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Category: RTVG

Wie die FDP-Abweichler das RTVG «retteten»

Folgen die kantonalen Sektionen den nationalen Parolen und wenn nicht, spielt das eine Rolle? Am Beispiel des RTVG geht der Gastbeitrag von Dominik Braunschweiger der Frage nach, wie stark sich kantonale Abweichler auf die Parolenkonformität und damit auf das Abstimmungsresultat auswirken.

Ein zentrales Merkmal des politischen Systems der Schweiz ist der stark ausgeprägte Föderalismus. Dieser äussert sich unter anderem in der hohen Unabhängigkeit regionaler politischer Parteisektionen von ihrer nationalen Mutterpartei. So kommt es regelmässig vor, dass eine kantonale Parteisektion in einer Abstimmungsfrage vom nationalen Parteikonsens abweicht und ihren Sympathisanten eine andere Parole nahelegt. Üblicherweise geschieht dies zum Missfallen der nationalen Meinungsträger und Führungspersonen der betroffenen Partei. So bezeichnete etwa Altbundesrat Christoph Blocher die SVP Thurgau als «faules Nest».[1] Die SVP Thurgau hatte im Jahr 2008 alleine in neun Abstimmungen andere Parolen herausgegeben als die SVP Schweiz und war damit Spitzenreiter der Abweichler.

Es scheint, Blocher und Co. ärgern sich zu Recht: Während den letzten 35 Jahren wichen in insgesamt 2352 Fällen kantonale Parteisektionen von den Parolen ihrer Mutterparteien ab. Das sind insgesamt rund 67 Abweichler pro Jahr, oder mehr als acht pro Abstimmungsvorlage. Doch wie relevant sind diese Abweichler wirklich? Lässt sich das Stimmvolk tatsächlich von den Argumenten und Parolen kantonaler Parteisektionen überzeugen oder bildet ohnehin die nationale Partei die Referenz?

Abweichler senken die Parolendisziplin

Diese Studie geht der Frage nach, ob kantonale Abweichler einen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis haben und wie geschlossen sich die Sympathisanten und Unterstützer einer Partei in Abstimmungen an die nationalen Parolen halten. Die Ergebnisse zeigen, dass kantonale Abweichler durchaus eine wichtige Rolle spielen. Zentral ist dabei die Parole der Parteisektion des Heimatkantons. Das sind die Resultate:

  • Weicht die Parole des Heimkantons ab, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Unterstützer einer Partei konform zur Parole der nationalen Partei stimmen und dies um 25 bis 60%.
  • Doch auch wenn zu viele andere Kantone abweichen, sinkt die Unterstützung der Basis für die nationale Parteileitung: Jeder abweichende Kanton senkt die Wahrscheinlichkeit, dass Unterstützer einer Partei gemäss nationaler Parole stimmen um rund zehn Prozent.

Mit knapp 45 Prozent hielt sich deutlich weniger als die Hälfte der FDP Wählerschaft an die nationale Parole.

Das kann bisweilen durchaus einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf einer Abstimmung haben. So waren beispielsweise bei der Abstimmung zum RTVG letztes Jahr die Glarner, Solothurner, Walliser, Tessiner, Genfer, Waadtländer und Jurassier Freisinnigen nicht mit der NEIN-Parole der FDP Schweiz einverstanden. Diese Uneinigkeit spiegelte sich denn auch im Abstimmungsverhalten der FDP-Sympathisanten wieder. Mit knapp 45 Prozent hielt sich deutlich weniger als die Hälfte der FDP Wählerschaft an die Parole ihrer Partei. In den Kantonen, wo Kantonssektionen abwichen, sank dieser Anteil sogar noch weiter auf knapp einen Drittel. Zum Vergleich: Durchschnittlich hielten sich während den letzten 35 Jahren jeweils knapp 70 Prozent der FDP-Sympathisanten an die Parole der Mutterpartei. Wäre ihre Parolenkonformität bei der Asbtimmung zum RTVG ähnlich hoch ausgefallen, so hätte dies definitiv ausgereicht, um das Resultat zu kippen. Die Vorlage wäre abgelehnt worden.[2]

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Wer weicht wie stark ab?

Interessant ist auch der Blick auf die verschiedenen Parteien. Während eine hohe Anzahl Abweichler die fünf wählerstärksten Parteien (SVP, SP, FDP, CVP und GPS) alle etwa gleich stark trifft, zeigen sich deutliche Unterschiede bezüglich des Effekts der Abweichung des Heimatkantons. So sinkt etwa bei den Anhängern der Grünen die Wahrscheinlicht zum parolenkonformem Stimmverhalten um gut 60%, wenn der Heimatkanton abweicht. Dieser extreme Einfluss der grünen Kantonssektionen mag teilweise durch die Tessiner Grünen und ihre umstrittene Position zur Migrationspolitik zustande gekommen sein. Er zeugt jedoch auch deutlich vom aussergewöhnlich stark regionalen Ursprung und der Heterogenität der grünen Bewegung.

Auf der anderen Seite der Skala finden sich SVP und CVP, bei denen abweichende Heimatkantone die Wahrscheinlichkeit zum parolenkonformen Abstimmungsverhalten ihrer Anhänger nur um rund 25% senken. Die Sympathisanten von SVP und CVP orientieren sich also offenbar eher an der Position der nationalen Partei als an ihren Kantonssektionen. Die Faulen Nester mögen Blocher und Co. noch nicht komplett im Griff haben – dafür immerhin ihre Wählerschaft.

Dominik Braunschweiger

Dominik Braunschweiger hat einen Master in Politikwissenschaften der Universität Zürich.

[1] Lesen Sie hier mehr dazu.

[2] Natürlich hätten auch andere Faktoren das äusserst knappe Resultat (50.1% Ja-Stimmen, respektive 3649 mehr Ja als Nein-Stimmen) kippen können. Die gewählte Vorlage erfüllt vor allem illustrative Zwecke.

Twitter Top Ten zu #Erbschaftssteuer und #RTVG

Während die Erbschaftssteuer-Initiative mehr als deutlich abgelehnt wurde, nahm das Stimmvolk das neue Radio- und Fernsehgesetz äusserst knapp an. Über beide Vorlagen wurde im Voraus auch auf Twitter heftig debattiert. Wir haben dazu die wichtigsten Hashtags analysiert und die Top Ten der Twitter-Accounts, die dazu getweetet haben, ausgewertet.

Zur Erinnerung: Unter «#Hashtags» werden Stichwörter verstanden, die in Tweets verwendet werden um auf ein bestimmtes Thema zu verweisen. Solche Hashtags verbreiten sich umso stärker, je prominenter ein Thema auf Twitter diskutiert wird und erlauben eine Diskussion über die eigenen Follower hinaus. Bei der aktuellen Abstimmung über eine Erbschaftssteuer, heisst der prominenteste Hashtag dazu ganz simpel #Erbschaftsteuer. Zum neuen Radio- und Fernsehgesetz kristallisierten sich hingegen mehrere Hashtags heraus: Neben den neutralen #RTVG, #mediensteuer und #billag, wurde auch #nobillag von den Gegnern häufig genutzt. Zum Schluss standen uns für die Auswertung über 12’000 Tweets zur Verfügung.

Die Top Ten der Twitter-Accounts zum Hashtag «Erbschaftssteuer» im Zeitraum vom 13. April bis am 13. Juni 2015.
Die Top Ten der Twitter-Accounts zum Hashtag «Erbschaftssteuer» im Zeitraum vom 13. April bis am 13. Juni 2015.

Die Erbschaftssteuer-Initiative erlitt mit 71 Prozent eine klare Niederlage. Auch auf Twitter scheinen die Gegner die Überhand gehabt zu haben. Es zeigt sich, dass mit Abstand die meisten Tweets mit dem Hashtag #Erbschaftsteuer vom Account @KMUKILLER stammen. Hinter diesem Account steht der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der sich gegen die Initiative einsetzte. Der Verband setzte in seiner Kampagnenarbeit stark auf die sozialen Medien. Das dafür eigens eingesetzte Profil @KMUKILLER versendete mehr als doppelt so viele Tweets wie alle anderen Accounts in den Top Ten. Dabei nutzte Economiesuisse auch gesponserte Tweets, wie die NZZ im April berichtete.[2] Mit den Accounts @NeinzurBESteuer und @BaumeisterCH finden sich zwei weitere Verbände, die sich gegen die Initiative einsetzten, unter den Top Ten. Ersterer wird vom überparteilichen Komitee «Unternehmergruppe NEIN zur Bundeserbschaftssteuer» geführt, hinter letzterem steht der Schweizerische Baumeisterverband.

Economiesuisse verschickte mehr als doppelt so viele Tweets wie die anderen Top Ten Mitglieder.

Die Twitter-Accounts der Pro-Komittees, @liberalesteuer und @erbsteuerreform tauchen hingegen erst auf den Plätzen acht und zehn auf. Die Gebrüder Meili (@geb_meili), die sich als Erben prominent für die Erbschaftssteuer einsetzten, befinden sich als einzige Befürworter unter den Top Five. Zählt man die Tweets der beiden Accounts @geb_meili und @liberalesteuer – der ebenfalls von den Gebrüder Meili geführt wird – jedoch zusammen, würden sie an zweiter Stelle hinter dem @KMUKILLER liegen. Interessanterweise befinden sich neben den Ja- und Nein-Komittees auch mehrere unbekannte Einzelpersonen in den Top Ten, die sich wohl aus persönlichen und/oder politischen Gründen individuell dafür (@BernVilliger) oder dagegen (@JosefWiederkehr, @NussbaumRoy) engagierten. Die grossen Parteien glänzen dagegen mit Abwesenheit – auch die SP als Urheberhin der Initiative.

Top Ten Twitter-Accounts zum Thema RTVG
Die Top Ten der Twitter-Accounts zum Thema RTVG im Zeitraum vom 13. April bis am 13. Juni 2015.

Beim Radio- und Fernsehgesetz, das in einem regelrechten Krimi mit 50.1 Prozent angenommen wurde, zeigt sich auch auf Twitter ein ausgeglicheneres Bild. Kein Account sticht so klar hervor, wie das Profil von Economiesuisse bei der Erbschaftsteuer-Initiative. Die Befürworter haben sogar ein leichtes Übergewicht. Vier der ersten fünf Accounts mit den meisten Tweets zur Vorlage setzten sich für eine Annahme der Vorlage ein. Darunter befindet sich auch das überparteiliche Komitee «JA zum RTVG» (@rtvgja). Im Gegensatz dazu, äusserte sich der Gewerbeverband, der als Gegner des RTVG in den klassischen Medien eine hohe Resonanz fand [3], auf Twitter seltener zu dem Thema. Wiederum beteiligten sich neben Komitees, Verbänden und Akteuren aus der Medienbranchen auch unbekannte Einzelpersonen stark an der politischen Diskussion.

[1] Foto: Twitter TV. Flickr/Esther Vargas

[2] Den NZZ-Artikel zu politischen Kampagnen auf Twitter finden Sie hier.

[3] Den aktuellen Abstimmungsmonitor des fög finden Sie hier.

Das RTVG-Referendum war eine Grundsatzfrage

Bei der äusserst knappen Abstimmung über das neue Radio- und Fernsehgesetz zeigen sich klare Unterschiede zwischen den Sprachregionen. Ausserdem scheinen das Vertrauen in die Regierung und grundsätzliche ideologische Werte bei der Entscheidung eine Rolle gespielt zu haben. Insgesamt hat sich das RTVG wohl tatsächlich zu einer Grundsatzfrage entwickelt, in der es um mehr ging als bloss um ein neues Gebührensystem.

Das neue Radio- und Fernsehgesetz wurde in einer historisch knappen Wahl mit 50,1 Prozent angenommen. Die letzten Umfragen des gfs.bern sowie von 20 Minuten hatten den Gegnern noch einen kleinen Vorsprung ausgewiesen. Am Ende machten 3’696 Stimmen den Unterschied. Im Vorfeld der Abstimmung war die Vorlage heiss umstritten und erhielt von den vier eidgenössischen Vorlagen die grösste Aufmerksamkeit in den Medien – für ein Referendum eher ungewöhnlich. Die Debatte über ein neues Gebührensystem dehnte sich zudem in den Medien früh auf eine Grundsatzdiskussion über den Service Public und die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus. [1] Die Entscheidung der Stimmbürger für oder gegen die Vorlage basierte deshalb wohl weniger auf einer individuellen Nutzenmaximierung – die Mehrheit muss künftiger weniger Gebühren zahlen – sondern mehr auf einer grundsätzlichen Einstellung gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Wenn man die Schweizer Karte mit den Ja-Stimmenanteilen pro Bezirk anschaut, fällt auf den ersten Blick der «Röstigraben» auf: Während in der französischsprachigen Schweiz fast alle Bezirke das RTVG annahmen (ausser im Wallis), fand die Vorlage in der Deutschschweiz ausschliesslich in den grösseren Städten Zustimmung – abgesehen von den Kantonen Bern und Graubünden. Interessanterweise wurde das RTVG im Tessin ebenfalls mehrheitlich abgelehnt. Mit der Betroffenheit können diese Ergebnisse kaum erklärt werden. So ist die Fernsehnutzung in der italienischen Schweiz mit durchschnittlich 166 Minuten pro Tag deutlich höher als in der französischen Schweiz (141 Minuten pro Tag) und der Deutschschweiz (129 Minuten pro Tag). [2] Nicht nur das, auch der Marktanteil der SRG SSR ist mit 38 Prozent in der italienischen Schweiz am höchsten (französische Schweiz: 30%, Deutschschweiz: 31%). [3] Zudem profitieren die Tessiner am stärksten vom Verteilschlüssel der SRG SSR.

Ja-Stimmenanteile zur RTVG-Vorlage nach Sprache und Bezirken. Die Grösse der Kreise steht für die Einwohnerzahl. Die grössten Bezirke pro Sprachgruppe sind mit Namen angeschrieben.
Ja-Stimmenanteile zur RTVG-Vorlage nach Sprache und Bezirken. Die Grösse der Kreise steht für die Einwohnerzahl. Die grössten Bezirke pro Sprachgruppe sind mit Namen angeschrieben.

Da es sich bei der RTVG-Vorlage um ein Referendum handelt und die Abstimmung von den Gegnern zu einer Grundsatzfrage über den Service Public stilisiert wurde, stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang des Ja-Stimmenanteils mit dem Vertrauen in die Regierung gibt. Dazu haben wir einen Index gebildet, der abbildet, wie stark die Stimmbürger in einem Bezirk in vergangenen Abstimmungen den Vorschlägen des Bundesrates gefolgt sind. Dieser Index entspricht also gewissermassen der Regierungskonformität eines Bezirks. Die Vermutung wäre, dass Stimmbürger mit grösserem Vertrauen in die Regierung eher dem Ja-Vorschlag des Bundesrates folgen und auch dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen grösseres Vertrauen schenken. Der tatsächliche Zusammenhang zwischen den Ja-Stimmenanteilen und der Regierungskonformität wird in der Grafik unten dargestellt. Die Linien stellen die Regressionsgeraden für die jeweiligen Sprachgruppen dar. Es zeigt sich, dass es insgesamt tatsächlich einen positiven Zusammenhang gibt. Dieser fällt allerdings eher klein aus. Zudem gibt es wiederum Unterschiede zwischen den Sprachregionen. Während der Zusammenhang in der Deutschschweiz am deutlichsten ist, spielte die Regierungskonformität in der italienischen Schweiz wiederum keine Rolle. Wobei die Regierungskonformität in den italienischsprachigen Bezirken generell eher tief ist.

Zusammenhang zwischen den Ja-Stimmenanteilen und unserem Index für Regierungskonformität
Zusammenhang zwischen den Ja-Stimmenanteilen und unserem Index für Regierungsvertrauen

Die Vermutung, dass der Entscheid der Stimmbürger zum RTVG weniger auf dem eigentlichen Inhalt der Vorlage und mehr auf Grundwerten basiert, wird weiter unterstützt, wenn man analysiert mit was für anderen Sachfragen der Entscheid korreliert. So weist das heutige Stimmverhalten ein sehr ähnliches Muster auf mit so unterschiedlichen Vorlagen wie dem Bundesbeschluss über eine erleichterte Einbürgerung von jungen Ausländern, dem Bundesbeschluss über eine neue Bundesverfassung oder der Initiative «Ja zu Europa». Es ist doch eher erstaunlich, dass die Stimmbürger bei einer Abstimmung über eine Änderung im Gebührensystem einem so ähnlichen Entscheidungsmuster folgen wie bei Ausländer- oder Europafragen.

Korrelationen des Ja-Stimmenanteils zum RTVG mit dem BB Erleichterte Einbürgerung 2003, BB Neue Bundesverfassung und VI 'Ja zu Europa'
Korrelationen des Ja-Stimmenanteils zum RTVG mit anderen Vorlagen

Insgesamt scheint es den Gegnern gelungen zu sein, die Abstimmung über das RTVG als eine Grundsatzfrage darzustellen. Die Stimmbürger folgten dabei typischen Abstimmungsmustern wie in ganz anderen Sachfragen wie der Ausländerpolitik, in welchen häufig grundsätzliche Werte ausschlaggebend sind. Dies schlägt sich auch in den Unterschieden zwischen den Sprachregionen nieder. Zudem scheint das Vertrauen in die Regierung eine Rolle gespielt haben. Den Gegnern brachte dies allerdings nicht den erhofften Erfolg – es sei denn eine allfällige Nachzählung käme noch zu einem anderen Ergebnis.

[1] Den aktuellen Abstimmungsmonitor des fög finden Sie hier.

[2] Die Kennzahlen zur Fernsehnutzung nach Sprachregion finden Sie hier.

[3] Die Kennzahlen zur Fernsehnutzung nach Sendern finden Sie hier.

Wie der Zuger Stadttunnel beinahe die RTVG-Revision verhinderte

Das Zuger Jahrhundertprojekt mobilisierte im Kanton Zug sehr stark und bescherte uns ein Hitchcock-Finale wie man es selten zuvor in der Geschichte der Schweizer Abstimmungsdemokratie erlebt hatte.

Die RTVG-Revision wurde am Ende hauchdünn angenommen – unter dem Vorbehalt, dass dieses Ergebnis auch nach einer möglichen Stimmrechtsbeschwerde beim Bundesgericht Bestand hat. Es war auf jeden Fall das knappste Ergebnis seit langem. Bei einem solch knappen Ergebnis drängt sich die Frage, ob das Resultat bei einer anderen Mobilisierung anders ausgefallen wäre, fast schon naturgemäss auf.

Generell gilt festzuhalten, dass die Beteiligung in den meisten Kantonen leicht unterdurchschnittlich ausfiel. Dies überrascht ein wenig. Gerade der Abstimmungskampf zur RTVG-Revision wurde emotional geführt. Zum Fernsehen und dem Fernsehprogramm haben wohl die allermeisten eine Meinung und beinahe ebenso viele (es gibt ja auch die Schwarzseher) zahlen auch Billag-Gebühren. Praktisch alle waren demnach von der Vorlage betroffen und doch blieb mehr als die Hälfte der Urne fern. Hinzu kommt, dass insgesamt vier Sachfragen zur Abstimmung vorgelegt wurden. Dabei gilt: Je mehr Vorlagen, desto höher – ceteris paribus – die Stimmbeteiligung. Am 14. Juni war dies jedoch nicht der Fall.

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Differenz zwischen der durchschnittlichen kantonalen Beteiligung (2011-2014) und der Beteiligung vom 14. Juni 2015 und Ja-Stimmenanteil.

Haben sich die Kantone mit hohen Ja-Stimmenanteilen stärker beteiligt und somit zum hauchdünnen Ja beigetragen? Stimmt es, was der Direktor des Westschweizer Radio und Fernsehens (RTS), Gilles Marchand, sagte – «zum guten Glück gibt es die Westschweiz»[1] – und hat die Romandie den Abstimmungskrimi dank einer überdurchschnittlichen Beteiligung entschieden? Die Antwort (zur zweiten Frage) lautet: Nein, die lateinischen Kantone beteiligten sich in der Tendenz schwächer als die Deutschschweizer Kantone, wobei hier die durchschnittliche Beteiligung zwischen 2011 und 2014 als Massstab diente. Wie gesagt, war die Stimmbeteiligung fast überall unterdurchschnittlich – mit einer auffallenden Ausnahme: Der Kanton Zug.

Die überdurchschnittliche Beteiligung im Kanton Zug

Hier geschah etwas eher Seltenes. Eine kantonale Vorlage mobilisierte stärker als die eidgenössischen Vorlagen. Bei dieser Vorlage handelte es sich um das Zuger Jahrhundertprojekt eines Stadttunnels.[2] Mehr als 60 Prozent der Zuger StimmbürgerInnen strömten an die Urnen und sie taten dies, wie gesagt, primär wegen dem Stadttunnel (der im Übrigen etwas überraschend abgelehnt wurde). Das aber führte beinahe zur nationalen Ablehnung des RTVG. Denn der Kanton Zug verwarf die Gesetzesrevision ziemlich deutlich und war bei der Abstimmung vom 14. Juni, wie gesagt, der Musterknabe was die Beteiligung betraf.

Zugegeben, der obige Titel ist etwas gar drastisch formuliert, denn auch ohne das Zuger «Tunnelphänomen» wäre es sehr knapp geworden. Aber die knapp 9 Prozent höhere Beteiligung in Zug kostete das Lager der Befürworter immerhin rund 700 Stimmen. Das ist zugegebenermassen wenig. Aber hinzu kommt, dass die Befürworterkantone, etwa Neuenburg und Genf, sich vergleichsweise schwach beteiligten.

Deshalb lautet das Fazit: Eine «normale» Beteiligung hätte uns zwar keinen Abstimmungskrimi, aber doch einen Hitchcock-Thriller mit Herzschlagfinale erspart.

[1] Das Zitat entstammt der NZZ, Sie finden dies hier.

[2] Hier geht es zum Stadttunnel-Projekt.

Prognosen für die Abstimmungen vom 14. Juni

Nachdem die letzten Umfrageresultate für den kommenden Abstimmungssonntag bekannt sind, kann es nur noch Prognosen geben. Die Köpfe hinter den 20 Minuten-Umfragen bringen einen Werkstattbericht als Gastbeitrag und lassen erahnen, wohin die Reise führen könnte.

Landläufig werden in der Schweiz Umfrageresultate als Momentaufnahmen beschrieben. Das ist korrekt. Aber selbstverständlich werden Umfragen von interessierten Kreisen als Prognosen verstanden. Es gibt gute Gründe, warum sich Demoskopen nicht die Hände verbrennen wollen mit Prognosen. Abweichungen von Momentaufnahmen lassen sich irgendwie erklären. Das geht natürlich nicht bei Prognosen. Nach mehr als einjähriger Erfahrung mit Abstimmungsanalysen präsentieren wir hier einen Versuch.

Unsere Vorhersagen für die Vorlagen vom 14. Juni basieren auf drei Umfragewellen, die wir gemeinsam mit 20 Minuten erheben und auswerten. Gemäss unserem Modell werden die beiden Initiativen abgelehnt, wobei wir bei der Erbschaftsteuer ein sehr deutliches Resultat erwarten. Die Verfassungsänderung zur Präimplantationsdiagnostik sollte ein komfortables Volksmehr erreichen und höchstwahrscheinlich auch das Ständemehr. Beim RTVG zeichnet sich ein Nein ab.

Das Prognosemodell stützt sich auf die Resultate aller drei Umfragewellen ab und nimmt auch die Erwartung der Befragten über den Abstimmungsausgang auf. Wir fragen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen jeweils, ob sie erwarten, dass eine Vorlage angenommen wird. Zusammen mit dem abstimmungsspezifischen Verlauf berechnet das Modell eine Vorhersage. Das Modell verfehlte das tatsächliche Resultat bei den letzten elf Vorlagen um durchschnittlich 2.6%.

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Dennoch sind unsere Vorhersagen mit Vorsicht zu geniessen. Zum einen basiert unser Modell auf einem kleinen Datensatz mit nur elf Abstimmungen, was zur Folge haben kann, dass der Prognosefehler mit aller Wahrscheinlichkeit grösser als 2.6% ist.[2] Zum anderen würden wir aufgrund unseres Modelles bei den vergangenen elf Abstimmungen ein oder vielleicht zwei Resultate ausserhalb des 95%-Vorhersagebereichs erwarten – es kam aber drei Mal vor.[3] Insofern berücksichtigt unser Modell nicht die gesamte Unsicherheit und unser Vorhersagebereich variiert stark zwischen den Abstimmungen. Es liegt also noch viel Arbeit vor uns. In diesem Sinne ist dieser Beitrag als Werkstattbericht zu verstehen. Wir warten nun die tatsächlichen Resultate vom 14. Juni 2015 ab, dann wissen wir mehr.

Von Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen.

 

[1] Foto: Weather Forecasting Stone von Danilla.

[2] Der durschnittliche Prognosefehler gibt an, um wieviel die Prognose im Durchschnitt vom tatsächlichen Resultat abweist. Wenn die beiden Gastautoren davon ausgehen, dass der Prognosefehler aller Wahrscheinlichkeit grösser ist als ausgewiesen, spricht man von einem «überangepassten» Modell, mehr dazu finden Sie hier.

[3] Es handelt sich dabei um diese drei Vorlagen: MGV, Ecopop, Energie- statt Mehrwertssteuer.