Politiker als «prize fighters».

[3] Hier finden Sie ein Beispiel der Wahlen von 2012.

[4] Bowler; S. und T.A. Donovan (2000). Demanding Choices: Opinion, Voting, and Direct Democracy. Ann Arbor: University of Michigan Press.

[5] Hier geht es zur Steueraffäre und hier zu den Spitalschliessungen.

Neue Fragen lassen auf die Stimmabsicht der Unentschlossenen schliessen

Dieser Gastbeitrag von Livio Raccuia geht davon aus, dass sich Abstimmungsergebnisse mithilfe impliziter Messungen besser voraussagen lassen als mit ausschliesslich herkömmlichen Fragetypen. Weitere Untersuchungen sind jedoch notwendig.

Vor jedem Urnengang werden in der Schweiz Trendumfragen durchgeführt mit dem Ziel Entwicklungen in der Unterstützung einer Abstimmungsvorlage zu erfassen und abzubilden. Dabei stellt sich jeweils eine zentrale Frage: Was passiert mit der Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger? Wechseln diese in das Lager der Vorlagenbefürworter oder doch eher zum gegnerischen Lager? Selbst drei Wochen vor einer Abstimmung geben im Durchschnitt 10 Prozent der befragten Personen an, sich bezüglich ihres Stimmentscheids noch nicht sicher zu sein.

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Gerade bei umstrittenen und dementsprechend knappen Abstimmungen kann die Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger entscheidend sein. Folglich wäre es sowohl für die Praxis wie auch die politikwissenschaftliche Forschung wichtig zu wissen, inwiefern sich der Meinungsbildungsprozess unentschlossener Personen von jenem entschlossener Bürger und Bürgerinnen unterscheidet. Ebenfalls hilfreich wären alternative Messinstrumente, welche es erlauben würden, auch für Personen, die keine Stimm- oder Wahlabsicht angeben können (oder wollen), statistisch eine Präferenz zu berechnen.

Der Implizite Assoziationstest (IAT)

Implizite Assoziationstests (IAT) setzen an letzterem Punkt an. Sie messen implizite, d.h. automatische, Einstellungen bzw. Präferenzen.[2] Im Unterschied zu den in der Sozialforschung gängigen expliziten Massen (z.B.Stimmabsicht des Befragten) haben sie den Vorteil weniger reaktiv zu sein. Das heisst, dass sie von der befragten Person nicht so einfach durchschaut werden können und folglich nicht von sozialer Erwünschtheit betroffen sind. Gerade bei heiklen politischen Themen und Vorlagen wie zum Beispiel der anstehenden Durchsetzungsinitiative (28. Februar 2016) könnten IATs also den gängigen Fragen nach der Stimmabsicht einer Person überlegen sein.

Nebst diesem Vorteil wurde in den letzten Jahren auch argumentiert, dass IATs bzw. implizite Einstellungen besonders gut in der Lage seien, den Stimmentscheid unentschlossener Personen vorherzusagen.[3] Die Idee dahinter ist, dass implizite Einstellungen eine Art Vorstufe zu den expliziten Einstellungen darstellen. In der Tat haben wir alle gewisse implizite Einstellungen bzw. Präferenzen, ohne dass wir uns deren aber notwendigerweise bewusst sind. Genau dies könnte bei unentschlossenen Stimmbürgern der Fall sein. Sie mögen sich zwar ein paar Wochen vor einer Abstimmung ihrer Präferenz noch nicht bewusst sein und die Frage nach der Stimmabsicht mit «weiss nicht» beantworten, eine mehr oder weniger ausgeprägte implizite Einstellung zu einer Vorlage oder einer Partei haben aber auch sie. Warum aber sollte sich diese spontane Präferenz schliesslich im Stimmentscheid niederschlagen? Die Forschung hat gezeigt, dass sich vor allem unentschlossene Personen Informationen beschaffen, die mit ihrer impliziten Einstellung in Einklang sind.[4] Dieser selektive Konsum von Informationen führt schliesslich dazu, dass die implizite Präferenz im Verlaufe des Meinungsbildungsprozesses zu einer expliziten Einstellung wird und damit das Stimmverhalten entscheidend beeinflusst.

Der IAT als Prognoseinstrument bei Eidgenössischen Abstimmungen?

Meine bisherige Forschung zeigt, dass sowohl die klassischen reaktionszeitbasierten IATs wie auch die einfacheren «paper-and-pencil» IATs gute Prädiktoren sind für das Stimmverhalten der Schweizer Bürger. Erstere wurden im Vorfeld der Abstimmung zur Mindestlohninitiative und des Gripen Referendums (18. Mai 2014) an der Universität Zürich getestet. Wie in der untenstehenden Abbildung zu sehen ist, waren beide IATs gute Prädiktoren für das tatsächliche Stimmverhalten der befragten Personen (N=268).

Nicht-parametrische Regressionen für den Zusammenhang zwischen dem ST-IAT Wert und der Wahrscheinlichkeit für die Mindestlohninitiative und das Gripen Referendum zu stimmen.

Dieselbe Untersuchung wurde auch für die Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse (28. September 2014) durchgeführt, diesmal jedoch mit einer in eine Online-Umfrage (N=352) eingebauten «paper-and-pencil» IAT Version. Auch dieser implizite Assoziationstest konnte das Stimmverhalten der befragten Personen akkurat vorhersagen.

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Nicht-parametrische Regression für den Zusammenhang zwischen dem ST-IAT Wert und der Wahrscheinlichkeit für die Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse zu stimmen.

Schliesslich zeigte eine im Vorfeld der Ecopop-Abstimmung (30. November 2014) durchgeführte Studie, dass implizite Einstellungen für die Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger in der Tat leicht bessere Prädiktoren sind als für entschlossene Stimmbürger.[5] So konnte mithilfe der impliziten Einstellungen das Stimmverhalten von 78% der unentschlossenen Stimmbürger richtig vorhergesagt werden. Bei den entschlossenen Personen betrug der Anteil lediglich 73%. Eine mitunter auf den impliziten Einstellungen der unentschlossenen Stimmbürgern basierende Vorhersage ergab für die Ecopop-Initiative zudem einen Ja-Stimmenanteil von 33%.[6] Dieser Wert wich zwar 7 Prozentpunkte vom tatsächlichen Ergebnis ab, war aber dennoch präziser als die Umfragen- und Prognosewerte führender Umfrageinstitute.

Angesichts dieser Erkenntnisse wären weitere Forschungsbemühungen sicherlich wünschenswert. In erster Linie sollte untersucht werden, unter welchen Umständen implizite Einstellungen für die Gruppe der unentschlossenen Stimmbürger gute Prognoseinstrumente sind. Eidgenössische Abstimmungsvorlagen unterscheiden sich oft stark bezüglich ihrer Komplexität und der Vertrautheit der Stimmbürger mit der jeweiligen Thematik. Diese Faktoren können sich wiederum auf die Vorhersagevalidität impliziter Einstellungen auswirken. Aus diesem Grund sollten IATs bei möglichst vielen verschiedenen Abstimmungsvorlagen in Kombination mit expliziten Massen zum Einsatz kommen.

Von Livio Raccuia

 

Livio Raccuia ist Assistent und Doktorand am Lehrstuhl für Methoden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

Wie ein impliziter Assoziationstest in der Praxis aussieht (und er auch in der Ecopop-Studie verwendet wurde), sehen Sie hier.

 

[1] Foto: Ainsley Baldwin|Flickr

[2] Greenwald, A.G., McGhee, D.E. und Jordan L.K. Schwartz (1998). Measuring Individual Differences in Implicit Cognition: The Implicit Association Test. Journal of Personality and Social Psychology, 74(6), 1464-1480.

[3] Zum Beispiel: Galdi, S., Arcuri, L. und Bertram Gawronski (2008). Automatic Mental Associations Predict Future Choices of Undecided Decision-Makers. Science, 321, 1100-1102.

[4] Zum Beispiel: Galdi, S., Gawronski, B., Arcuri, L. und Malte Friese (2012). Selective exposure in decided and undecided individuals: Differential relations to automatic associations and conscious beliefs. Personality and Social Psychology Bulletin, 38, 559-569.

[5] Unentschlossene: n=82; Entschlossene: n=457.

[6] Der Kanton Tessin war in der Stichprobe nicht vertreten.